Schweitzer Fachinformationen
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Henri
»Monsieur Chevallier, Ihre Schwester ist am Telefon«, ertönt die Stimme meiner Sekretärin aus dem Kopfhörer meines Headsets.
»Stellen Sie sie bitte durch, Vanessa«, erwidere ich und lehne mich in meinem schweren Sessel zurück. Ein wohliges Seufzen entfährt mir, als ich die Massagefunktion betätige und darauf warte, Ellas Stimme zu hören. Vom langen Sitzen sind meine Muskeln völlig verhärtet. Ich werde nachher auf alle Fälle joggen gehen - komme, was wolle. Seit drei Tagen war ich nicht mehr laufen. Normalerweise ist es fester Bestandteil meines Tagesprogramms, doch mein Projekt steckt in einer schwierigen Phase. Ein Problem jagt das nächste, und ich bin dabei, mir unentwegt den Kopf zu zerbrechen. Gerade als meine Gedanken wieder zu rotieren beginnen, höre ich ein mir so vertrautes: »Bruderherz!«
Ella hat gute Laune. Sie kann ihre Emotionen nicht verbergen - könnte es vermutlich nicht einmal, wenn ihr Leben davon abhinge. Das ist gut und schlecht zugleich. In unserer Welt, in der die makellose Fassade alles ist, in der sich die Meute wie ein Rudel Hyänen auf einen stürzt, sobald diese zerbricht, ist Ella eine erfrischende Abwechslung - allerdings macht ihre Offenheit sie auch angreifbar. Obwohl man sie in der Vergangenheit mehr als einmal schwer enttäuscht, sie belogen und ausgenutzt hat, geht Ella mit einem offenen Herzen durch die Welt. Ich wünschte, ich könnte das Gleiche über mich sagen.
»Gut angekommen, Bibou?«, frage ich, um das Gefühl, das sich in mir regt, im Keim zu ersticken. Auf keinen Fall werde ich in Selbstmitleid versinken. Das ist armselig! Und wir Chevalliers sind niemals armselig.
»Oh bitte, nenn mich nicht immer so, Henri! Ich hasse das! Ich bin keine acht mehr.«
Ich lache über ihre leidenschaftliche Empörung.
»Du bist ein Idiot!«, mault sie - zu Recht, denn ich weiß genau, dass sie es nicht leiden kann, wenn ich diesen Kosenamen verwende. »Aber ja, ich bin gut angekommen.«
»Ich kann nicht glauben, dass du das durchziehst.«
»Oh bitte!«, schnaubt sie, und ich weiß, dass sie mit den Augen rollt. Hinfort ist ihre gute Laune. »Was hätte ich sonst tun sollen?«
»Du bist immer noch sauer«, stelle ich fest und wünsche, unser Vater hätte Ella nicht verärgert. Hätte es diesen Streit nicht gegeben, wäre Ella nun nicht in Plymouth, sondern immer noch in Paris. Ich mache mir Sorgen, weil die Fronten so verhärtet sind. Beide sind so dickköpfig. Keiner von ihnen wird nachgeben. Auch wenn ich gerade behauptet habe, ich könne nicht glauben, dass Ella wirklich nach Plymouth gegangen ist, so sieht es ihr doch verdammt ähnlich. »Falls es dich freut: Er schäumt vor Wut.« Dass er ihre Idee für dumm und kindisch hält, verschweige ich wohlweislich.
»Ist mir egal«, murmelt sie. »Ich bin nicht gegangen, um ihn zu ärgern, Henri.«
»Sondern?«
»Weil mir einfach alles über den Kopf gewachsen ist und ich das Gefühl hatte zu ersticken. Ich musste einfach weg. Ich wäre sonst verrückt geworden!« Sie klingt verzweifelt, aber auch so, als würde sie hoffen, dass ich sie verstehe. Das ist ein Problem, denn ich tue es nicht. Doch ich will nicht streiten - es wäre ohnehin sinnlos. Das Kind ist schon in den Brunnen gefallen, wenn man so will. Dort ist es nun. Punkt.
»Wie gefällt es dir denn bisher?«
»Du fragst Sachen! Ich bin doch noch keine zwei Stunden hier! Überraschend warm ist es. Und sonnig.« Ella hört sich beinahe empört an, was mich schmunzeln lässt. Ja, wie kann das britische Wetter sich bloß von seiner besten Seite zeigen, statt mit klischeehaftem Nieselregen und Nebel aufzuwarten? Echt unverschämt! »Und dummerweise bin ich mit so viel Zeug hier angereist, dass es nicht in mein Zimmer passt. Ich werde es irgendwo einlagern müssen.«
Während ich ihr zuhöre, erhebe ich mich schwungvoll aus dem Sessel und trete an die Fensterfront, um meinen Blick über die Seine schweifen zu lassen. Der Anblick von Wasser hatte schon immer eine beruhigende Wirkung auf mich, weshalb ich die exklusive Lage des French-Chic-Hauptquartiers sehr zu schätzen weiß.
»Das Haus ist klein, aber sauber. Besser als erwartet, wenn ich ehrlich bin, und meine Mitbewohnerinnen scheinen nett zu sein.«
»Mitbewohnerinnen? Da wird Étienne beruhigt sein.«
»Er sorgt sich grundlos. Dass ich hier bin, hat nichts mit Papa zu tun und auch nicht mit Étienne.« Das sollte sie lieber ihm sagen und nicht mir. Ich glaube, er nimmt es nicht so easy, dass sie spontan beschlossen hat, ein Jahr im Ausland zu studieren. »Das hier wird mir guttun.« Ich weiß nicht, ob sie versucht, sich selbst zu beruhigen, oder ob die Worte mir gelten, doch ich erinnere mich daran, was sie vor drei Tagen beim Kofferpacken gesagt hat: »Ich habe es so satt, Emmanuelle Chevallier zu sein!«, rief sie trotzig aus. Auch jetzt kann ich bloß den Kopf darüber schütteln.
»Ein Selbstfindungstrip?«
»Habe ich dir heute schon gesagt, dass du ein Idiot bist, Henri?« Ella klingt angefressen.
»Ich? Ich wiederhole mich nicht gerne, aber weil du meine Lieblingsschwester bist, mache ich eine Ausnahme, Bibou: Du kannst nicht davor davonlaufen, wer du bist. Wir sind, wer wir sind! Du denkst, du kannst dich im tiefsten Cornwall verstecken? Vergiss es! Man wird dich erkennen«, prophezeie ich ihr. »Du bist nun einmal Emmanuelle Chevallier! Stilikone, It-Girl, Trendsetterin .«
»Witzig, dass du nur die schmeichelhaften Bezeichnungen der dämlichen Klatschblätter zitierst!«, braust sie auf. »Schon vergessen? Partygöre, Möchtegernsternchen und, nicht zu vergessen, die geheime Liebschaft von Félix Lacroix .«
»Niemand, der bei Verstand ist, hat diese Geschichte geglaubt, Ella«, wende ich ein. Kaum habe ich die Worte ausgesprochen, bereue ich sie schon, denn es kommt, was kommen muss.
»Papa schon!« Ich kann ihrer Stimme anhören, wie unglaublich gekränkt sie immer noch ist.
»Das hat er gar nicht gesagt. Er .«
»Auf welcher Seite stehst du eigentlich, Henri?«
»Auf keiner, Ella. Das Ganze ist so absurd und lächerlich, dass es eigentlich keine Worte verdient.«
»Ach ja?«, faucht sie aufgebracht. »Zu dir hat er ja auch nicht gesagt, dass du dich endlich zusammenreißen und erwachsen werden sollst. Wie war das? Ich bin deine Eskapaden so leid, Emmanuelle!« Die Imitation unseres Vaters gelingt Ella hervorragend.
»Das hat er so nicht gemeint«, lenke ich seufzend ein.
»Klar!«, wirft Ella spöttisch ein. »Diese dämlichen Medien degradieren mich zu einem Flittchen, das einer Hochschwangeren den Mann ausspannt, und er tut so, als wäre das meine Schuld.« Ich höre sie am anderen Ende der Leitung schwer schlucken. »Ganz Frankreich hasst mich wegen dieses blöden Artikels.«
Es stimmt. Ella steht seit Wochen am Pranger. Stein des Anstoßes ist nicht der vermeintliche Seitensprung an sich, sondern die beliebte schwangere Ehefrau. »Papa weiß, dass du so etwas nie machen würdest. Er war bloß aufgebracht, weil er sich um deinen Ruf sorgt, das ist alles. Du .«
»Du meinst um seinen Ruf und den von French Chic«, ätzt sie ungerechtfertigterweise.
Ich gebe es auf, den Vermittler zu spielen, und finde mich vorerst damit ab, zwischen zwei Stühlen zu sitzen. »Was auch immer!«, murmle ich niedergeschlagen. »Aber wie gesagt, glaub nicht, dass du dich in Cornwall verstecken kannst.«
»Devon! Plymouth liegt in Devon«, korrigiert Ella mich, und nun bin ich es, der die Augen verdreht.
»Von mir aus!«
»Aber ich fürchte, du hast recht, Bruderherz«, räumt sie ein. »Weißt du, mit wem ich mir die Wohnung teile?« Ella holt tief Luft. »Mit einer aus Paris, die auch Modedesign studiert.« Sie fängt beinahe hysterisch an zu lachen. Sie braucht eine halbe Ewigkeit, um sich zu beruhigen.
»Tja, dann hat sich die Sache mit dem Inkognitosein ja rasch erledigt.« Beinahe tut Ella mir leid. Die letzten Wochen waren extrem, und dass Étienne, dieser Esel, keine Stellung bezogen hat, macht Ella mehr zu schaffen, als sie zugeben will. Ich wünschte, er hätte sie vor unserem Vater verteidigt. Schließlich kann sie wirklich nichts für diesen an den Haaren herbeigezogenen Skandal. Doch Ella wäre nicht meine Schwester, wenn sie sich von einem kleinen Rückschlag entmutigen lassen würde.
»Was das angeht, ist das letzte Wort noch nicht gesprochen. Vielleicht kann ich sie ja dazu bringen, es für sich zu behalten.« Ich höre, wie es bei Ella klopft. »Moment, Henri . Ja?«
»Hi, ich wollte nicht stören, wenn es gerade schlecht ist .«, höre ich eine Frauenstimme sagen.
»Nein, nein, alles gut, Oxana, ich wollte ohnehin mit dir reden. Einen kleinen Augenblick, okay?«
»Natürlich.«
»Henri?«
»Ja?«
»Ich muss Schluss machen. Ich melde mich morgen noch mal in Ruhe.«
»Okay«, sage ich.
»Ich hab dich lieb.« Ehe ich etwas erwidern kann, hat sie bereits aufgelegt.
Eine halbe Stunde später, als ich gerade kontrolliere, ob die Kaution von Ellas Pariser Wohnung bereits zurückgebucht wurde, tätigt sie eine Überweisung - zweitausendfünfhundert Euro fließen auf das Konto einer gewissen Oxana Petrowa, und wieder einmal zeigt sich: Jeder hat seinen Preis, und mit genug Geld ist alles machbar.
Der Rest des Tages zieht sich wie Kaugummi. Wenn ich nicht gerade versuche, die aktuelle Krise zu lösen, probiere ich, Michel zu erreichen. Seit knapp vierzehn Tagen reagiert er nicht auf meine Anrufe . langsam mache ich mir ernsthaft Sorgen.
»Michel, mon ami, wo steckst du? Wenn du das hörst, dann ruf mich an. Es ist dringend!«
Mit einem unguten Gefühl im Magen lege ich auf. Einen Moment lang nimmt...
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