»Unterschätzen Sie nur die Schwierigkeiten der Sache auch nicht allzusehr!« bemerkte er nach einer Pause mit zögerndem Warnen. »Es ist noch nicht sicher, ob Sie so brutalen Anforderungen an Ihre Spannkraft gewachsen sind.«
Marianne hob den Kopf und sah ihm mit zversichtlichem Vertrauen ins Gesicht. Ihre Hand lag auf Citas Haar.
»Daß ich ihnen nicht gewachsen bin, weiß ich wohl!« sagte sie ruhig. »Aber Sie werden mir helfen, über mein bißchen Können hinauszugelangen. -- Wollen Sie mir nicht dazu helfen-?«
»Ich will es gewiß, wenn Sie nicht bei näherm Zusehen selbst davor zurückschrecken!«
In Mariannens Augen trat ein Ausdruck wie qualvolle Erinnerung an die überstandenen Seelenkämpfe.
Sie murmelte: »Ich schreckte vor allem zurück, - vor jeder Minute, weil sie durchlebt sein wollte, - und war nicht auch das eine brutale Anforderung: - leben zu sollen-? Ich weiß, daß es mich noch manchmal überkommen wird, - daß ich dann nicht will, nicht kann, - ich werde mich gewiß noch oft vor dem Leben fürchten-.« Sie brach ab, ein Schauer ging über sie hin. Dann setzte sie jedoch langsam hinzu: »Deshalb muß jemand mir helfen, der meine Furcht und meinen Widerstand bricht, um der beiden Kleinen willen.«
- In diesem Augenblick begriff er, wie nah er ihr in der schweren Zeit getreten war als der Unbeteiligte, Unbeeinflußte, der sich ihr ärztlich und menschlich mit strenger Sachlichkeit gewidmet hatte. Er begriff, wie viel sie seiner Hilfe zuschrieb, was zu einem großen Teil die Hilfe ihrer eignen Natur gewesen war.
Ihr sollte er helfen, fortan dem Leben gewachsen zu sein, - dabei aber lebte er noch sein eignes Leben in unschlüssigem Zwiespalt-.
Und dennoch: er fing an, daran zu glauben, daß es ihm ihr gegenüber gelingen werde. Ein so starker Appell an seine eingreifende, planvolle Kraft ging von diesen ruhig vertrauenden Augen aus, - eine so starke Freude an der ihm auferlegten Verantwortung weckten sie in ihm, als spannten sich alle Fähigkeiten seiner Seele auf ein Ziel hin.
Und seltsam: gleichzeitig empfand er es noch nie so bitter wie in der Stunde, nicht selber zwiespaltlos und einheitlich, mit voller Thatkraft, im Boden seiner Heimat zu wurzeln. Hätte er nicht schon als Jüngling, - in jugendlicher Begeisterung zu allem bereit, - immer nur an die harte, hohe Mauer der bestehenden Zustände stoßen müssen; hätte er nicht erst im Auslande draußen seine volle Entwicklung finden müssen; hätte er, vom Heimweh zurückgezerrt, nicht davon absehen müssen, in seiner Heimat grade diejenigen Einsichten und Fortschritte zur Wirksamkeit zu bringen, deren sie ganz augenscheinlich am dringendsten bedurfte, -- wie ganz anders würde sich dann für ihn als Mann, als Mensch, sein Leben zusammengefaßt haben! Wie oft würde es einen ähnlich starken, - und stärkern Appell an seine Leistungskraft enthalten haben!
Aber davon sprach er nie zu jemand; in der Fremde sprach er von der Heimat nur leise, und dann zärtlich, wie von einem leidenden Kinde, das auch nur anzurühren man Fremden schon verwehrt; und daheim konnte er von seinen Jahren im Auslande nicht mit dem Accent reden, den sie für ihn besaßen, weil hier alle seine Worte unwillkürlich so ausfielen, als sei ihm bloß egoistisches Genußleben gewesen, was ihm dort mindestens ebensosehr als eifriges und ernstliches Arbeitsdasein vorgekommen war.
Er schwieg deshalb, mißtraute den Menschen, und sie vertrauten ihm nicht mehr recht.
-- Während er im alten, dichten Park auf der Steinbank unter den Birken saß, schaute er, in solche Gedanken versunken, auf Marianne hin.
Sie blickte gradeaus über die Wiesengründe in die Ferne, den Kopf ein wenig vorgeneigt, die Hände leicht im Schoß gefaltet. Der lose aufgesteckte Haarknoten ließ die sanfte Wölbung der Nackenlinie wundervoll frei.
Kein einziger Zug bewußter Selbständigkeit in der gesammelten Haltung, und doch etwas wie Getrostes-
Es erfüllte ihn mit Erstaunen!
Was ihm auch geschähe: zu allerletzt würde er doch im stande sein, zu einem zweiten Menschen so vertrauensvoll aufzublicken, daß er dessen seelischer Hilfe sich gläubig anheimgab!
Und bei ihr war das im Wiedererwachen zum Leben das erste, - das Unwillkürliche-.
Das allererste, was sie wiederfand, war eine ruhige, vertrauende Gebärde.---
II.
Inhaltsverzeichnis Draußen herrschte das lustigste Schneetreiben von der Welt.
Den Kutschern und vielleicht auch ihren Gäulen lachte das Herz im Leibe drüber, wie leicht heute die Schlitten über den weißblendenden Boden dahinflogen, der seit etlichen Tagen einer erneuten Schneelage entbehrt hatte, sodaß hier und da bereits das holperige Steinpflaster der unebenen Moskauer Straßen durch den zerstampften und vergrauten Schnee durchzuscheinen begann.
Auch Marianne freute sich, schnell vom Fleck zu kommen. Seit dem frühen Morgen war sie schon so viel herumgetrieben worden, in verschiedene Privatstunden und eine Schule.
Noch ein paar Tage lang! Dann gab es Ferien. Schlossen auch die Anstalten erst kurz vor Weihnachtsabend, so hörte doch der Unterricht in den Häusern meistens schon früher auf.
Marianne kam von weit außerhalb gefahren, wo sich an den Grenzen der Stadt ein großes Mädchenstift befand, nicht allzufern von dem berühmten Jungfernkloster, dessen phantastische Türme herüberwinkten. Auf dem Rückwege von dort ließ sie ihren Schlitten in einer unbelebten, fast ländlichen Vorstadtgegend vor einem einstöckigen, rot angestrichenen Holzhause halten.
Sie stieg aus, bezahlte und ging über den weiten, hellen Hof, den ein einfacher Lattenzaun umschloß, auf eine Wohnung im Erdgeschoß eines Hauses zu, an der sie mit beinah ungeduldiger Freude läutete.
Dies Erdgeschoß war himbeerfarben. Mit rührendem Vertrauen in die Schönheit des Farbigen überhaupt, war hier ein bunter Ton neben den andern gesetzt. Aber das gedämpfte Winterlicht ward zum Künstler an all dem Grellen: es stufte es wunderseltsam ab, bis es aussah, als stünden die bunten Farben da, wie Blumen in einem Strauß.
Hier pflegte Marianne jeden Sonnabend vorzusprechen, wenn sie der Weg vom Stift vorüberführte, mochte die Zeit auch noch so knapp sein. Denn jedesmal bedeutete das für sie inmitten der Arbeitswoche eine sonntägliche Stunde.
Eine ihrer ehemaligen Lieblingsschülerinnen, seit Jahresfrist verheiratet, wohnte hier; eine, die ihr innig zugethan blieb, auch nachdem sie, längst der Schule entwachsen, mit Energie und verblüffender Leichtigkeit Mathematik studiert und es darin zu etwas gebracht hatte.
Die junge Frau öffnete selbst die Thür und bewillkommnete ihren Besuch mit drei schallenden Küssen, einen auf den Mund und je einen auf Mariannens schneenasse Wangen. Dann nahm sie ihr den weiß überschneiten Pelz von den Schultern und schüttelte ihn aus, wobei sie aber sorglich jedes Geräusch vermied.
»Dadrinnen steckt Taraß tief bis über die Ohren in einer Arbeit über das Vogelgetier,« flüsterte sie in ihrem weichen Russisch, das an sich schon zärtlich klang, und wies auf das Hauptzimmer der kleinen Wohnung.
Erst jetzt bemerkte Marianne die breite buntgestreifte Küchenschürze an ihr, und daß sie die Aermel hochgezogen hatte. Eine Messerbank, nach der sie griff, mußte sie eben erst hastig aus der Hand gestellt haben.
Im Hintergrunde des engen dämmerigen Vorflurs stand die Thür zur Küche noch offen; man sah die Holzscheite im Herdfeuer rot glimmen.
»Ja, unser Mädchen ist nämlich schon wieder krank. Sie ist wirklich ewig krank, diese Aermste,« sagte die junge Frau und zog Marianne in die Wohnstube.
Die Wohnstube war ziemlich groß, niedrig und so dicht über dem Hof, daß der gegenüberliegende Schneehaufen sie schon verfinstern konnte. Auf dem Hof flogen weiße und graue wohlgemästete Tauben umher, flatterten auf den Fenstersims und schlugen mit ihren Flügeln an die Scheiben, an denen drinnen blühende Azaleen standen.
Ein Teil des Zimmers wurde durch zwei mitten hineingebaute mannshohe Scheinwände isoliert, hier befand sich der Schlafraum. Die zurückgeschobene Portière ließ das Ehebett unter einem Baldachin von geblümtem Stoff sehen, sowie die Ecke mit den Heiligenbildern. Ein paar davon besaßen schwere Silberverkleidung; unter ihnen hingen gestickte Handtücher und lagen auf einem Wandbort geweihte Brötchen.
Im Wohnraum am Fenster stand breit und bequem ein Tisch, worauf sich in friedlichem Nebeneinander Schreibereien und Hausarbeiten, nicht grade zierlich geordnet, befanden. Auf einem Seitentisch zeigte der nie fehlende blitzende Samowar, daß hier auch gespeist wurde.
Marianne hatte es sich wunderschön behaglich gemacht in einem Großvaterstuhl, der dicht bei einem wärmeausstrahlenden Kachelofen von anerkennenswerten Dimensionen stand. Neben dem Ofen hing am Bande eine altertümliche kleinrussische Guitarre, eine Gusli. Fröstelnd vergrub Marianne ihre durchkälteten Füße im Bärenfell, das sich vor dem Stuhl ausbreitete.
»Das ist unser Diwan, dort sitzen wir immer beide drin,« sagte die junge Frau.
»Ist es jetzt nicht sehr schlimm für euch mit dem kranken Mädchen, Tamara?« fragte Marianne bedauernd. »Da werdet ihr kündigen müssen. Wie treibt ihr es nur überhaupt-? Du alle Morgen in deinem statistischen Bureau, dein Mann über seiner ornithologischen Gelehrsamkeit? Was fangt ihr denn jetzt an?«
Tamara lachte leise auf, ihr ganzes freundliches Gesicht lachte mit.
»Wir treibens, wie es eben geht; - es wird ja auch wieder besser. Alles wechselt unter dem Mond. Kündigen wollen wir nicht; darauf vertraut die Arme so fest.«
»Russische Sorglosigkeit!«...