Eins
Eine hohe Stimme durchbrach schneidend die Stille im Raum: »Prudence Edith Gifford!«
Hastig klappte Prudence das Buch in ihrer Hand zu und schob es unter das Kissen auf ihrem Schoß. Mit den Jahren hatte sie gelernt, die Stimmung ihrer Mutter am Klang ihrer Röcke abzulesen. Ein langsames, luftiges Schwingen bedeutete, sie hatte nichts zu befürchten, doch ein hektisches Rascheln, wie Prudence es jetzt vernahm, verhieß nichts Gutes.
Verflixt.
Besagte Röcke waren heute aus orangefarbenem Taft, den Ausschnitt des Mieders zierte eine gelbe Spitzenborte. In Verbindung mit dem geröteten Gesicht und den goldblonden Locken, die sich darüber auftürmten, stellte Prudence eine frappierende Ähnlichkeit ihrer Mutter mit der großen Dahlie fest, die gleich vor dem Fenster des Studierzimmers wuchs. Vater war für eine Woche außer Haus, deshalb hatte Prudence diesen Ort als den sichersten eingeschätzt, um unentdeckt lesen zu können.
Sie hatte sich getäuscht.
»Guten Morgen!« Ihr gelang ein ausgesucht fröhliches Lächeln.
Die Augenbrauen ihrer Mutter jedoch zogen sich zu einem missbilligenden V zusammen. Wortlos schnappte sie sich das Kissen vom Schoß ihrer Tochter und enthüllte damit das Buch, das Prudence erst gestern ergattert hatte. Vorwurfsvoll schienen sich die Lettern des Titels - Die Waldromanze - vom Umschlag abzuheben, wie um zu verkünden: Ganz recht, das ist der Unsinn, mit dem Ihre Tochter sich den Kopf vernebelt.
Mit finsterer Miene starrte Prudence auf das Buch hinunter, bis es ihr ebenfalls entrissen wurde.
»Du solltest lieber an deinem Klavierspiel arbeiten, statt deinen Verstand mit diesem . diesem Schund zu besudeln.«
Beinahe hätte Prudence protestiert: »Das ist kein Schund«, klappte jedoch gerade noch rechtzeitig den Mund wieder zu. Der missbilligende Gesichtsausdruck ihrer Mutter würde wahrhaft erbost werden, sollte Prudence es wagen, ein solches Werk zu verteidigen. Es war weder die erste Unterhaltung dieser Art zwischen ihnen, noch würde es die letzte sein. Es war wirklich ein schweres Los, die fantasiebegabte Tochter der unnachgiebigsten Anstandsfanatikerin aller Zeiten zu sein.
»Hast du nichts zu deiner Verteidigung vorzubringen?«, schrillte die Stimme ihrer Mutter erneut in ihren Ohren. Dabei schüttelte sie das Buch, als sei es das Beweismittel, das ihre Tochter einer verabscheuungswürdigen Untat überführte.
Wehmütig spähte Prudence zu dem Buch empor und wusste, es würde das letzte Mal sein, dass sie dieses spezielle Exemplar zu Gesicht bekäme. Ihre Mutter hatte schon vor Jahren gelernt, dass sie solche Werke nicht einfach in die Bibliothek zurückbringen konnte, da sie sonst unweigerlich erneut den Weg in die Hände ihrer Tochter finden würden. Stattdessen würde sie es ins Feuer werfen und Prudence den Schaden von ihrem dahinschwindenden Nadelgeld erstatten lassen. Es würde - zum wiederholten Male - ein dringendes Ersuchen an die Bibliothekarin gestellt werden, auch nicht einen weiteren Roman an Miss Prudence Gifford zu verleihen.
Was ihre Mutter jedoch nicht wusste, war, dass Mrs Clampton dieses Buch gar nicht an Prudence verliehen hatte. Vielmehr hatte sie es an Prudence' beste Freundin Miss Abigail Nash herausgegeben, die es wiederum weitergereicht hatte. Unglücklicherweise würde ihre Mutter mit großer Wahrscheinlichkeit von Abbys Mittäterschaft erfahren, und damit würde diesem Arrangement ebenfalls ein Ende bereitet werden. Wenn Mrs Gifford eines war, dann gründlich.
Stirnrunzelnd blies Prudence den Atem aus. Nach diesem Malheur würde sie eine andere Verbündete finden müssen, doch wen? Ihre Schwester Sophia hatte im vergangenen Sommer versucht, ein Buch für sie auszuleihen, war jedoch erwischt worden und hatte versprochen, es nie wieder zu tun. Vielleicht einen der Calloway-Zwillinge? Würde sie es wagen, mit einer solchen Bitte an die beiden jungen Männer heranzutreten?
Gute Güte. Seit ihre Mutter in Prudence' Leben das Regiment übernommen hatte, war alles um ein Vielfaches komplizierter. Wie sehr ihr ihre Gouvernante fehlte! Die Frau war eine wundervolle Lehrerin gewesen, doch das war nicht alles. Wann immer die Sonne untergegangen war und dunkle Schatten, unvertraute Geräusche und eine überbordende Fantasie die junge Prudence um ihren Seelenfrieden zu bringen gedachten, hatte Miss Simpson sich zu ihr gesetzt und sie mit einer Geschichte nach der anderen abgelenkt - heiteren Geschichten, Abenteuergeschichten, romantischen Geschichten - Geschichten, die Prudence geholfen hatten, ihre Sorgen zu vergessen und in den Schlaf zu sinken.
Als sie älter geworden war, hatten zwar ihre Ängste nachgelassen, doch ihr Hunger nach guten Geschichten war geblieben. Als man Miss Simpsons Dienste nicht länger benötigt und sie die Familie verlassen hatte, war Prudence nicht nur eine gute Freundin, sondern auch eine meisterhafte Geschichtenerzählerin verloren gegangen.
Um ihren Kummer zu lindern, hatte sie begonnen, Bücher aus der Bibliothek auszuleihen und ihre eigenen Geschichten zu schreiben. Bald war es zu einer regelrechten Besessenheit geworden.
»Bitte verbrenne es nicht, Mutter«, flehte sie. »Das ist Mrs Clamptons einziges Exemplar, und es wäre ein schwerer Schlag für sie, von seinem Dahinscheiden erfahren zu müssen.«
»Ein schwerer Schlag für sie?«
Zu spät erkannte Prudence, dass sie zumindest vorgeblich mehr Sorge um die Gefühle ihrer Mutter als um die von Mrs Clampton hätte zeigen sollen. Sie wappnete sich für die Standpauke, die nun gewiss folgen würde.
»Hast du auch nur die geringste Ahnung, was für ein schwerer Schlag es für mich ist zu erfahren, dass du ein weiteres Mal meine Gebote missachtet hast?«
Eine Frage, auf die sich Prudence wohlweislich einer Antwort enthielt.
»Es ist unerhört. Wirklich, Kind, ich weiß nicht, was ich von dir halten soll. Du stickst die bezauberndsten Kreationen, die ich je gesehen habe, du singst wie ein Engel, spielst wundervoll Klavier und sprichst nahezu makellos Französisch. Wenn Sophia erst verheiratet ist und du offiziell in die Gesellschaft eingeführt wirst, hast du das Potenzial, jede andere Debütantin zu überstrahlen. Und doch bestehst du darauf, dir den Kopf mit derartigem Unsinn anzufüllen. Du bist kein Kind mehr, Prudence. Es ist lange überfällig, dass du dich wie die junge Dame aus gutem Hause zu benehmen beginnst, die du bist.« Ein letztes Mal schüttelte sie wutentbrannt das Buch mit dem Titel Die Waldromanze, ehe sie es in den Kamin warf.
Traurig musste Prudence mit ansehen, wie die trockenen Seiten Feuer fingen und langsam zu unlesbarer schwarzer Asche zerfielen. Dann erschauerte sie beim Gedanken an all die handbeschriebenen Blätter, die unter einem losen Dielenbrett in ihrem Zimmer versteckt lagen, und was daraus werden würde, sollte ihre Mutter von deren Existenz erfahren.
Es hatte einen Grund, dass Prudence so interessiert war an der Lektüre dessen, was ihre Mutter so abfällig als Schund bezeichnete. Denn mehr als alles andere auf der Welt wollte die jüngste Tochter des angesehenen Hauses Gifford derlei Schund schreiben.
Doch es war kein Schund. Nicht für Prudence.
Schon seit sie ein kleines Mädchen war, spielten sich in ihrem Kopf Geschichte um Geschichte, Szene um Szene ab wie Theaterstücke auf einer Bühne. Ihrer Vorstellung entsprungene Figuren wurden zu Menschen mit ihren ganz eigenen Persönlichkeiten, Interessen, Motivationen und Problemen. Prudence konnte nicht umhin, sich völlig zu verlieren in einer Welt, die so viel abenteuerlicher war als die ihre. Einer Welt, in der alles geschehen konnte. Stundenlange Sitzungen über dem Stickrahmen oder am Klavier hatte sie nur überlebt, indem sie sich gedanklich in jene andere Welt versetzt hatte. In Sekundenschnelle konnte sie so dem öden Alltag entfliehen und sich in eine unschuldige Jungfer verwandeln, die - von einem Bösewicht in einem Verlies gefangen gehalten - unter Androhung von Gewalt zum Handarbeiten gezwungen wurde.
Auch jetzt begab sie sich wieder in ihre Fantasiewelt und stellte sich vor, sie sei die geknechtete Tochter eines strengen Zuchtmeisters, gezwungen, sich zum Abbild einer nicht weniger gestrengen Mutter formen zu lassen. Würde doch nur ein gut aussehender Retter zur Tür hereinstürmen und sie aus ihrer misslichen Lage befreien.
Leider würde sich kein Retter zeigen, zumindest heute nicht. Die Realität war einfach enttäuschend. Vielleicht war das der Grund, warum Prudence ihre imaginierten Welten so liebte. Dort konnte sie alles nach ihren Wünschen gestalten. Wenn sie wollte, dass eine Heldin sich gegen ihre Mutter auflehnte, dann würde diese Heldin das auch tun. Wenn sie wollte, dass ein attraktiver Mann in exakt jenem Augenblick ins Zimmer stürmte, dann würde es so geschehen. Und wenn sie ein Buch vor dem Feuertod retten wollte, würde es vom Kaminsims abprallen, statt mitten in die Glut zu stürzen.
Seufzend ließ ihre Mutter sich nun neben Prudence auf das abgewetzte Brokatsofa sinken und legte eine Hand auf die ihrer Tochter. Eine seltene Zuneigungsbekundung.
»Diese Geschichten, die du da liest, sind nicht real, mein Liebling, und es bereitet mir Sorge, was für Ideen sie dir womöglich in den Kopf setzen. Je mehr du liest, desto unzufriedener scheinst du mit deinem eigenen Leben zu sein. Es ist, als würdest du nur darauf warten, dass ein umwerfender Mann in dein Leben spaziert kommt, dich umwirbt und auf irgendein fantastisches Abenteuer entführt.«
Prudence senkte den Blick auf ihre Hände und musste daran denken, wie oft sie genau das...