Schweitzer Fachinformationen
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Jensen sog die kalte Luft tief in sich hinein, sah zum Himmel hinauf und ließ die letzten umhertanzenden Schneeflocken auf ihrem Gesicht schmelzen. Nur wenige Fenster in den Wohnhäusern um sie herum waren erleuchtet. Die Bettwärme noch in sich tragend, tasteten sich die Menschen auf dem Weg zur Arbeit vorsichtigen Schrittes über das rutschige Kopfsteinpflaster. Sie sahen sich um, als würden sie ihre eigene Stadt nicht wiedererkennen. Dass es schneien kann, war ihnen wohl entfallen, und auch, wie der Schnee die Geräusche der Schritte schluckt, als spannte der Himmel eine riesige Decke über Kopenhagen. Nicht einmal mehr die vor sich hin grölenden, herumtorkelnden Schnapsnasen hatte es auf ihren Schlafplätzen neben dem Supermarkt auf dem Christianshavns Torv gehalten. Der heftigste Blizzard seit Jahren hatte dafür gesorgt, dass sie sich in irgendwelche Innenräume verzogen. Schon bald würden die Schneeräumer anrücken und die weiße Pracht beiseiteschieben. Die Normalität würde wieder Einzug halten. Solange aber hielt die Stadt den gefrierenden Atem an.
Jensen fuhr die gewohnte Strecke, am Borgen vorbei, dem Parlamentsgebäude mit der majestätischen, von Grünspan überzogenen Krone, über die Knippelsbro nach Holmen, und zog mit den Reifen eine Schlangenlinie in den Schnee. Das Heck eines gelben Busses brach in einem großen Bogen zur Seite aus. Die Fahrgäste hinter den beschlagenen Fenstern muteten nahezu geisterhaft an. Jensen beschloss, die Stadt zu mögen, so still und menschenleer, wie sie sich ihr jetzt mit ihren imposanten alten Bauwerken präsentierte. Ohne den Bus hätte jeder Bewohner aus dem neunzehnten Jahrhundert das Stadtbild sofort erkannt.
Das rutschige Kopfsteinpflaster in der Snaregade zwang sie zum Absteigen. Sie schob das Rad zwischen den großen, schiefen Stadthäusern der Altstadt hindurch.
Es sah ihr ähnlich, dass sie ausgerechnet an diesem Morgen schon früh in den Zeitungsverlag zur Arbeit fuhr. Keine zwanzig Minuten war es her, dass sie den Vorhang neben ihrem Bett aufgezogen und die bläulich weiße Welt draußen entdeckt hatte. Gleich aufzustehen und rauszugehen verlieh ihr ein Gefühl von Pflichterfüllung, wobei sie sich jetzt allerdings fragte, ob es nicht klüger gewesen wäre, zu Hause zu bleiben.
Sollte ihr entfallen sein, was es hieß, Journalistin zu sein? Waren ihr die Hartnäckigkeit und die Neugier abhandengekommen, mit denen sie ihre Brötchen verdient hatte, seit sie denken konnte?
Seit ihrer Rückkehr nach Kopenhagen spürte sie, wie die Leidenschaft aus ihr heraussickerte wie bei einem schleichenden Platten, sodass sie kaum noch einen Satz, geschweige denn einen Artikel zusammenbrachte, den zu lesen sich lohnte. Nichts funktionierte, nichts war mehr von Bedeutung.
Als Reporterin für das Dagbladet gehörte es zu ihren Aufgaben, hinter die Kulissen zu schauen und die dänische Gesellschaft unter die Lupe zu nehmen. Aber was wusste sie noch von der dänischen Gesellschaft, nachdem sie fünfzehn Jahre fort gewesen war?
Schon seit Wochen stand sie mit einem Feature über die Kürzungen in der psychiatrischen Versorgung im Wort und redete sich immer wieder mit dem erschwerten Zugang zu Dokumenten heraus. Die Wahrheit war, dass sie mit der Recherche für die Geschichte noch nicht einmal angefangen hatte. Sie hatte den Eindruck, dass sie sich in einer Art Selbstfindungskrise befand.
Ihre Chefin, Margrethe Skov, eine Frau, der es an Selbstvertrauen noch nie gemangelt hatte, zeigte dafür kein Verständnis. (»Journalismus ist reines Handwerk und keine Kunst; man sitzt nicht einfach herum und wartet, bis einen die Inspiration packt.«)
Margrethe hatte natürlich recht. Jensen musste sich einfach an die Arbeit machen. Wenn es gut lief, brachte sie bis zur Redaktionssitzung am heutigen Vormittag schon eine brauchbare Einleitung für ihren Beitrag zustande. Es wäre bestimmt erhebend und äußerst zufriedenstellend, ihn denjenigen unter die Nase reiben zu können, die ihr weniger gewogen waren (und davon gab es so einige). Eine Menge arbeitsloser Journalisten würde einen Mord begehen, um für das Dagbladet schreiben zu dürfen, sinnierte Jensen, während sie ihr Fahrrad weiterschob. Ihre entschlossenen Schritte knirschten im Schnee.
Ein Stück nachdem sie in die Magstræde eingebogen war, sah sie es.
Vor dem roten Gebäude mit der grünen Tür.
Einen hüfthohen Schneehaufen.
Etwas Unförmiges.
Sie sah die Straße rauf und runter und wünschte, es würde gleich jemand auftauchen. Sie wusste, was dieses unförmige Etwas war, wollte es aber nicht wissen. Einen Moment lang erwog sie, einfach weiterzugehen. Aber wie hätte sie das jemals fertigbringen können?
Ihr Herz hämmerte in der Brust. Ihre Hände in den Handschuhen wurden schweißnass. Sie lehnte das Fahrrad an eine Straßenlaterne, beugte sich zu dem unförmigen Haufen hinunter und schob den Schnee vorsichtig beiseite.
Vor Schreck wich sie zurück.
Es war ein Mann, das Gesicht zum Himmel gerichtet, die Augenhöhlen mit Schnee gefüllt.
Sie erkannte ihn wieder. Letzte Nacht hatte er genau an dieser Stelle gesessen. Im Schneidersitz. In denselben roten Schlafsack gehüllt. Allerdings war sie sich ziemlich sicher, dass er da noch gelebt hatte. Sie erinnerte sich, wie sie noch gedacht hatte, was für ein seltsamer Ort zum Betteln das war, im Schatten zwischen zwei Straßenlaternen, während um ihn herum ein Schneesturm tobte.
Die Handflächen des Mannes waren nach oben gerichtet, als wollte er im Sterben seine Unschuld beteuern oder beten. Beides schien ihm nicht viel genützt zu haben. Er wirkte ein paar Jahre jünger als sie. Anfang zwanzig vielleicht. Fast noch ein Junge.
»Nicht schon wieder«, entfuhr es ihr laut, und sie begriff erst in diesem Moment, was das bedeutete.
Passierte das hier wirklich?
Sie wischte noch ein wenig mehr Schnee weg und erstarrte, als sie plötzlich auf einen himbeerfarbenen Brei stieß. Die Daunenjacke des jungen Mannes hatte einen Riss; man hatte ihm in den Bauch gestochen.
Der andere Tote, war der nicht auch erstochen worden?
Auf dem Boden neben dem Mann stand ein Pappbecher mit Kaffee. Daneben lag eine Pizza im Karton. Sie war mit Salami belegt, die sich hochgebogen hatte, ganz steif gefroren war und die Hautfarbe des Toten angenommen hatte.
Jensen musste sich einen Moment auf den Knien abstützen. Speichel lief ihr aus dem Mund und schmolz ein Loch in den Schnee. Sie musste würgen. Ihr Oberkörper krampfte, ohne dass etwas kam.
Ihre Hände bebten; sie zitterte. Die Kälte kroch ihr tief in die Knochen. Wie lange ist der Mann schon tot? Ein paar Stunden höchstens. Sonst hätte ihn bestimmt schon jemand gefunden? Trotz, vielleicht aber auch gerade wegen des Schnees war die Magstræde eine dieser urigen alten Straßen, in die es die Touristen in Scharen zog. Ein wahres Postkartenidyll von Kopenhagen.
Der Himmel über den großen bunten Stadthäusern färbte sich an den Rändern türkis. Der Sichelmond verblasste in der Morgendämmerung. Der Schnee war, von ihren eigenen Spuren abgesehen, unberührt.
Sie warf einen Blick auf ihr Handy und spürte ein flaues Gefühl im Magen. Seit ihrer Rückkehr hatte sie Henrik nicht mehr angerufen. Seine Nachrichten hatte sie ebenfalls ignoriert. Er dürfte wissen, was hier zu tun war.
Der Tod war sein Geschäft.
Ihm war es wichtig, immer als Erster informiert zu werden.
Außerdem würde es ihr helfen, wenn sie Henrik anrief. Das Dagbladet hatte den letzten Mord weidlich ausgeschlachtet. Tote Obdachlose schafften es in London eher selten auf die Titelseite. In den Straßen von Kopenhagen aber, der Hauptstadt der glücklichsten Nation der Welt, sorgte so etwas für Schlagzeilen.
Warum war der junge Mann hier? Wer war er?
Von Henrik konnte sie eher Informationen erwarten, wenn es so weit war, als von einer normalen Streife, die über den Notruf 112 herbeigerufen wurde.
Und Henrik schuldete ihr etwas.
Er schuldete ihr so viel, dass sie nie quitt sein würden, was immer er jetzt auch für sie tun mochte.
Er saß im Auto auf dem Weg zur Arbeit, als sie ihn anrief, und versuchte, mithilfe der Freisprechanlage die Nachrichten aus dem Radio zu übertönen. Die Klangfarbe seiner Stimme trübte sich ein, als er begriff, dass der Anruf nicht privater Natur war. Sie hörte, wie das Heulen der Sirene einsetzte und er den Wagen beschleunigte.
»Bleib, wo du bist«, wies er sie mit der rauen Stimme an, die er allem Dienstlichen vorbehielt. »Und fass nichts an.«
Zu spät.
Sie machte ein paar Fotos von dem Toten, auch wenn sie bezweifelte, dass die Zeitung etwas so Grausames bringen konnte. Der geöffnete Mund des Mannes ließ ihn verletzlich aussehen, der Flaum an seinem Kinn reichte nicht ganz für einen Bart. Schneeflocken hatten sich in seinen Wimpern verfangen und sie weiß gefärbt. Er war so mager, dass sich unterhalb der Wangenknochen schattenhafte Vertiefungen abzeichneten.
Nachdem sie ein wenig Schnee mit dem Fuß beiseitegeschoben hatte, sah sie, dass er sich aus einem platt getretenen Pappkarton einen Sitzplatz gemacht hatte. Seine Daunenjacke und die Wollmütze waren von guter Qualität. Er hatte sich der Witterung entsprechend angezogen. Um nicht zu frieren, musste sie auf dem Bürgersteig hin und her laufen und sich immer wieder in die...
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