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Hauptkommissar Henrik Jungersen wartete unter seinem Regenschirm, während der uniformierte Polizist, der als Erster am Tatort gewesen war, sich neben dem Blumenbeet aufrichtete.
»Wo?«, fragte er, nachdem der Mann sich übergeben und anschließend den Mund am Ärmel abgewischt hatte.
»Treppenabsatz im ersten Stock.«
Henriks müder Blick wanderte hinauf zu der roten Villa, die von einem makellosen Rasen und Zierkiefern umgeben war.
Das Gebäude war zu groß und zu ruhig.
Immer mehr Fahrzeuge fuhren die Schotterauffahrt hinauf. Blaues Blinklicht flackerte zwischen den hohen Nadelbäumen, die das Grundstück von der Straße abschirmten. Die Spurensicherung hatte er angewiesen, draußen zu warten, damit er einen Moment mit der Leiche allein zubringen konnte. Seinen weißen Kapuzenoverall hatte er bereits übergestreift, aber keine Lust, hineinzugehen.
Noch nicht.
Er ging zu dem Schäferhund hinüber, der neben dem Streifenwagen kauerte. Er hatte dem Opfer gehört und war allem Anschein nach tagelang im Garten hinter dem Haus eingesperrt gewesen. Der Partner des Polizisten, der sein Frühstück gerade wiedergesehen hatte, versuchte, den Hund dazu zu bewegen, aus einer Plastikflasche zu trinken. Der Vierbeiner gab sich desinteressiert. Es hatte offenbar genügend Pfützen gegeben, an denen er seinen Durst stillen konnte, mutmaßte Henrik.
Er kraulte das Tier hinter den Ohren und strich ihm über den seidigen goldenen Fleck auf der Stirn. Der Hund winselte unruhig. Vermutlich fragte er sich, was mit der Hand passiert war, die ihn normalerweise fütterte. »Wo hast du ihn gefunden?«
»Hinten im Garten«, sagte der Beamte. »Alles voller Scheiße. Die Nachbarin fühlte sich durch das Bellen gestört und hat bei der Polizei angerufen.« Die Beschwerde wurde anscheinend zunächst ignoriert.
»Wo genau nebenan?«, wollte Henrik wissen.
Der Beamte zeigte auf das Anwesen rechts neben der Villa. Henrik schaute hinauf und sah gerade noch, wie der Vorhang zurückfiel. Typisch für das noble Klampenborg, dass ein vor Neugier platzender Nachbar gleich bei der Polizei anruft, nur weil ein Hund Krawall macht. Da, wo er herkam, wäre man hingegangen, hätte mit seinem Nachbarn gesprochen und versucht, den Sachverhalt zu klären.
Jedenfalls hätte man nicht gleich die Behörden verständigt.
»Hat sie etwas gesagt?«
»Sie hörte gar nicht wieder auf«, sagte der Beamte, den Zeigefinger in Anspielung auf den mentalen Zustand der Nachbarin an die Schläfe gelegt. »Ich hatte keine Chance.«
Dumme Alte, dachte Henrik bei sich, während er Empörung in sich aufsteigen spürte. Wäre sie einfach nur rübergegangen und hätte geklingelt, als sie misstrauisch wurde, dann hätten sie das Problem jetzt nicht. Er würde ihr nachher einen Besuch abstatten und ihr die Meinung sagen.
Der Schäferhund würde sich hoffentlich bald erholen. Henrik hätte ihn gerne selbst aufgenommen, bis sich ein neuer Besitzer fand, aber er mochte Tiere und respektierte ihre Bedürfnisse, sodass ihm klar war, dass sein Leben kein Leben für einen Hund war.
In letzter Zeit jedenfalls nicht.
Nicht seit Jensen plötzlich wieder in sein Leben getreten war.
Wo war sie jetzt?
Ein gefährlicher Gedanke, den er gleich wieder zu verdrängen suchte. Von allen Frauen in Kopenhagen war Jensen die letzte, um die er sich Gedanken machen musste.
Seufzend atmete er weißen Dampf in die kalte, feuchte Luft hinaus. Verdammter Regen. Seit Wochen schon wollte es einfach nicht aufhören zu regnen. Grau in grau. Genau wie seine Laune. Sollte im März nicht eigentlich schon der Frühling anfangen?
Er schloss den Regenschirm, schleuderte ihn auf den Vordersitz seines Wagens und lief die Treppe zur Villa hinauf, wobei er die Blicke der Beamten im Rücken spürte.
Hinter der Eingangstür hatte sich ein Haufen Post angesammelt, hauptsächlich Werbung. Er streifte sich die Latexhandschuhe über, legte den Mundschutz an und beugte sich hinab, um einen der wenigen richtigen Briefe aufzuheben.
Frau Irene Valborg
Auf dem Umschlag befand sich kein Poststempel. Wann war die Ära der Poststempel zu Ende gegangen? Er öffnete den Brief und fand ein vor über zwei Wochen datiertes Schreiben. Die Mahnung des Zahnarztes. Kein gutes Zeichen, als hätte ihm der Gestank aus dem Inneren des Hauses nicht sowieso schon mehr gesagt, als er wissen musste.
In seinen Anfangstagen bei der Polizei hatten er und sein Kollege an einem heißen Tag einmal die Tür zu einer Wohnung in Valby gewaltsam aufbrechen müssen, nachdem sich Nachbarn über Gestank im Treppenhaus beschwert hatten. Er fand den Bewohner, einen Mann in den Achtzigern, mit weit aufgerissenen Augen auf dem Sofa sitzend vor, das Essenstablett noch auf dem Schoß. Der Fernseher dröhnte in voller Lautstärke.
Einen Monat war er schon tot gewesen.
Übersät von Fliegen.
Seitdem fürchtete Henrik diese Einzelgänger, die wie faules Obst in der Schüssel vor sich hin verrotteten. Das war der eigentliche Grund, weshalb er unter dem Vorwand, den Tatort in Augenschein nehmen zu wollen, darum gebeten hatte, einen Moment mit der Leiche allein gelassen zu werden. Was immer er dort vorfinden würde, ihm war es lieber, keine Zuschauer zu haben.
In den vielen Jahren, die er schon bei der Polizei war, hatte er mehr als genügend Tote gesehen. Warum fand er diese Leichen im fortgeschrittenen Stadium der Verwesung, diese ausrangierten menschlichen Hüllen, so abscheulich und abnorm? Er konnte es sich selbst nicht erklären. Eine Leiche war schließlich eine Leiche.
Er wollte sich umdrehen und weglaufen, doch er konnte es nicht.
Nicht jetzt.
Nicht, wo alle Welt draußen zusah.
Das Schloss der Eingangstür schien neu zu sein und machte einen anständigen Eindruck. Es wies keine Einbruchsspuren auf, auch wenn das nicht unbedingt etwas zu bedeuten hatte. Einbrecher wussten, wie man in die Wohnung älterer Menschen gelangte. Außerdem gab es ein ziemlich ausgeklügelt wirkendes Alarmsystem. Henrik vermutete allerdings, dass es ausgeschaltet gewesen war, als der Mörder in das Haus eindrang, sonst wäre Irene vermutlich noch am Leben.
Er machte ein Foto von dem Aufkleber mit dem Namen der Sicherheitsfirma und notierte sich das Datum, an dem die Anlage installiert worden war.
Das Haus wirkte ordentlich und aufgeräumt, nichts deutete auf eine Unregelmäßigkeit hin. Es war vollgestopft mit Antiquitäten, abgenutztem altem Zeug, als wäre die Zeit hier vor einem Jahrhundert stehen geblieben. Neben dem Telefon lag ein spiralgebundenes Adressbuch, in dem mit krakeliger blauer Tinte vor allem die Telefonnummern von Handwerkern notiert waren. Soweit er es beurteilen konnte, wies nur wenig auf Familie oder Freunde hin.
Zu fehlen schien nichts. Einbrecher hatten es in der Regel auf Bargeld oder Wertgegenstände abgesehen, die sich schnell verkaufen ließen. Irgendwo in diesem großen, stillen Haus würde sich eine Handtasche mit leerem Portemonnaie oder eine aufgebrochene, ausgeplünderte Schmuckschatulle finden.
Auf dem Weg zur Treppe verriet ihm ein leises Brummen, dass er sich den Überresten dessen näherte, was einmal ein sprechender, gehender, atmender Mensch gewesen war. Langsam und zögerlich ging er die Stufen hinauf. Bevor er den Treppenabsatz erreichte, blieb er stehen und blickte über die letzte Stufe hinweg, wobei sich sein Mund zu einer unwillkürlichen Grimasse verzog.
Irene lag auf der Seite, direkt hinter einem Absperrgitter, das die Treppe von den Schlafzimmern in der ersten Etage trennte. Es stand halb offen. Hatte die alte Damen bemerkt, dass etwas nicht stimmte, versucht, das Gitter hinter sich zu schließen, und war dabei von dem Einbrecher überrascht worden? Sie war klein und schmächtig, wie ein Vogel, mit dünnen, zerbrechlich wirkenden Gliedmaßen.
Warum brachte man sie um, wenn man sie doch einfach zur Seite hätte schieben können? Die Perserbrücke auf dem Treppenabsatz hatte sich mit Blut vollgesogen und es in ihr hochkomplexes Muster aufgenommen. Wüsste man es nicht (etwa, weil man nicht über einen ausreichenden Geruchssinn verfügte), könnte man meinen, sie schliefe.
Abgesehen von ihren weit aufgerissenen Augen.
Und den Fliegen.
Und der Haut, die sich schon dunkel verfärbt hatte.
Er zwang sich, wie ein Polizist zu denken. Auch wenn sie ihn nervös machten, wusste er doch, dass die Fliegen und Larven, die sich in dem zentral beheizten Haus in großer Zahl entwickelt hatten, bei der Feststellung des Todeszeitpunktes äußerst hilfreich sein konnten.
An der bronzenen Statue eines Elefanten auf einem Marmorsockel, die neben der Leiche lag, klebten Haare und Hautpartikel. Als hätte der Einbrecher im Affekt gehandelt und sich den nächstbesten schweren Gegenstand...
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