Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Kein einziges Mal hatte Benedikt Kordesch während der viereinhalbstündigen Autofahrt gelächelt. Sein Magen schmerzte. Er saß starr auf dem Beifahrersitz, hatte die Hände in die Knie gekrallt und ließ sie nicht mehr los.
Während der Fahrt hatte Oberst Kordesch nur ein paar Sätze gesprochen. Er wusste, dass er der Oberstaatsanwältin Krakauer, die am Steuer saß und ihn immer wieder in ein Gespräch verwickeln wollte, als verschrobener und wunderlicher Mensch erschien. Er kannte das. Menschen wie Wiltrud Krakauer erschien die Welt normal. In Wahrheit aber war nicht die Welt normal, sondern nur ihr eigener Magen. Sie musste nicht mit den dauernden Krämpfen und dem sauren Aufstoßen leben. Sie kannte die chronische Gastritis nicht und konnte niemanden verstehen, der an ihr litt.
Als sie Seeboden erreichten, bewegte sich Kordesch und blickte aus dem Beifahrerfenster auf den Millstätter See. Er wusste nicht, wie viele Jahre er diesen See nicht mehr gesehen hatte. Er war so wunderschön wie immer. Der blaue Himmel darüber strahlte genauso wie in den Julitagen seiner Kindheit, als er hier mit den Eltern Urlaub gemacht hatte. Aber es hatte nicht nur diese perfekten Sommertage gegeben. An manchen Nachmittagen hatte sich der makellos blaue Himmel innerhalb einer Stunde verdunkelt. Schwere Wolken waren vom Großglockner her über den See gezogen, der so tief und so furchteinflößend und doch so schön war, und bald war flutartiger Regen niedergegangen. Hagelschlag war hier auch im Juli keine Seltenheit. Aber sogar die Weltuntergangsstimmung hatte Kordesch als Kind geliebt. Alles hier hatte er geliebt, bis er fünfzehn Jahre alt wurde. Und dann kam sie: die erste Katastrophe in seinem Leben. Doch verglichen mit den späteren Katastrophen in seinem Leben - besonders mit der Katastrophe - war die erste Katastrophe eigentlich lächerlich gewesen.
Hätte Kordesch sich von der Wiener Staatsanwältin nicht überreden lassen, nach Jahren wieder einen Fall als Ermittler zu übernehmen, dann hätte er diesen Sommertag genießen können. Aber er war ihm jetzt schon verdorben. Er wusste nur nicht, was ihn mehr störte: die Gastritis oder dieser Mord an einem Hotelgast.
Sie fuhren durch Seeboden. Kordesch erkannte den Ort nicht wieder, so viele riesige Supermärkte und Geschäfte reihten sich an der Hauptstraße aneinander. Und wie überall folgte auch hier inzwischen ein sinnloser Kreisverkehr dem anderen.
Die Staatsanwältin drehte sich zu ihm. Sie lächelte, als sie sah, dass er seine Knie losgelassen hatte. »Es muss schön sein, in die Heimat zurückzukehren«, sagte sie. »Besonders an einem solchen Sommertag.«
»Bitte schauen Sie auf den Verkehr!«, antwortete Kordesch. Sofort bedauerte er seine Schroffheit und versuchte, freundlicher zu sein: »Ja, ein schöner Sommertag. Für die Angehörigen des Toten ist er vielleicht nicht so schön.«
Auf dem Radweg rechts von ihnen war eine Gruppe von Rentnern auf E-Bikes unterwegs.
»E-Bike - Rollator - Rollstuhl - Tod. Das ist der Lauf des Lebens«, sagte Kordesch. »Ich dachte mir gerade: Nach dem zweiten Schlaganfall kaufe ich mir auch ein E-Bike.«
»Kordesch, ich brauche hier keine Schlaganfälle, das erledigen Sie bitte außerhalb der Arbeitszeit«, sagte die Staatsanwältin. »Noch einmal: Ich will, dass das hier ohne großes Aufsehen abläuft. Wenn es ein Tourist oder eine Arbeitskraft von außerhalb war, war es ein bedauerlicher Einzelfall, der überall hätte passieren können. Wenn es ein Einheimischer war, war es ebenfalls ein bedauerlicher Einzelfall. Sie kennen doch Herrn Schmölzer, den Politiker?«
»Wer kennt den nicht?«, murrte Kordesch.
»Ich sage es Ihnen gleich: Schmölzer wird die ganze Zeit vor Ort sein. Seien Sie freundlich zu ihm. Aber geben Sie ihm keine Informationen. Reden Sie nur mit mir. Und vergessen Sie nicht: Das Ganze ist .«
»Ein bedauerlicher Einzelfall«, sagte Kordesch.
»Genauso ist es!«
»Sie und Ihre sauberen Parteifreunde!«, sagte Kordesch. Josef Schmölzer war Hotelier und Nationalratsabgeordneter. Und ein persönlicher Freund des Innenministers. Als Abgeordneter hatte er in der Pandemie jene Covid-Hilfen für den Tourismus mitbeschlossen, von denen er als Hotelier selbst mehrere Millionen bekam.
»Ich muss schon sehr bitten, Herr Kollege!«, zischte die Staatsanwältin. »Ich habe nie einer Partei angehört. Niemals! Merken Sie sich das!«
Sie passierten die Ortstafel von Millstatt. Politiker hatten der Wörthersee und der Millstätter See schon immer angezogen. Kordesch erinnerte sich daran, wie sein Vater im Urlaub oft erzählt hatte, dass er als Kind den damaligen Finanzminister Reinhard Kamitz in Millstatt gesehen habe, der angeblich jeden Juli in der Schlossvilla am Südufer des Sees verbrachte. Einen Spaltbreit öffnete Kordesch das Fenster. Bedauerlich, dass er in der Gegenwart lebte und nicht in der Vergangenheit. Bedauerlich, dass er sich nun sehr bald mit etwas anderem beschäftigen musste als mit dem sonnigen Himmel und seinen Erinnerungen.
»Wollen Sie sich eigentlich nicht bei mir dafür bedanken, dass ich Sie an einem Samstag in meinem Privatauto herbringe?«, fragte die Staatsanwältin.
»Es ist der schönste Ort der Welt«, sagte Kordesch. »Das dachte ich - als ich ein Kind war.«
»Dann eben nicht«, sagte die Staatsanwältin. »Stellen Sie mal das Radio an. Bestimmt ist es schon in den Lokalnachrichten!«
»Zahlt sich nicht aus«, sagte Kordesch. »Wir sind gleich da.«
Sie fuhren an der Touristeninformation vorbei, am Minigolfplatz, bogen nach rechts ab, Staatsanwältin Krakauer hielt an und stellte den Motor ab. »Also dann, Kordesch .«
Benedikt Kordesch seufzte. Musste er wirklich aussteigen? Es war ein Fehler gewesen, zuzusagen. Ja, gut, ein Drittel aller Kolleginnen und Kollegen war krank, ein zweites Drittel auf Urlaub. Warum nur war er nicht krank oder auf Urlaub?
»Alles Gute!«, sagte Krakauer. »Und vergessen Sie nicht, was ich Ihnen gesagt habe: Sie haben meine volle Unterstützung und die des Ministers.«
Kordesch atmete tief ein. Er war angekommen und noch am Leben. Er öffnete die Beifahrertür und stieg aus. Er nahm seinen Trolley aus dem Kofferraum und wollte die Heckklappe mit der Hand schließen. Doch dann erinnerte er sich daran, dass man bei diesen modernen Wagen nur einen Knopf zu drücken brauchte, damit sie automatisch zuging. Kordesch lief um das Auto herum und blieb an der Fahrertür stehen. Die Staatsanwältin hatte das Fenster heruntergelassen.
»Wollen Sie sich bei mir bedanken, dass ich das hier für Sie erledige?«, fragte er.
Die Staatsanwältin blickte ihn an. »Das ist Ihr Beruf, Kordesch! Den haben Sie sich ausgesucht.«
»Danke, dass Sie mich daran erinnern.«
»Schaffen Sie uns einfach das Problem vom Hals«, sagte die Staatsanwältin. »Am besten schnell.«
Kordesch konnte nicht lachen über diese Vorgabe. Krakauer trat aufs Gas, und schon war sie weg. Kurz hoffte er, sie würde irgendwo wenden, vor dem Hotel anhalten und ihn wieder nach Wien mitnehmen. Doch das Auto kam nicht zurück.
Mit dem Trolley in der Hand blieb er vor der Einfahrt zur Villa Paradies stehen. Da standen Sträucher in großen Bottichen am Eingang. Sie blühten in allen Farben. Jemand hatte sich Mühe gegeben.
Er ging durch das Tor. Die Hotelanlage bestand aus zwei Gebäuden, zwischen denen sich ein kleiner Hof und ein paar Parkplätze befanden. Dahinter ein Garten. Kordesch trug seinen Trolley über den Kiesweg. Eine Familie mit zwei Kindern kam an ihm vorbei, ohne ihm Beachtung zu schenken. Alle vier trugen Badekleidung und Gummischlapfen. Die Kinder waren waschelnass. In diesem Treiben fiel Kordesch nicht auf, was ihm sehr angenehm war.
Das Schild mit der Aufschrift Rezeption war nicht zu übersehen. Es zeigte auf eine geschwungene Steintreppe, die hinauf zur Villa führte. Kordesch war angenehm überrascht. Er hatte ein protziges Hotel für neureiche Gäste erwartet. Stattdessen wirkte hier alles so, als wäre es aus den Siebzigerjahren - altmodisch, aber mit viel Charme.
Kordesch ging die Stiege hinauf. Er war fast oben, da sah er unter einem Baum in dem kleinen Garten einen Polizisten auf einem Liegestuhl. Er schlief. Kordesch machte kehrt, ging die Stiege wieder hinunter und auf den Liegestuhl zu.
»Herr Kollege!«
Der Polizist reagierte nicht. Kordesch tippte ihm auf die Schulter: »Herr Kollege!«
Erst beim dritten Mal schreckte der Polizist auf und rappelte sich etwas tollpatschig hoch.
»Entschuldigung«, sagte der Polizist. »Man liegt so gut auf diesen .«
»Herr Kollege, mein Name ist .«, sagte Kordesch.
»Oberst Kordesch?«, sagte der Polizist und stand auf.
»Bitte den Dienstgrad weglassen!«
Der Polizist war klein und untersetzt und wirkte etwas unsicher. Kordesch schätzte ihn auf Ende zwanzig.
»Sie sind schon da?«, sagte der Polizist hektisch. »Bezirksinspektor Havran.«
Als Kordesch den Namen hörte, krampfte sich sein Magen schmerzhaft zusammen. Er hoffte, dass er sich irrte, und überspielte seine Irritation: »Haben Sie eine Liste mit allen Gästen und Mitarbeitern?«
»Ich muss zuerst Major Stutzer anrufen«, sagte Havran und griff zu seinem Smartphone. »Er wird gleich da sein!«
»Stutzer?«, fragte Kordesch. »Adolf Stutzer?«
»Major Adolf Stutzer«, sagte Havran. »Leiter des Polizeikommandos Spittal an der Drau.«
Schnell stellte Kordesch seinen Trolley ab und griff nach Havrans Hand, um ihn davon abzuhalten, diesen Anruf zu tätigen.
Hinter dem Haupthaus tauchte in diesem Moment ein junges Paar auf...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.