Schweitzer Fachinformationen
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Ich hatte Angst. Angst, Akhtar zu treffen. Einen Mann, dem ich noch nie begegnet war und mit dem ich den Rest meines Lebens verbringen sollte. Dabei war ich gerade mal elf Jahre alt und sollte einen wildfremden Mann heiraten. Ich konnte nicht schlafen, weil ich nicht wusste, was mich erwarten würde. Ich schloss die Augen. Meine Lider waren schwer, weil ich noch so müde war. Aber mein Herz schlug schnell. Mir wurde heiß. Ich fragte mich: Was ist das für ein Mann? Wird er mich mögen? Wird er mich mit einem Lathi schlagen? Mit dem langen, dünnen Schlagstock aus Bambus?
Noch bevor die Sonne aufging, lief ich zum Brunnen, um Wasser für den ganzen Tag zu holen. Auf der Wasseroberfläche spiegelte sich das Mondlicht. Das kühle Wasser war angenehm erfrischend, als ich den Eimer darin eintauchte und dadurch das Spiegelbild des Monds zerstörte. Danach setzte ich den Eimer auf den Kopf und balancierte ihn zurück zum Haus. Obwohl die Sonne noch nicht aufgegangen war, spürte ich, wie warm der Tag werden würde. Sand und Staub wehten durch die Luft, legten sich auf alles, auch auf meine Haut.
Ich musste mit dem Eimer mehrmals zum Brunnen und wieder zurückgehen, bis ich genügend Wasser geholt hatte. Dann fegte ich das Haus und setzte Chai auf. Den Schwarztee trinkt man in ganz Indien. Meist wird er mit einem Schuss Milch und viel Zucker in einem Topf aufgekocht. Dazu kommen je nach Region verschiedene Gewürze (Masala), wie Kardamom, Zimt, Ingwer, Nelken, Muskat oder Lorbeerblätter. Ich nahm nur etwas Ingwer und Zimt für den Chai und brühte ihn mit wenig Zucker, dafür umso mehr Milch, auf. Dann brachte ich ihn der Frau, für die ich seit zwei Jahren arbeitete.
Weil sie so fett war und ich sie verabscheute, nannte ich sie Moti - auf Hindi ist das die umgangssprachliche und abschätzige Bezeichnung für dicke Frauen. Noch bevor Moti den ersten Schluck getrunken hatte, brüllte sie mich an: »Wie siehst du wieder aus? Völlig eingestaubt! Wasch dich und mach dich schön! Heute ist ein sehr wichtiger Tag!«
Ich nahm das verdreckte Küchentuch und wischte mir den Staub von der Haut. Dann ging ich zum Wassereimer und hockte mich davor, um mir Gesicht und Haare zu waschen. Ohne Seife, denn die war nur für Moti vorgesehen. Anschließend ging ich ins Haus und zog das schönste Salwar Kameez an, das ich hatte. Es ist die traditionelle Kleidung von einigen Inderinnen und besteht aus einem Kameez, einem längeren Hemd, das locker über eine Salwar, eine weite Hose, getragen wird, und einem Schal, der Dupatta. Mein Kameez war hellorange mit großen weißen Blumen. Sie ähnelten den Orchideen, die in meiner Heimat Assam wachsen. Und den Farben von Tigern, die es dort gibt. Nur eben nicht wild gestreift, sondern mit Blüten. Dieses Salwar Kameez werde ich nie vergessen. Heute würde es mir nicht mehr passen. Doch damals war ich viel dünner. Aber nicht schlank und hübsch, sondern abgemagert und schwach.
Wenige Tage zuvor war ein alter Herr gekommen, um mit Moti und ihrem Mann zu sprechen. Er wollte mich mit seinem Sohn Akthar verheiraten, wie mir Moti später erzählte. Heute war der Tag, an dem ich diesem wildfremden Mann, dessen Frau ich werden sollte, zum ersten Mal begegnen würde. Ich betete an diesem Morgen ausgiebig. Wird er mich mögen, überlegte ich, oder wird er mich so schlecht behandeln, wie Moti es getan hatte. All die Gedanken meiner schlaflosen Nacht kreisten wieder in meinem Kopf. Moti und ihr Mann brachten mich mit dem Sammeltaxi in ein fremdes Dorf, etwa vierzig Minuten von der Stadt entfernt. Sie lieferten mich bei meinem zukünftigen Mann und seiner Familie ab. Moti sagte bloß: »Sie heißt Amila.« Dann verabschiedeten sie und ihr Mann sich von der Familie - aber nicht von mir - und fuhren einfach weg.
Es war komisch. Abdul, der bei Moti zu Besuch gewesen war, zeigte auf den Mann neben sich. Dieser war zwar jünger als er, aber vermutlich doppelt so alt wie ich und bestimmt zwei Köpfe größer als ich. »Das ist mein Sohn Akthar«, sagte er. »Du bist nun seine Frau.« Akthar musterte mich ausgiebig, sagte aber kein Wort. Ich auch nicht. Aber ich schaute ihn an. Er sah seltsam aus. Sein dunkles, unreines und vernarbtes Gesicht mit den schwarzen Dreitagebartstoppeln und der großen Knubbelnase war nicht schön anzusehen. Vor seinen Augen lag ein Schleier, der das helle Blau seiner Iris und seinen Augapfel trübte. Trotzdem durchschoss mich der Blick aus seinen Pupillen wie ein Blitzstrahl. Das löste Unbehagen bei mir aus, weshalb ich meinen Blick von seinen Augen abwandte. Er zündete sich eine Zigarette an und steckte sie sich in den Mund. Dabei kamen seine vergilbten und spitzen Zähne zum Vorschein. Ich senkte die Lider und bemerkte aus dem Augenwinkel mit verstohlenem Blick die vielen schwarzen Haare, die wild aus seinem oben aufgeknöpften Hemd sprossen, dann wandte ich meinen Kopf ab. Aber in meinem Inneren brodelte es. Noch heftiger als am Morgen, als ich wach gelegen hatte.
»Du bist seine Frau!« - der Satz hallte wie ein Echo in meinem Kopf. Es tat weh und fühlte sich an, als ob die Worte immer wieder kräftig gegen meine Schädeldecke geschlagen würden. »Du bist seine Frau! Du bist seine Frau! Du bist seine Frau!« - wie ein Mantra wiederholte ich die Worte lautlos für mich selbst. Ich hatte Angst. Es sollte einfach nur aufhören. Tat es aber nicht. Ich wusste nicht, wie mir geschah, wo ich genau war und wer dieser Akthar, mein Mann, eigentlich sein sollte.
Plötzlich kam ein anderer Mann auf mich zu und rammte mir einen kleinen goldenen Stecker in einen Nasenflügel. Es gelang ihm nicht auf Anhieb, und so begann Blut auf mein Lieblings-Kameez zu tropfen. Doch der Fremde bohrte weiter, bis die goldene Verzierung fest in der Haut verankert war, und sagte: »Das ist das Zeichen für euer Bündnis.« Dann rief Akthar: »Muhdak Karo (Bedecke dein Gesicht)!« und zog mir den Schal übers Gesicht, wodurch er meinen fragenden Blick verbarg, denn ich verstand nicht, was das sollte. Aber die Männer schienen zufriedengestellt zu sein und ließen mich mit der einzigen Frau, die außer mir in der Hütte stand, alleine.
»Keine Angst«, sagte sie, »ich bin Kamla, deine Schwiegermutter.« Wir setzten uns auf den Boden und sie erklärte mir, dass Mädchen, sobald sie verheiratet und damit zu Frauen werden, solch ein Nasenornament bekommen, das sie bis an ihr Lebensende tragen müssen. Zum Glück mochte ich Schmuck. Zudem müssen verheiratete Frauen ihr Gesicht komplett bedecken, damit kein anderer Mann außer ihrem Ehemann es sehen kann. Dann zeigte sie mir die verschiedenen Methoden, den Schleier zu binden (Ghunghat Karna). Entweder komplett über den Kopf, wenn das Tuch so dünn ist, dass man hindurchsehen kann. Oder man stülpt den Schleier über die Stirn, legt den längeren Teil über Nase und Wangen und bindet ihn hinter dem Kopf zusammen, sodass nur die Augen herausgucken. Heute ist das alles selbstverständlich für mich, aber damals musste ich es erst lernen. Gemeinsam probierten wir verschiedene Wicklungen aus, und es kam mir fast vor wie ein Spiel. Aber irgendwie war es auch bizarr und ungewohnt.
Das Wort Ghunghat hatte ich zuvor noch nie gehört. In meiner Heimat Assam nennen wir den Schleier Dupatta, der ganz locker gebunden und manchmal wie ein Schal getragen wird. Doch hier in Alwar, mehrere Tausend Kilometer entfernt von meiner Heimat, wo ich damals seit knapp zwei Jahren lebte, »sind viele Dinge ganz anders«, wie Kamla es ausdrückte.
Alwar ist der Name einer Region und ihrer Hauptstadt in Rajasthan, einem Bundesstaat im Nordwesten Indiens. Assam, mein Heimatstaat, befindet sich im Nordosten des Landes, oberhalb von Bangladesch. Es ist das Gebiet ganz rechts oben auf der Landkarte von Indien, das so aussieht, als ob es gar nicht mehr dazugehöre. Und genauso fühlte ich mich auch. Wie eine Außenseiterin. Alles in Alwar sah anders aus als in Assam und war mir fremd. Die Erde war trocken, ebenso die Luft. Ich konnte kaum atmen. Alles war voller Staub. Der kam von verschiedenen Orten: aus der Wüste, die hinter dem rostroten Gebirgszug liegt, der sich am Horizont abzeichnet. Von den großen weißen Schornsteinen der Ziegelöfen aus rotem Backstein, die in den Himmel ragen und aus denen unaufhaltsam schwarze Rauschschwaden qualmen. Und von den Abgasen der unzähligen Lastwagen, Motorräder, Traktoren. Viele Lastwagen sind mit Steinen beladen und brettern unaufhaltsam über die Hauptstraße, die verschiedene Orte in Alwar mit der Provinzhauptstadt verbindet.
Nur die Kleidung der Männer, weiße Kurtas, war mir vertraut. Die weit geschnittenen, kragenlosen Hemden sind in Indien ein traditionelles Herrenoberteil. Für mehr Bewegungsfreiheit sind sie ab der Hüfte oder dem Knie, je nach dem wie lang sie sind, nicht zusammengenäht, genau wie das Kameez für die Frauen. Die Ärmel fallen gerade bis zum Handgelenk. Darunter tragen sie meist Stoffhosen, heutzutage auch Jeans.
Einige Männer bedecken ihre Haare mit langen Tüchern, die sie wie einen Turban auf ihrem Kopf drapiert haben. Die Alternative dazu sind Takes, weiße gehäkelte Mützen, die viele Muslime tragen. Von ihnen sah ich in Alwar deutlich mehr als in Assam. Auch Akthar hat eine Take, trägt sie aber meist nur zum Besuch der Moschee. Auch Moscheen scheint es hier mehr zu geben als Hindu-Tempel.
Wenn die Männer nicht in der Moschee sind, rauchen sie Wasserpfeife oder starren gelangweilt in die Gegend. Auch die Tiere scheint nichts aus der Ruhe zu bringen. In den wenigen...
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