Schweitzer Fachinformationen
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Hundert Jahre waren nicht lang, wenn man ein Taghold war. Die Tagholde waren älter als manche Sterne, vielleicht sogar älter als die Welt selbst. Was also waren hundert Jahre für den Herrn der Tagholde? Ein Meisenschiss. So wie der auf seiner Schulter, den er nicht wegwischen konnte.
Ha! Hundert Jahre waren verflixt, verteufelt und verflucht noch mal lang, wenn man als steinerne Faunstatue langsam mit Moos überwuchert wurde und an einem öden Ort wie diesem Park sein Dasein fristete, abgeschnitten von allen kleinen und großen Freuden und Späßen.
Der Herr der Tagholde hatte es satt. Er hatte es mehr als satt. Er hatte es übersatt. Er . Er musste sich beruhigen.
Denn der Tag nahte, an dem dieses Elend ein Ende finden sollte. Die hundert Jahre Versteinerung waren fast vorüber. Er konnte es kaum abwarten, seine Ziegenfüße zu strecken und seine geliebte Flöte Syruk wieder in seinen Fingern zu spüren. Überhaupt wieder etwas anderes zu spüren als juckendes Moos.
Wie jedes Mal hatte ihm der Neumond erlaubt, zumindest seine steifen Gesichtszüge und seine Stimmbänder ein wenig zu lockern. Was er ausgiebig getan hatte, bis sich selbst der Uhu aus dem verlassenen Gemäuer am Ende des Parks entsetzt abgewandt hatte. Doch dieses Mal war die Versteinerung nicht komplett wieder zurückgekehrt. Es war also wirklich so weit, hatte er zufrieden festgestellt. Der Mond hatte Wort gehalten, er hatte ihm seine Sprache endgültig zurückgeschenkt, in diesem Moment seine gefährlichste Waffe. Leider auch seine einzige . vorerst. Farandun, der Herr der Tagholde, Geister der Lichtzeiten und Hirten der Wildnis, war so was von bereit, diesen vermaledeiten Ort zu verlassen.
»Habixus!«
Seine Stimme klang rau und ungeübt. Nichts war übrig von dem verführerischen Klang, den sie gehabt hatte, bevor er in Stein verwandelt worden war. Selbst seine wunderbare Stimme war steinern geworden. Was hatten diese hundert Jahre ihm angetan? Ein Anflug von Selbstmitleid erfasste ihn.
Im Gebüsch gegenüber ging ein trockenes Zweiglein in Rauch auf, und kurz darauf wuselte ein mausgroßes, funkensprühendes Wesen zwischen den Blättern hervor, hopste auf das Rasenstück vor ihm und schaute ihn aus großen, runden Augen an.
»Hast du sie gefunden?«
Das Wesen pritzelte aufgeregt und wackelte dabei hin und her. Der Herr der Tagholde seufzte. Hundert Jahre, und sein einziger Gesprächspartner war dieses elektrifizierte Etwas gewesen. Nicht mal über das Wetter konnte man mit ihm reden, ohne dass es irgendwas in Brand setzte. Von allen Tagholden, die es gab, musste ausgerechnet dieser im richtigen Moment vom Blitz getroffen werden, der Versteinerung entgehen und ihre einzige Hoffnung auf Erlösung sein!
Ein Wesen ohne Worte.
Das hatte nun aufgehört zu pritzeln und seine Ohren angelegt.
»Ja, ich bin auch froh, dass es bald vorbei ist und die Tagholde wieder frei sein werden. Hast du das Mädchen gefunden?«
Das Gute an seiner tonlosen Stimmlage war, dass sie seine Ungeduld verbarg. Die Zeit drängte, nicht eine Stunde zu lang wollte er auf diesem Sockel dahindämmern. Er musste also unbedingt vermeiden, dass Habixus wieder schmollte und ihn tagelang unbeachtet stehen ließ, wie nach dem vorletzten Neumond, als Farandun ihn eine »Stinkfunzel« genannt hatte. Dabei war die kleine Funkenschleuder eingeschlafen, während Farandun ihm wichtige Dinge erklärt hatte. Gut, er hatte lange geredet, so war das, wenn man das nur einmal im Monat tun durfte und einem niemand richtig antwortete, da konnte man sich nicht mit drei Sätzen zufriedengeben. Aber einschlafen? Wenn der Herr der Tagholde zu einem sprach?
Hinter Habixus' Ohren stieg eine kleine Rauchwolke auf, dann pritzelte er entschlossen. Ein Funke stob neben ihm ins Gras und brannte ein Loch in ein Löwenzahnblatt. Farandun brummte zufrieden. Diese elektrische Maus taugte also doch zu etwas.
»Gut! Hol sie her.«
Nervöses Pritzeln.
»Meine Güte, lass dir was einfallen! Du bist ein Taghold. Irgendwie musst du sie in diesen Park holen, egal, wie du das anstellst. Wir brauchen sie.«
Habixus knisterte ratlos vor sich hin und scharrte mit der Vorderpfote eine kleine Brandlinie in die Grasnarbe. Dann schien er aufzuleuchten und sprang mit allen vieren gleichzeitig in die Luft. Das kostete ein paar Gänseblümchen das Leben, deren Stängel nun wie verkokelte Fühler aus dem Gras schauten und traurig qualmten. Zum Glück bemerkte er das nicht. Es hätte ihn nur betrübt und von seiner Aufgabe abgelenkt. Der Herr der Tagholde lächelte, so spröde, wie es mit steinsteifen Lippen eben möglich war. Er barst innerlich vor Vorfreude. Bald wären sie wieder frei! Er und all seine Tagholde, die darauf warteten, dass er sie mit seinem Ruf erlöste.
»Mir scheint, du weißt, was zu tun ist. Ich erwarte euch hier.«
Nichts anderes blieb ihm übrig, er konnte sich schließlich nicht wegbewegen. Aber es tat gut, den Schein zu wahren, dass er Herr der Lage war und nicht Habixus.
Stolz pritzelte Habixus noch einmal auf, dann rannte er mit wehenden Funken davon, hinaus durch das schmiedeeiserne Tor und zu dem kleinen Unterstand unten an der Straße, der noch leer war. Das würde sich gleich ändern, wusste Habixus. Denn genau hier hatte er vor wenigen Monaten das Mädchen entdeckt, das sich vor den Augen der anderen Menschen verbergen konnte. Wie ein Taghold.
Farandun aber wartete. Hundert Jahre Stein. Hundert Jahre Zeit, um über Rache nachzusinnen. Das war selbst für einen Taghold viel Zeit, wenn man es genau bedachte.
Lilimott wollte nur noch nach Hause. Hoffentlich kam der Bus pünktlich, damit sie wegkam von ihrer Schule und diesem Stadtteil, in dem alle zu glauben schienen, dass sie besser wären als der Rest der Welt.
Ein wenig außer Atem erreichte sie die Bushaltestelle. Die Häuser in dieser Straße waren von einer beeindruckenden Vielfalt an Mauern und Zäunen umgeben, die ihre ausladenden, akkurat gepflegten Gärten vor Eindringlingen schützten. Ein Magnolienbaum lehnte seine blätterbeschwerten Äste lässig über die Mauerkante hinter der Haltestelle, wie ein Ausbrecher, der schon mal einen Blick auf seine Fluchtroute wirft. Eine Wolke gab die Frühlingssonne frei, und ein leichter Windstoß zog den Schatten der Zweige lang, sodass es aussah, als würde er nach Lilimotts Füßen greifen. Sie schaute auf ihre Uhr. In fünf Minuten kam der Bus. Sie war zu früh.
Später würde sie behaupten, dass diese fünf Minuten schuld waren an allem, was danach passierte. Im Moment jedoch wusste sie nicht, dass hinter dem Mülleimer der Bushaltestelle ein kleines, elektrisch aufgeladenes Wesen mit einem großen Plan saß. Und dass dieser Plan schon vorher Gestalt angenommen hatte, ja, dass er schon lange vor Lilimotts Geburt Wurzeln geschlagen und seine Finger nach ihr ausgestreckt hatte. Diese fünf Minuten bedeuteten darin gar nichts.
An Schicksal, Vorhersehung oder Bestimmung glaubte Lilimott sowieso nicht, und es war fragwürdig, ob sie irgendwann damit anfangen würde. Sie vertraute Fakten und dem, was sie sah. Und das waren erstens die drei Mädchen, die jetzt auf pastellfarbenen Hollandrädern direkt auf sie zugefahren kamen, und zweitens der Busfahrplan und ihr eigenes schlechtes Timing. Wenn sie jetzt weglief, verpasste sie den Bus. Also musste sie drittens den Ärger, der da auf sie zurollte, in Kauf nehmen. Fünf Minuten Ärger! Das würde sie schon aushalten, auch wenn sie keine Übung darin hatte.
Bis zu diesem Tag jedenfalls.
Der war von der ersten Minute an nicht auf ihrer Seite gewesen.
Sie hatte auf dieser schicken Schule in Schöngefeld bisher ohne Schwierigkeiten überlebt, weil sie die erstaunliche Gabe hatte, sich unsichtbar zu machen. Nicht im eigentlichen Sinne von »unsichtbar«. Es war einfach so: Wenn sie es nicht wollte, bemerkten die Leute sie nicht. Lange war sie davon ausgegangen, dass diese Fähigkeit eine war, die alle beherrschten. Das Außergewöhnliche und damit das außergewöhnlich Praktische daran wurden ihr erst nach und nach klar. Da, wo sie wohnte, war es oft vorteilhaft, nicht den falschen Leuten aufzufallen, aber seit sie die Schule gewechselt hatte, war sie noch dankbarer für ihre Gabe.
Zum einen führte sie dazu, dass sie in sämtlichen Fächern eine Eins als mündliche Note hatte, ohne sich jemals melden zu müssen - kein Lehrer und keine Lehrerin wollte zugeben, dass er oder sie nicht wusste, welches Gesicht zu dem Namen Lilimott Förster gehörte, die so einwandfreie Klassenarbeiten ablieferte.
Zum anderen bewahrte ihre Fähigkeit Lilimott davor, gegen die Vorurteile kämpfen zu müssen, die sämtliche Schöngefelder und Schöngefelderinnen hatten, weil sie aus dem sogenannten Gebirge kam, der Hochhaussiedlung am anderen Ende der Stadt. Die war in den Schöngefelder Köpfen etwa so weit weg und lebenswert wie das australische Outback. Undenkbar, dass eine ihrer Bewohnerinnen versuchen würde, in Schöngefeld das Abitur zu machen.
Aber Lilimott war...
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