Kapitel 1
72 Stunden zuvor .
"Guten Morgen!"
Dylan zog die Nase kraus. Das einzig sichtbare Zeichen, dass er Samuels Gruß gehört hatte. Bis spät in die Nacht hatte er bei einem Notfalleinsatz helfen müssen. In einem der ärmeren Viertel von Shonnam hatten jugendliche Raubtierwandler gegeneinander gekämpft. Da Samuels Adlerwitterung die Stimmung weiter aufgeheizt hätte, war es ihm von Roy persönlich untersagt worden, bei dieser Aktion mitzuhelfen. Dementsprechend hatte er ruhelos daheim gewartet. Daheim - Brookdarn wurde mit jedem Tag mehr zu seinem Zuhause und das Rudel war seine Familie, die er nicht mehr missen wollte. Tyrell, sein jüngerer Halbbruder, hatte sein Bestes gegeben, um ihn abzulenken. Auch der ewig schweigsame Joe, der Computerfreak Marc, Ron und die Brüder Aaron und Cory hatte das ihre dazu beigetragen, dass Samuel nicht doch vor lauter Sorgen losflog, um seinem Gefährten zu helfen. Das wäre sowieso nicht gut gegangen, nachts war er schließlich kaum flugfähig.
Robin hatte die Unruhe in seinem Zimmer ausgesessen. Ihr rudeleigenes Genie hatte vor drei Wochen zugesagt, bei einem internationalen Projekt zur Erforschung der Ursachen und Auswirkungen der Wandlergenetik teilzunehmen. Dazu hätte er eigentlich für mindestens sechs Monate nach England gehen müssen, was für ihn vollkommen ausgeschlossen war. Da man auf sein Genie nicht verzichten wollte, durfte er von zu Hause aus arbeiten, ausgestattet mit jeder erdenklichen Technik und mit sämtlichen Kollegen vernetzt, die ebenfalls an dem Projekt beteiligt waren. Er kam oft nur stundenweise aus seinem Zimmer heraus, mischte sich dann allerdings mit offenkundigem Bedürfnis nach Nähe unter sie. Der Einzige, der in ihrer trauten Runde fehlte, war Daniel. Dylans ältester Freund, der aufgrund einer unverschuldeten Sucht nach der Horrordroge Invisible Shadow durch die Hölle gegangen war, hatte sich bei Dylans und Samuels letzten großen Ermittlungsfall verliebt. Eva, eine Mordermittlerin aus New York, war nach außen eher hart als herzlich und ganz bestimmt keine liebliche Elfe. Doch sie besaß ein großes Herz, war eine exzellente Ermittlerin und hatte sich ebenso in Daniel verliebt, wie es umgekehrt der Fall war. Irgendwie war sie dabei ungewollt schwanger geworden, darum hatte Daniel vor drei Wochen alles stehen und liegen lassen und war zu ihr geeilt. Er meldete sich sporadisch mit Kurznachrichten, dass es ihm und Eva gut ging. Wie es mit den beiden beziehungsweise den dreien zukünftig weitergehen sollte, stand noch in den Sternen. Eine weitere Sorge, die Samuel umtrieb.
Zum Glück war sein Liebster um zwei Uhr morgens heil und unversehrt zurückgekehrt. Es hatte Dutzende Verletzte unter den Jugendlichen wie auch Einsatzkräften gegeben. Ein sechzehnjähriger Kojotenwandler war gestorben, weitere Opfer schwebten noch in Lebensgefahr. Samuel begriff durchaus, dass die explosiven Naturen der Raubtierwandler, gepaart mit Arbeits- und Perspektivlosigkeit solche Vorfälle prädestinierten. Gänzlich nachvollziehen würde er es als Vogelwandler wohl nie können. Dem Himmel sei Dank war das auch nicht notwendig; er war einfach froh, dass weder Dylan noch einem Mitglied des Teams etwas zugestoßen war. Sein Liebster hatte lange gebraucht, um einschlafen zu können. Dementsprechend erschöpft war er jetzt, als Samuel versuchte, ihn mit Kaffee und Frühstück zurück ins Leben zu locken.
"Es ist bereits 10.23 Uhr. Die perfekte Uhrzeit, um aufzustehen und die Sonne zu begrüßen." Samuel setzte sich rittlings auf Dylans Bauch. Der trug lediglich ein mattes Lächeln, weil er zu müde gewesen war, seine Schlafshorts zu suchen. Normalerweise würde er jetzt zupacken, um auch Samuel von seinem Übermaß an Stoff zu befreien. Diesmal grunzte er lediglich unwillig.
"Hmpf. Komm in zwei Stunden wieder. Oder nächstes Jahr."
"Du musst zur Mittagsstunde auf der Arbeit erscheinen, frei haben sie dir nicht gegeben. Erinnerst du dich? Du warst heute Nacht ein wenig ungehalten deswegen."
"Du quatschst zu viel." Dylan versuchte, ihn von sich herab zu hebeln. Doch Samuel war als Adler ein wenig kompakter und schwerer gebaut als der gertenschlanke, wenn auch muskulöse Gepard unter ihm.
"Nun komm endlich, du Schlafmütze. Rick hat mich bereits angebrüllt, wo wir bleiben, der ist längst munter und quält sich durch die Berichte." Rick brüllte grundsätzlich am Telefon, es war ein durchaus freundliches Gespräch gewesen. Dylan schnaufte bloß, legte sich einen Arm über das Gesicht und schien bereit, einfach wieder einzuschlafen.
"Also, mein Lieber, so geht das nicht. Augen auf und fröhlich sein, der Tag ist schon halb rum!" Mit voller Absicht rieb Samuel mit dem Hintern über die Morgenlatte seines Liebsten. Wenn auch das nicht helfen sollte, würde er sich geschlagen geben und ihm noch eine zusätzliche Stunde Schlaf gönnen. Aber diese Überlegung erwies sich als unnötig. Dylan verzerrte das Gesicht, ein sinnliches Seufzen drang über seine Lippen.
"Willst du nicht eventuell doch wach werden, mein Lieber?", fragte Samuel neckend und intensivierte den Druck noch ein wenig.
"Das ist . unfair", brachte Dylan mühsam hervor und umfasste ihn hart an der Hüfte.
"Ich hätte Gleitgel für dich. Und Kaffee für danach. Meiner Meinung nach ist das überhaupt nicht unfair. Im Gegenteil, manch sagenumwobener Märchenprinz hätte sich gewünscht, jeden Morgen auf diese Weise geweckt zu werden."
"Sag mal, hast du Quasselwasser verschluckt?" Dylan ließ den Arm sinken und starrte ihn vorwurfsvoll an, was schwierig für ihn sein musste, da Samuel ihm mittlerweile mit der Hand die Erektion bearbeitete. "Wo ist . Himmelnochmal! . die vogelwandlerische Schweigsamkeit hin. hingeflogen? Und wie bekomme ich sie . HerrgottSam! . wieder zurück?"
Statt einer Antwort reckte Samuel lächelnd die Tube mit dem Gleitgel in die Höhe. Sofort wurde jeglicher Vorwurf in den blauen Augen von funkelnder Gier ersetzt. Und als sie kaum zwei Minuten später im Gleichtakt miteinander verschmolzen den ewigen Rhythmus aufnahmen, bekamen sie beide, was sie wollten: Dylan war endlich wach und Samuel hielt brav den Mund . Außer, um gelegentlich leise zu stöhnen.
Nach gemeinsamem Frühstück und Dusche schauten sie kurz bei Robin vorbei. Der Kleine würde bis zum frühen Nachmittag allein im Haus bleiben. Das behagte Robin nicht allzu sehr, da Angriffe von umherziehenden, heimatlosen Wandlerrudeln durchaus möglich waren. Die Wahrscheinlichkeit dafür lag allerdings niedrig genug, dass er bereit war, das Risiko einzugehen. Er wirkte stets schreckhaft und zerbrechlich, deutlich jünger als er war und viel zu schwach und anfällig für ein jugendliches Raubtier. Auch wenn er als Falbkatze nicht einmal mit Geparden, geschweige denn größeren Wandlerrassen körperlich mithalten konnte, müsste er sich eigentlich nicht fürchten. Falbkatzen waren keineswegs schwach und normalerweise mit extrem viel Selbstbewusstsein gesegnet. Doch Robins gewalttätiger Stiefvater und eine Kindheit unter wandlerphoben Nichtwandlern hatten ihre Spuren hinterlassen. Dennoch war er widerstandsfähiger, als er wirkte. Das hatte er bewiesen, als er vor kurzem gemeinsam mit Sam in die Hände von Kriminellen gefallen und gefoltert worden war.
"Wie geht es voran?", fragte Sam und klopfte dem Jungen freundlich auf den Rücken.
"Erstaunlich gut." Robin rief eine Weltkarte auf einem der Bildschirme zu seiner Linken auf, und ein Diagramm auf einem der anderen Monitore zu seiner Rechten. "Mit meiner ursprünglichen Aufgabe bin ich bereits fertig - meine These, dass alle Vorfahren der registrierten Wandler dieser Welt zur Stunde Null im Umkreis von fünfzig Meilen an den Meeresküsten gelebt haben, habe ich bewiesen. Bei zweiundneunzig Prozent derjenigen, die zur zweiten Generation nach der Stunde Null gehörten, nicht als Wandler registriert wurden, aber auch keine offiziellen Sterbedaten besitzen, demzufolge wahrscheinlich als Wandler untergetaucht waren, konnte ich nachweisen, dass sie zumindest während Kindheit und Jugend in Meeresnähe gewohnt haben. Diejenigen, die sofort gestorben sind, lebten in oder nahe einer Wüste, und das seit mindestens einer Generation. Bei 97,86 % der nachweisbaren Todesfälle innerhalb der ersten drei Wochen nach der Katastrophe handelte es sich um Auswanderer, die weniger als fünf Jahre fern ihrer wüstenähnlichen oder extrem trockenen Geburtsorte gelebt haben."
"Und das hast du in solch kurzer Zeit ausgewertet? Jeden einzelnen registrierten Wandler dieser Welt?" Sam runzelte die Stirn, während Robin bloß mit den Schultern zuckte.
"Dafür habe ich eine Handvoll Algorithmen entwickelt, vollen Zugang zu sämtlichen Einwohnerdaten weltweit habe ich durch meine Freigabe für dieses Projekt."
Was auf zwei Ebenen beeindruckend war - wie lapidar Robin Algorithmen schreiben konnte und wie weitreichend die Rechte sein musste, die er erhalten hatte. Das war Dylan bislang auch noch nicht klar gewesen.
"Wofür stehen die gelben Balken in deinem Diagramm?", fragte Sam. Er war stets bereit, Robins kompliziertes Gerede zu unterstützen. Nie sprach der Junge freier als in den Momenten, wo es um seine Thesen und Forschungen ging.
"Das sind Entwicklungsraten der ersten Spontanmutation. Ich versuche zu ergründen, wo das Phänomen der Wandlungsfähigkeit als erstes und mit größter Häufung aufgetreten ist. Diesen Ansatz verfolge ich mit mehreren Kollegen. Im Moment liegen einige...