Kapitel 1
Hämmernde Beats umfingen ihn. Sie ließen seine Nerven vibrieren und beschleunigten den Puls. Es war so laut, dass er sich selbst nicht mehr denken hören konnte. Zweifellos der Grund, warum Dylan ihn hierher bestellt hatte.
Samuel pflügte sich einen Weg durch die Menschenmassen. Der Boister Club war recht neu und gehörte zu gleichen Teilen dem Felidae-Clan und der Aquila-Familie. Dementsprechend lag er genau auf der Grenze der beiden Territorien; es war der erste und einzige Club dieser Art. Für Samuel, der ein Steinadlerwandler war, wäre es lebensgefährlich, sich ohne Begleitschutz in das Gebiet der Katzenwandler zu begeben. Allerdings standen andere neutrale Treffpunkte zur Verfügung, die er bevorzugt hätte. Die Mordermittlung der Raubkatzen hatte ihn um Hilfe gebeten, Dylan sollte sein Kontaktmann sein. Der Gepardenwandler war ein erfahrener Mann, der auch unkonventionelle Methoden nutzte, sofern sie erfolgsversprechend waren. Samuel hatte von rätselhaften Mordfällen gehört, die verschiedene Raubtiergruppen betrafen - nicht ausschließlich Katzenartige. Die Ermittler tappten offenbar seit Monaten im Dunklen und hatten sich nun an ihn gewandt, um eine neue Perspektive zu gewinnen. Durchaus auch im wörtlichen Sinne - aus der Luft sah ein Tatort oft vollkommen anders aus.
Samuel umkreiste die Bar, die sich mitten auf der Tanzfläche befand, nun bereits zum vierten Mal. Leider hatte man ihm kein Foto von Dylan geschickt. Seine Vorgesetzten hatten ihn mehr oder weniger gezwungen, in diesem Fall zu kooperieren, er hatte sich nicht vorbereiten können. Vermutlich würde er wie ein blutiger Anfänger dastehen, da er nicht einmal irgendwelche Details über die Morde kannte. Nicht auszuschließen, dass dies die Absicht der Raubkatzen gewesen war, um den blöden Piepmatz ans hintere Ende der Hierarchiekette zu verweisen. Der Hass zwischen ihren Völkern ging tief .
Dieser Club war eine irreale Welt, die nichts mit der Wirklichkeit da draußen zu tun hatte. Die jungen Leute, die hier feierten, verhielten sich zumeist friedlich und unterschieden nicht zwischen den Rassen. Doch kein Vogelwandler durfte ohne ausdrückliche Genehmigung durch die strengstens bewachte Tür schreiten, die zur Welt der Katzen und anderen Säugetiere führte, und umgekehrt. Wer ein Sexabenteuer mit einer der anderen Rassen suchte, musste das im Club erledigen - zumeist auf den Toiletten. Der Zweck dieser Angelegenheit mochte den Planern einleuchten, Samuel jedenfalls nicht.
Wie er dieses Geschiebe und Gedränge von Körpern hasste! Samuel war bereits dutzende Male von oben bis unten betatscht worden, anzügliche Blicke und Hände auf seinem Hintern und zwischen den Beinen gehörten offenbar zur Normalität. Kein Wunder, dass die Katzenwandler die Tanzfläche beinahe komplett für sich hatten, die meisten von denen kannten keine Partnertreue und waren rund um die Uhr bereit für sexuelle Ausschweifungen. Ein Verhalten, das vielen Vögeln fremd war. Die Aquilas, die Familie der Adler, lebten strikt monogam.
Allmählich verlor Samuel die Geduld. Noch eine Minute, dann würde er nach Hause fliegen. Wenn die Katzen seine Hilfe wollten, sollten sie gefälligst zu ihm kommen!
Gereizt drehte er sich um, als er am Arm festgehalten wurde, er hatte es satt, wie Freiwild behandelt zu werden. Als er allerdings in dunkelblaue Augen blickte, vergaß er seinen Unmut und erstarrte unwillkürlich. Bei all den bernsteinfarbenen Iriden um ihn herum verwirrte ihn das tiefe Blau. Es gab immer wieder mal Katzenwandler, die dergestalt aus der Art schlugen, ungewöhnlich war es dennoch. Der Mann, der viel zu dicht vor ihm stand, war in etwa so groß wie er selbst - geschmeichelt mittelgroß - und besaß den Körper eines Tänzers. Ausgesprochen schlank und sehnig, kein Gramm Fett am Leib. Leopardenwandler waren für gewöhnlich etwas muskulöser und hatten kantigere Gesichter. Auch ihre Haare waren zumeist von einem dunkleren Blond als sein Gegenüber, dessen streng nach hinten gebundener Zopf einen angenehmen Sandton besaß. Ganz offensichtlich ein Gepard. Samuel hatte einen scharfen Blick für die feinen Details und erkannte für gewöhnlich sofort, welcher Wandlerrasse ein Mensch angehörte.
"Dylan?", fragte er vorsichtshalber, auch wenn er nicht zweifelte, dass dies sein Kontaktmann sein musste. Er erntete ein knappes Nicken, losgelassen wurde er nicht. Dylan musterte ihn für mindestens eine weitere Minute ebenso intensiv wie er ihn zuvor, was Samuel sich trotz steigenden Unbehagens gefallen lassen musste. Der Gepard stand eng an ihn gepresst, für ihn als Adler war das kaum erträglich. Um sich keine Blöße zu geben, unterdrückte Samuel das Bedürfnis, sich loszureißen. Er war etwas erstaunt, dass sein Kollege zwischen Ende zwanzig und Anfang dreißig zu sein schien, so wie er selbst - er hatte mit einem weitaus älteren Mann gerechnet.
Irgendwann gab Dylan ihn frei, lächelte ein wenig spöttisch und bedeutete mit einer Kopfbewegung, ihm zu folgen. Ohne sich darum zu scheren, ob Samuel ihm tatsächlich nachlief, bahnte er sich mit der kraftvollen Anmut, die für Geparde typisch war, seinen Weg durch die tanzende Menge.
Arroganter Bastard!, dachte Samuel missmutig. Die behandelten ihn, als wäre er der Bittsteller, der gnädigerweise in diesem Territorium geduldet wurde. Er wurde zur Straße geführt, in das Gebiet der Säugetiere hinein. Ein Trupp schwerbewaffneter Löwen- und Bärenwandler prüften die Genehmigung, die Dylan vorzeigte, suchten ihn mit mehr Gewalt als notwendig auf Waffen ab - er durfte außerhalb des Vogelwandlergebietes keine Dienstpistole tragen - und ließen ihn schließlich mit großzügiger Geste passieren.
Am liebsten wäre er sofort umgedreht und nach Hause geflogen, er hatte schon jetzt die Nase voll! Da er allerdings schon einmal da war, konnte er sich zumindest anhören, was man genau von ihm erwartete.
"Ihr habt die alten Häuser behalten?", fragte er überrascht, als sie den Parkplatz erreichten, der sich am äußeren Ende des Hügels befand, auf dem der Boister Club errichtet wurde. Unter ihm breitete sich eine hell erleuchtete Stadt aus, soweit das Auge reichte. Zumindest in der Dunkelheit, seine Nachtsicht war eher eingeschränkt. Es sah genauso aus, wie er es von alten Bildern her kannte, aus der Zeit, bevor es Wandler gegeben hatte.
"Soweit ich weiß, lebt ihr nicht in Horsten und Nestern, sondern in normalen Häusern, oder?", fragte Dylan mit spöttischem Unterton.
"In unserem Gebiet gibt es keine Städte mehr, wir leben ausschließlich in kleinen Familiengruppen zusammen."
"Das trifft auf die meisten von uns ebenfalls zu, Shonnam ist die einzige Großstadt auf unserer Seite. Nun komm, da vorne ist mein Wagen."
"Steig ein", befahl Dylan und hielt dem Steinadler höflich die Tür auf. Sam warf ihm einen finsteren Blick zu, setzte sich allerdings ohne zu zögern auf den Beifahrersitz des Geländewagens. Der Mann überraschte ihn - Dylan hatte sich auf einen wenigstens zwanzig Jahre älteren Ermittler eingestellt, nachdem ihnen ein erfahrener Kollege versprochen worden war. Sam wirkte, als hätte er gerade erst die Ausbildung abgeschlossen. Ihm gefiel der athletisch gebaute, breitschultrige Adlerwandler. Die scharf geschnittenen Gesichtszüge, die stolze Nase, das dichte dunkelbraune Haar, das im Nacken jene für Steinadler typischen goldbraunen Strähnen besaß. Selbst der Geruch des jungen Mannes gefiel ihm, was ihm bei Vogelwandlern normalerweise nie unterkam. Er beschloss, freundlich zu ihm zu sein statt lediglich professionell höflich. Wenn sie gut miteinander auskamen, würde das ihrer Zusammenarbeit helfen und vielleicht dazu beitragen, dass sie den Täter zu fassen bekamen, der seit Monaten willkürliche Morde beging. In der Bevölkerung nannte man ihn den Rainman-Killer, da er grundsätzlich bei starkem Regen zuschlug. Dies vernichtete alle Spuren und trieb ihn und sein Ermittlerteam in den Wahnsinn. Niemals sonst hätte er zugestimmt, sich Hilfe von außerhalb der Säugetiergruppen zu holen!
"Ich fahre dich zum Hauptquartier, dort wirst du alles erfahren, was du wissen musst", sagte er, während er sich durch den dichten Verkehr schlängelte.
"Muss oder darf?", erwiderte Sam betont. Seine Stimme besaß einen angenehmen tiefen Klang, der Dylan beinah zum Schnurren gebracht hätte. Hoppla, der Typ ging ihm unter die Haut!
"Beides. Du musst die wichtigsten Fakten kennen, unsere finsteren Geheimnisse werden wir natürlich nicht enthüllen."
Über das entnervte Augenrollen des Adlers hätte er beinahe gelacht, er konnte sich gerade noch zusammenreißen. Der Kleine hatte ja Recht, es gab keine echten Geheimnisse auszuspionieren, weder finster noch sonstige. Den Verfolgungswahn der Obrigkeit teilte er jedenfalls nicht. Wozu auch, wenn ihm solch ein Leckerchen geschickt wurde?
"Entspann dich. Dass du im Feindgebiet gelandet bist bedeutet nicht, dass du steif wie ein Brett dahocken musst", sagte er anzüglich und klopfte Sam auf den Oberschenkel. Ein unwilliger Katzenwandler hätte ihn dafür angefaucht, der Adler hingegen starrte ihn lediglich vorwurfsvoll an. "Keine Angst, niemand wird dich auffressen, solange du an meiner Seite bleibst."
"Und was, wenn ein Löwenrudel sich darauf besinnt, dass ein Gepard einen jämmerlichen Begleitschutz abgibt?", fragte Sam provozierend.
"Autsch. Dann heißt es Mahlzeit!" Dylan lachte, es war allgemein bekannt, dass Wandler sich untereinander nicht auffraßen und alle gezwungenermaßen zum größten Teil vegetarisch lebten.
Völlig unbegründet war die Frage trotzdem nicht. Geparde waren zwar schnell, aber im Vergleich zu anderen Katzen schwach....