Schweitzer Fachinformationen
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»Geben Sie die Straße frei! Sofort!«
»Gerne. Lassen Sie mich einfach weiterfahren!«
Der Sicherheitsmann in schwarzer Uniform trat einen Schritt zurück und brabbelte hektisch auf sein Handgelenk ein. Während er abwechselnd lauschte und sprach, spannte sich sein Körper sichtlich an. Mike kam es vor, als nehme der Bursche innerlich Haltung an. Mimik und Gestik verkündeten: Jawoll! Sí, commandante! Ein betont grimmig dreinblickender Kollege des Schwarzmanns blockierte derweil mit seiner schieren Körpermasse die enge Zufahrt zum Wanderparkplatz.
Also war tatsächlich wohl etwas dran gewesen an diesem Tipp. Mike war froh, auf den Anrufer gehört zu haben. Zunächst hatte er den jungen Mann - jedenfalls klang seine Stimme jugendlich - für einen Spinner gehalten oder, eher noch, für einen Jugendlichen, der Schabernack trieb, sich einen Spaß davon versprach, einen Reporter in den Wald zu schicken, im Sinne des Wortes.
»Bitte legen Sie nicht auf!« Die Dringlichkeit, die Ernsthaftigkeit in der Stimme des jungen Mannes hatten bewirkt, dass Mike ihm zuhörte und jetzt sogar tat, wozu der Anrufer ihn aufgefordert hatte: »Seien Sie morgen Nachmittag in Las Raíces. Bitte! Sie kennen doch sicher das Faschisten-Monument da im Wald. Bringen Sie eine Kamera mit oder jedenfalls Ihr Handy. Und lassen Sie sich besser nicht als Journalist erkennen. Ich garantiere Ihnen: Sie werden staunen. Es wird sich lohnen. Seien Sie rechtzeitig da, spätestens um fünf. Besser, Sie fahren früher hin und geben sich als Wanderer aus!«
»Warum sollte ich das tun? Wer sind Sie überhaupt? Und woher haben Sie meine Handynummer?«, hatte Mike den Anrufer gefragt.
Weder er noch der junge Mann hatten aufgelegt - beziehungsweise die Verbindung unterbrochen; in vordigitalen Zeiten nannte man das »auflegen«, und Mike benutzte diese Vokabel immer noch, aus schierer und lieber Gewohnheit. Ob der Anrufer gewusst hätte, was mit »auflegen« gemeint war? So ein Unsinn fegte Mike durch den Kopf, während er erwartete, der Anrufer werde das Gespräch nun zügig beenden. Doch das tat er nicht, sondern fragte zurück: »Sie sind doch Michael Dorenbeck? Der Journalist aus Hamburg? Der jetzt hier auf Teneriffa für die Inselzeitung schreibt?«
In die Pause hinein hörte Mike sich sagen: »Ja.«
»Na bitte. Woher wir Ihre Handynummer haben, tut jetzt nichts zur Sache, aber dass wir sie haben, sollte Ihnen zeigen: Wir wissen, wer Sie sind und was Sie können. Wir liefern Ihnen eine Exklusivstory. Im Wald bei Las Raíces liefern wir Ihnen morgen eine Story, wie sie in Ihrem Touristenblättchen noch nie gestanden hat. Versprochen!« Der Anrufer versuchte, seiner Stimme einen sehr bestimmten, autoritativen Klang zu geben, was ein wenig aufgesetzt wirkte. Mike spürte, wie aufgeregt der junge Mann in Wirklichkeit war.
»Wieso ich?«, wollte er wissen.
Darauf fiel dem Anrufer keine schnelle Antwort ein. Er schien sich erst mit jemandem zu beraten. Dann, und seine Stimme hatte jetzt einen fast bittenden Klang angenommen: »Wir kennen einfach keinen anderen ernsthaften Journalisten mit Kontakten zur internationalen Presse hier auf der Insel, keinen, der Deutsch spricht. Wir brauchen Sie als Zeugen. Bitte!«
»Wir? Wer ist: Wir?«
»Haben Sie schon mal was von Darkwatch gehört? Wir sind Darkwatch. Und Sie wissen doch, was morgen für ein Tag ist?«
»Der 17. Juli. Ja, und?«
»Das sagt Ihnen nichts? Doch, bestimmt sagt Ihnen das was. Sie leben doch schon eine Weile hier in Spanien, Herr Dorenbeck. Dann wissen Sie doch sicher, was nach dem 17. Juli 1936 passiert ist! In Spanien. Na, klingelt's?«
Ja, es hatte geklingelt. Außerdem hatte ein schneller Blick ins Internet bestätigt, nach dem Telefonat: Darkwatch gab es tatsächlich.
Das war, sprach Das Netz, eine linke - oder linksradikale? - Gruppe von meist deutschen Aktivisten, die völkische Organisationen beobachteten und deren Treffen störten. Vor allem während sogenannter Montagsdemos sogenannter »besorgter Bürger« war die Gruppe in Erscheinung getreten. Mit Zwischenrufen wie »Nazis, haut ab!« Oder indem sie auf Internetseiten, wo sonst die angebliche »Überfremdung« Deutschlands durch muslimische Einwanderer beklagt und der bevorstehende Untergang des christlichen Abendlandes beschworen wurde, Hitler-Zitate platzierten, die ganz ähnlich klangen wie die Sprüche der Redner, die bei solchen Demos auftraten, nur drastischer. Gern stellten sie auch Fotos zerstörter Städte aus dem Zweiten Weltkrieg dazu, Fotos ausgemergelter KZ-Opfer, erhängter Nazi-Gegner, halbverwester Soldatenleichen.
Mike war beeindruckt. Wenn der Anrufer, der seinen Namen partout nicht nennen wollte, tatsächlich einer von denen war, sollte Mike wirklich mal einen Ausflug in die Berge unternehmen.
Vielleicht könnte er sogar Emma überreden mitzukommen. Und wenn das Ganze doch eine Ente sein sollte, könnten sie zu zweit immer noch einfach wandern gehen. Zu zweit, im Wald allein.
Leider hatte Emma keine Zeit. Hatte sie zumindest behauptet. Sie müsse dringend einen Krimi von Agatha Christie zu Ende lesen, weil sie am nächsten Tag zu einem Telefoninterview mit einer Kennerin der berühmten Kriminalschriftstellerin verabredet sei. Da wolle sie nicht völlig ahnungslos sein.
»Die Agatha-Christie-Biographie muss ich auch noch lesen. Nee, geh du mal alleine Pilze suchen im Wald! Aber pass auf dich auf, denn du weißt doch: Im Wald, da sind die Ro-häu-häui-ber.« Emma zog das letzte Wort melodisch in die Länge.
Mike bildete sich ein, eine Anzüglichkeit herauszuhören. Ihm fiel auf: Er hatte Emma noch nie singen gehört. Sowas! Und ja: Ihm gefiel ihre Stimme, wenn sie sang. Ihm gefiel nicht nur ihre Stimme. Sie sollte öfter für ihn singen. Und überhaupt. Aber all das sagte er ihr nicht. Er hatte ihr so manches nicht gesagt, nie. Worüber er sich im nächsten Moment ein klein wenig ärgerte - ohne so recht zu wissen, warum. Aber da hatten beide ihr kurzes Telefonat auch schon wieder beendet und ihre Handies weggesteckt.
Bei Las Raíces lag nicht irgendein Wanderparkplatz, das wusste er. Der hohe, lichte Kiefernwald dort, nur ein paar Kilometer hinter Teneriffas Nordflughafen den Berg hinauf Richtung Teidegipfel, lud zum Wandern und Picknicken ein, und das taten viele Menschen auch, vor allem an Wochenenden. Doch bekannt geworden und geblieben, jedenfalls unter älteren Tinerfeños, war Las Raíces aus einem anderen Grund. Bei der Erwähnung des 17. Juli »klingelte« es tatsächlich in Michael Dorenbecks Gedächtnis. Jeder, der nur ein bisschen mit Spaniens Geschichte vertraut war, dem sagte dieses Datum etwas:
Am 17. Juli 1936 hatte ein General der spanischen Armee, genauer General Francisco Paulino Hermenegildo Teódulo Franco Salgado y Bahamonde Pardo, Capitán General de Canarias, hier im Wald auf Teneriffa Mitverschwörer um sich versammelt, um am nächsten Tag zu einem Putsch gegen Spaniens demokratisch gewählte Regierung aufzubrechen. Die Regierung der spanischen Republik hatte den General auf die vom Festland weit entfernten kanarischen Inseln zwangsversetzt. Man hatte geglaubt, ihn da ruhigzustellen. Ein schwerer Irrtum. In den Folgejahren sollte Spanien erst in einem blutigen Bürgerkrieg versinken, dann unter einer drückenden Diktatur jahrzehntelang verdorren.
Anders als die Nazizeit in Deutschland endete Francos Regime nicht 1945, sondern erst drei Jahrzehnte später, 1975, mit dem Tod des bis dahin längst »allergrößten Generals«. Dem im wirklichen Leben nur 1,63 Meter großen Diktator wurden überall in Spanien Denkmäler, Straßen und Plätze gewidmet. Der 18. Juli wurde zum Beginn eines ehrenvollen und schließlich erfolgreichen Kreuzzugs gegen die Kräfte des Bösen verklärt; gegen Kommunisten, Sozialisten, Anarchisten, gegen Atheisten, Journalisten und sonstige »Volksfeinde«.
Zum Glück war das jetzt, im 21. Jahrhundert, alles längst Vergangenheit und weithin vergessen. Fast.
Mitten im Esperanza-Wald auf Teneriffa, allerdings gut verborgen zwischen hochgewachsenen Kiefern, stand zur Erinnerung an das Treffen vom 17. Juli 1936 ein gewaltiges steinernes Monument. Während der Diktatur fanden hier häufig Erinnerungstreffen »alter Kameraden« statt. In der Nach-Franco-Zeit verfiel der Ort in einen Dämmerschlaf. Erst 33 Jahre nach dem Tod des Diktators beschloss die Inselregierung, nach erbitterten Diskussionen, das Monument abzureißen. Es dauerte weitere sieben Jahre, bis tatsächlich Bagger anrollten und den Obelisken stürzten. Statt das Monument völlig zu entfernen, blieb eine Art Waldbühne erhalten.
Das alles wusste Mike. In den spanischen Zeitungen war das zuletzt immer mal wieder ein großes Thema gewesen....
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