Schweitzer Fachinformationen
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Flavia hielt die fertige Skizze ihrer nächsten Glasskulptur ein Stück von sich weg, betrachtete sie mit schief gelegtem Kopf und entschied, dass zehn Flossen für ein Meeresungetüm selbst bei ihrer Fantasie ein paar zu viele waren. Wenn dieses Geschöpf schon die Macht besaß, sie ins Gefängnis zu bringen, nachdem es in seiner vollendeten Form aus dem Kühlofen gekommen war, dann sollte es wenigstens auch beeindrucken und nicht ausgelacht werden.
Den ganzen Morgen schon saß sie in ihrem Arbeitsraum und zeichnete, um sich von ihren eigentlichen Pflichten abzulenken.
Es war ein jetzt in den Wintermonaten zugiger, vom Rest der Glaswerkstatt abgetrennter Anbau, den ihr Vater dem Hinterhof abgetrotzt hatte, nachdem in Flavias Gegenwart seiner Meinung nach zu oft unbedachte Sprüche seitens der Garzonetti gefallen waren. Seine Arbeiter wollten, nur weil eine Frau anwesend war, die angewidert das Gesicht verzog, nicht darauf verzichten, von ihren nächtlichen Eroberungen zu berichten. Dem Argument, dass dies nun einmal ihre Domäne war und unter Kerlen ein derber Ton herrschte, konnte Flavias Vater nichts Sinnvolles entgegensetzen, also hatte er kapituliert und seine Tochter beklommen darum gebeten, sich zwischen Putz und einer nackten Ziegelwand zu entscheiden.
Zuerst hatte sie aufbegehrt und mit den Männern Streit gesucht, nicht bereit, sich aus der Werkhalle vertreiben zu lassen, doch nach der Ermahnung ihres Vaters, sie könnten froh sein, dass überhaupt noch jemand für sie arbeiten wolle, war sie zur Vernunft gekommen und hatte sich sogar auf die kleine Baumaßnahme gefreut. In ihrer Begeisterung hatte sie Marmorino ausgewählt, jenen glänzenden Verputz aus Kalk und Marmorpulver, mit dem schon die prächtigen Palastfassaden am Canal Grande bearbeitet worden waren. Ein paar Tage später, als sie die Schmuckstücke ihrer Mutter, grob in einen Beutel gestopft, auf dem Bürotisch gesehen hatte, war ihr die Bedeutung dieses unüberlegt geäußerten Wunsches mit Übelkeit erregender Heftigkeit klar geworden - und so hatte sie ihrem Vater versichert, dass sie Marmorino doch zu altmodisch fände und sie auf simplen Kalkputz umsteigen sollten.
Der Verzicht schmerzte immer noch, jedoch auf die gute Weise, wie ein lahmer Arm, nachdem man die ganze Nacht die canna geschwungen hatte. Und in der Abgeschiedenheit ihres eigenen kleinen Arbeitsraumes konnte sie sich immerhin der Inspiration hingeben und voll und ganz dem nachgehen, wofür sie wirklich entflammt war: der Glasbläserei.
Inzwischen füllte sie aus eigenem Antrieb die Lücke, die ihre Schwester Orietta mit ihrer aus der Not geborenen Flucht aus Venedig im Familienbetrieb hinterlassen hatte. Und was zunächst aus reiner Hilflosigkeit und einem Schuss Pflichtbewusstsein erwachsen war, entwickelte sich nun mehr und mehr zu Flavias eigenem Herzenswunsch. Leider waren damit nicht alle einverstanden.
Selbst ein Jahr, nachdem sie sich der Geschäfte angenommen hatte, wurde sie bei einem korrigierenden Griff um eine Glaspfeife immer noch irritiert von den Garzonetti angestarrt. Oder wenn sie anstelle ihres Vaters zur Lösung eines Problems herbeieilte. Davor hatte ihre größte Herausforderung darin bestanden, Nonnas selbst gebackenen Kuchen beim Wohltätigkeitsbasar glaubhaft als ihren eigenen auszugeben - so gering waren die Erwartungen, die an sie gestellt wurden. Nun wollte sie den Familienbetrieb wieder auf Kurs bringen. Auch wenn das bedeutete, sich immer öfter zwischen der Verantwortung einer Geschäftsführerin und den Pflichten einer wohlerzogenen jungen Dame aufzureiben.
Ergeben machte sie sich im Büro ihres Vaters an die Arbeit.
Ein Klopfen an der Tür kündigte Enzo an, der sie ohne Umschweife auf eine Unstimmigkeit in seiner Gehaltsabrechnung aufmerksam machte. Als Cousin ihres Vaters war er einer ihrer betriebsältesten Glasfacharbeiter und hatte die Familie entgegen einigen anderen nicht fallen lassen, nur um bei der absatzstärkeren Konkurrenz, den Dal Corsos, anzufangen.
»Unstimmigkeiten? Verstanden. Ich kümmere mich darum«, sagte sie und bedeckte mit dem Unterarm beiläufig ihre Skizze. Ihr Lächeln sollte Enzo eigentlich sanft wieder hinausbegleiten, doch er blieb im Türrahmen stehen. Da begriff sie. »Oh, du meinst jetzt? Natürlich, sicher!« Planlos begann sie in den Schreibtischschubladen nach der Liste mit den Überstunden zu suchen. Dabei spürte sie Enzos ungeduldigen Blick auf sich und hörte das Scharren seiner Füße.
»Mein Fehler. Ich hätte dich vorwarnen sollen«, sagte er schließlich, nachdem er sie fünf Minuten hatte herumkramen lassen. »Aber ich dachte, das wäre im Handumdrehen geklärt.«
Ja, als ihre Schwester noch die Büroarbeiten erledigt hatte, wurde jedes Problem auf der Stelle geklärt. Der Vergleich schien ihm, wie allen Mitarbeitern, seit Orietta fortgegangen war, auf der Zunge zu liegen, sobald Flavia sich den geringsten Fehler erlaubte. Doch er besaß genug Taktgefühl, es in all der Hektik, die sie verbreitete, nicht auszusprechen.
Immer noch an derselben Stelle im Türrahmen wartend, zuckten seine Finger nun ungeduldig auf dem Türknauf. Einen Fuß im Zimmer, den anderen schon wieder draußen, schien er allmählich zu bereuen, sie überhaupt behelligt zu haben. »Weißt du was? Ich gehe in die Mittagspause und bespreche das später mit deinem Vater. Du hast mit deiner anderen Aufgabe schon genug zu tun.«
»Nein, warte! Ich bin mir sicher, dass ich die Stunden hier abgeheftet habe. Einen Moment noch, ja?« Flavia machte eine flehende Geste mit den Händen und blinzelte sich die verirrten Fransen aus den Augen, die außerhalb des Hauses normalerweise in blonde Löckchen gelegt waren und ihre Stirn rahmten wie eine Spitzengardine, sich nun allerdings ohne die gewohnte Sprungkraft schlaff in ihren Wimpern verfingen. Zwischen Frühstück und Arbeitsbeginn fehlte ihr die Zeit, sich ausgiebig zu frisieren, seit sie beschlossen hatte, jeden Tag diejenige zu sein, die in aller Frühe das Eisenschloss der Glaswerkstatt, der Fornace Volpato, entriegelte, während drüben im Glaswarenladen der Familie, der Vetreria Volpato, der Betrieb erst gegen zehn aufgenommen wurde. Nach dem Feierabend legte sie für gewöhnlich eine kurze Pause ein, und wenn sie zurückkehrte, hatte der lärmende Touristenschwarm schon längst das letzte Vaporetto zurück nach Venedig bestiegen - ein beliebiges Dampfschiff der Linien 4.1 und 4.2, welche in einander entgegengesetzten großen Schleifen alle zwanzig Minuten Passagiere auf einer zweistündigen Rundfahrt zwischen den Inseln hin und her beförderten. Die meisten Glasbläser schliefen, wenn sie wieder vor Ort war und die Glasmasse für den nächsten Tag bei 1200 Grad Celsius einschmolz. Danach erst konnte sie von dem mehrstündigen Prozess ablassen und dem Garzonetto, der für den Nachtdienst abgestellt war, die Aufsicht über die Öfen übertragen.
»Verausgab dich nicht, Mädchen. Das tut auf Dauer nicht gut.« Enzo musterte ihre nicht gerade damenhafte Erscheinung und fügte zögerlich hinzu: »Mit kaltem Tee getränkte Lappen mildern Augenringe, sagt meine Frau. Aber die ersetzen keinen Schlaf, wenn du mich fragst.«
Flavia lächelte müde. Sie schlief ja, nur nicht so ausgiebig wie andere Glasbläsertöchter. »Ohne diese Augenringe würdet ihr mir alle noch weniger zuhören als sowieso schon.« Dass sie sich in Taft, mit Puder und Parfum wohlfühlte, änderte nichts an den unausgesprochenen Regeln der Werkstatt: Nur wer nach harter Arbeit aussah, hatte der rein männlichen Belegschaft der Fornace Volpato auch etwas zu sagen. Und obwohl Flavia diese Auffassung kleingeistig fand - und immer schon gefunden hatte -, musste sie zugeben, dass es ihren Alltag erleichterte, nicht ständig im Spiegel kontrollieren zu müssen, ob die Haare noch saßen.
Doch sosehr sie sich auch bemühte, ihre natürlichen Reize einzudämmen, so fühlte sie sich doch nie ganz von den Männern angenommen und unter ihnen willkommen.
Enzo kam seufzend zu Flavia und zog ein gefaltetes Blatt Papier aus der Brusttasche. »Ich hab eine Strichliste geführt.« Der Auszug seines notdürftigen Arbeitstagebuchs landete auf dem Schreibtisch und verschmolz mit den Dokumenten ihres Vaters, die sie schon vor Tagen hergebracht hatte, um sie zu bearbeiten, und die zunehmend die gesamte Tischplatte unter sich begruben. Ordnung war leider nicht ihre Stärke.
Flavia nahm Enzos Notizen mit zitternden Fingern auf und unterdrückte die Scham darüber, als Tochter des Maestros weniger gut organisiert zu sein als seine Mitarbeiter. Im Grunde war sie trotzdem davon überzeugt, alles im Griff zu haben.
Während sie sich einen Überblick verschaffte und darauf achtete, nicht zu lange an einzelnen Wörtern herumzubuchstabieren - auf keinen Fall länger, als man es von jemandem, der eine grundlegende Schulbildung genossen hatte, erwarten durfte -, krachte Damasio herein. Er war einer ihrer Nachwuchsglasbläser, der dem Betrieb ebenfalls erhalten geblieben war, obwohl er mit seiner Ausbildung überall eine Stelle gefunden hätte. Mit einem vorwurfsvollen »Flavia?!« erlöste er sie von ihrem inneren Kampf mit Enzos Handschrift.
»Ja, bitte?« Sie legte das Blatt dankbar beiseite, was Enzo ein weiteres Stöhnen entlockte. Dennoch trat er vom Schreibtisch zurück und machte für seinen jüngeren Kollegen Platz, der einen leeren Jutesack mit der Aufschrift »Natriumsalz« über den verstreuten Papieren ausschüttelte.
Kein Körnchen rieselte mehr heraus. »Aufgebraucht wie das halbe Lager.« Damasio zog eine entsprechende Grimasse, und für den Fall, dass ihn jemand missverstanden hatte, warf er Flavia die...
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