Der Tag, an dem sie beschloss, den Kopf nicht mehr hängen zu lassen
"Es tut mir leid, Dahlia. Bitte lass uns unsere Verlobung auflösen."
Diese Bitte kam von ihrem Verlobten, eine Stunde nach Betreten ihres neuen Zuhauses, noch am selben Tag des Einzugs.
Eine plötzliche Verlobungsauflösung. War das nicht wie eine Szene aus einem Otome-Game, in der der Prinz zum Schulabschluss die adlige Antagonistin abserviert? Aber in diesem Heim waren sie zu zweit, niemand sonst war da und hinter ihrem Verlobten stand auch keine Antagonistin. Während sie solchen eskapistischen Gedanken nachging, stellte Dahlia ihm eine Frage.
"Ich würde gerne den Grund erfahren ...?"
Tränen sammelten sich in den vertrauten mandelfarbenen Augen ihres Verlobten Tobias, als er ihr antwortete.
"Ich habe ... meine wahre Liebe gefunden."
Dahlia wünschte sich von irgendjemandem ein Lob dafür, dass sie nicht laut losprustete.
Dies war eine Welt, in der es Magie gab. Ebenso Dämonen, Ritter und Magier.
Dahlia, für die all das nur Fantasy gewesen war, wurde in diese Welt wiedergeboren.
In ihrem vorigen Leben stammte sie aus einer gewöhnlichen japanischen Familie, ging zur Schule, machte ihren Universitätsabschluss und fand eine Anstellung bei einer gewissen Firma für Haushaltselektronik. Sie hatte gehofft, in die Produktion zu kommen, wurde aber in ihrem zweiten Jahr in die Reklamationsabteilung versetzt. Die Tage dort waren zermürbend.
Das Letzte, woran sie sich erinnerte, waren schlimme Schmerzen in der Brust während nächtlicher Überstunden. Ihre Todesursache war daher wohl eine Art Herzinfarkt.
Als sie das nächste Mal die Augen öffnete, fand sie sich als Neugeborenes in dieser Welt wieder.
In dieser Welt war ihr Name Dahlia Rossetti.
Anders als die Dahlie - ihre namensgebende Blume - hatte Dahlia, positiv ausgedrückt, ein ruhiges, negativ ausgedrückt, ein reizloses Aussehen.
Entgegen den Geschichten über Reinkarnationen, die sie in ihrem letzten Leben gelesen hatte, wurde sie nicht in eine hochrangige Adelsfamilie, sondern als Tochter eines Handwerkers geboren.
Das, was sie herstellten, entsprang allerdings zweifelsohne einer Fantasywelt. Es waren magische Instrumente, Magimente genannt.
Ihr Vater, Carlo Rossetti, war ein talentierter Hersteller, ein sogenannter Magiker. Zur Würdigung seines Könnens wurde ihm vom Königreich der nicht vererbbare Titel eines Ehrenbarons verliehen.
Dahlia kam von klein auf mit Magimenten in Berührung. So hatte sie keine Zweifel daran, dass sie in die Fußstapfen ihres Vaters treten und ebenfalls Magikerin werden wollte.
Ihr Vater Carlo war eng mit einem Händler befreundet.
Als Dahlia im Alter von neunzehn Jahren selbst Magikerin wurde, beschloss man, sie mit dem zweiten Sohn dieses Händlers zu verloben. Mit jenem Tobias Orlando, wie sie ihn nun vor Augen hatte. Auch er war ein Magiker und hatte unter Dahlias Vater das Handwerk erlernt.
Als zweiter Sohn des Handelshauses Orlando war er für die Entwicklung und den Verkauf von Magimenten zuständig. Zudem sah er gut aus und war gebildet. Aus Sicht des einfachen Volkes war er ein junger Mann von vortrefflichem Format.
Ihre Heirat war für das Jahr angesetzt, in dem Dahlia zwanzig und Tobias zweiundzwanzig Jahre alt werden würden, doch Tobias' Vater verstarb plötzlich. Nach der Trauerzeit, gerade als die Hochzeit anstand, starb Dahlias Vater.
Nebenbei bemerkt, die beiden verstarben selbst nach dem Maßstab dieser Welt früh. Dahlia sah den Grund dafür in ihrem schweren Alkoholkonsum, von dem sie nicht ablassen konnten, egal wie oft sie es versuchten.
Seit der Verlobung waren bereits zwei Jahre vergangen.
Die Arbeit und das formale Prozedere hatten sich endlich gelegt. Ab heute sollten sie zusammenleben und tags darauf wollten sie die Ehe amtlich eintragen lassen. Doch nun wurde sie vorher aufgelöst.
Sie saßen sich am Tisch zu Hause gegenüber und schwiegen sich an.
Dahlia hatte ihren Blick gesenkt und nur einen einzigen Seufzer übrig.
Sie hatte kein Gefühl von Realität. Das war eine Situation, in der sie gut hätte weinen, wütend oder was auch immer sein können, doch sie fühlte nur eine unsägliche Erschöpfung.
Aber so konnte es nicht endlos weitergehen. Fürs Erste musste sie sich über das Weitere vergewissern.
"Wer ist die Glückliche?"
"Emilia. Emilia Talini."
Tobias sprach ihren Namen direkt und ohne Geheimnistuerei aus.
Emilia ... Talini, der Name sagte Dahlia etwas. Sie trat vor einigen Monaten dem Handelshaus Orlando bei und arbeitete dort an der Rezeption.
Sie hatte honigfarbenes Haar und braune Augen. Ein liebliches Mädchen von kleiner Statur mit einer sanften Ausstrahlung.
Dahlia konnte man als das komplette Gegenteil beschreiben: Abgesehen von ihrer Körperhöhe hatte sie nichts Bemerkenswertes an sich.
Ehrlich gesagt war Dahlia überrascht, dass dieses niedliche Ding Tobias' Typ Frau war.
"Ich gedenke, sie zu heiraten."
"Ist dem so ...?"
Das erklärte Tobias, obwohl sie ihn nicht einmal gefragt hatte. Dahlia bekam Kopfschmerzen von ihm.
"Für eine Verlobungsauflösung braucht es noch die Formalitäten."
"Das ist doch nur eine Sache zwischen dir und mir?"
Dass das ja wohl keine Sache war, die nur mit Worten geklärt werden könnte, schluckte Dahlia erst einmal runter.
Seit ihrer Verlobung waren sie zusammen bei der Handelsgilde registriert und arbeiteten unter gemeinsamen Verträgen. Mit Blick auf die Ehe hatten sie die Kosten für das neue Heim geteilt. Diese Verträge mussten aufgelöst und auf ihre Namen aufgeteilt und angepasst werden.
"Die Verlobungsbescheinigung haben wir doch zusammen mit unseren Vätern bei der Handelsgilde eingereicht. In dem Dokument ist die Vereinbarung für den Fall einer Auflösung enthalten. Die Verträge, die auf unser beider Namen eingetragen sind, müssen auf getrennte Namen umgeschrieben werden. Wenn du sie heiraten möchtest, solltest du die Verlobung sauber auflösen."
"Verlobungsbescheinigung ... Ah, die."
"Lass uns das bei der Gilde überprüfen. Würde es dir ab zwei passen?"
"Passt."
Damit hätte er ruhig gehen können, aber Tobias saß weiter nur da und fasste sich mit den Fingern an die rechte Schläfe. Das war seine Angewohnheit, wenn er etwas Unangenehmes zu sagen hatte.
"Ist da noch mehr?"
"Nun ... Sie meinte, dass sie hier mit mir leben möchte."
Die meisten Dinge beim Bau dieses Hauses hatte Tobias entschieden. Im Großen und Ganzen war die Werkstatt, die sie gemeinsam zu nutzen gedachten, das Einzige, wozu sie ihre Meinung abgegeben hatte. Entsprechend hatte Dahlia keine wirkliche emotionale Bindung an das Haus.
Dennoch, am Tag der Verlobungsauflösung zu hören, dass bereits die Nächste in dieses Haus einziehen wollte, ließ ihr schwer ums Herz werden.
"Nach der Abwicklung können wir den gemeinsamen Namen auf deinen ändern. Danach werde ich meine Sachen packen und baldigst heimkehren."
"Entschuldige."
Damit hatte Tobias nichts mehr zu sagen und verließ den Raum.
Dahlia blieb auf dem Stuhl sitzen. Ihr Blick blieb einige Zeit gesenkt.
Sowohl in ihrem vorigen als auch gegenwärtigen Leben hatte sie einen Hang zu einem buckligen Rücken. In ihrem letzten Leben hatte sie nie eine Beziehung gehabt, geschweige denn geheiratet.
Selbst in diesem Leben war sie, bis sie neunzehn wurde, keine Bindung eingegangen. Und gerade als sie dachte, endlich käme auch für sie der Frühling, war das das Ergebnis.
Ihr Vater hatte ihr gesagt, Tobias würde sie beschützen, falls etwas passieren sollte. Mit Sicherheit hatte er nicht mit so etwas gerechnet. Da sie für die Ehebekanntmachung erst morgen zum Bürgeramt wollten, waren sie tatsächlich nicht verheiratet.
Trotzdem waren sie zwei Jahre lang verlobt. In ihrem Umfeld wussten praktisch alle von der Verlobung. Bestimmt würden Gerüchte die Runde machen, aus Mitgefühl oder lediglich, um die eigene Neugier zu stillen. Alles an diesem Gedanken deprimierte sie.
Darüber hinaus hatte sie die Materialien für ihre Magimente bislang vom Handelshaus Orlando, der Familie von Tobias, bezogen.
Sobald sie nicht mehr seine Verlobte war, konnte es gut sein, dass sie mit ihr brachen. Selbst wenn sie weiter miteinander Geschäfte betrieben, würde es mit Sicherheit unangenehm werden.
Je mehr sie darüber nachdachte, desto schlimmer wurden die Kopfschmerzen.
Plötzlich erinnerte sie sich an den Tag, als ihre Verlobung beschlossen worden war, und daran, was Tobias nach der Begrüßung zu ihr gesagt hatte.
"Du bist ja ziemlich groß."
Für eine Frau war sie ziemlich hochgewachsen, für einen Mann war Tobias etwas kurz geraten. Nur etwa drei Zentimeter trennten sie voneinander. Trug sie Absätze, war Dahlia auf jeden Fall größer. Seit der Verlobung trug sie keine Absätze mehr, nur noch flache Schuhe.
Da ihr Haar mit seinem natürlichen Rot angeblich zu sehr ins Auge stach, hatte sie es dunkelbraun gefärbt und immer hinter dem Kopf zusammengebunden.
Tobias mochte keine hervorstechende Kleidung. Sie passte...