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Onkel Eduardo war in den Laden zurückgekehrt, den er nicht in der Obhut seiner Angestellten lassen konnte, dieser Gaunerbande. Tante Marocas hatte versprochen, später zur Totenwache zu kommen, sie musste noch einmal nach Hause, wo sie in der Eile, zu erfahren, was passiert war, alles hatte stehen- und liegenlassen. Leonardo würde auf Vandas persönlichen Rat seinen freien Nachmittag nutzen, um zum Makler zu gehen und einen Kaufvertrag abzuschließen: Sie waren dabei, ein Stück Land auf Raten zu erwerben. Eines Tages würden sie, so Gott wollte, ein Eigenheim besitzen.
Sie hatten verabredet, sich abzuwechseln: Vanda und Marocas würden den Nachmittag und Abend übernehmen, Leonardo und Onkel Eduardo die Nachtschicht. Die Ladeira do Tabuão war kein Ort, an dem sich eine Dame des Nachts sehen lassen konnte, der Hügel hatte einen schlechten Ruf, war bevölkert von Spitzbuben und leichten Mädchen. Am folgenden Morgen sollte dann die ganze Familie zur Beerdigung zusammentreffen.
So kam es, dass Vanda sich am Nachmittag allein mit dem Leichnam des Vaters wiederfand. Die Geräusche von einem armen und intensiven Leben, das auf dem Hang seinen Lauf nahm, drangen kaum in den dritten Stock des schäbigen Gebäudes, in dem der Tote sich ausruhte, das Wechseln der Kleidung war doch recht anstrengend gewesen.
Die Männer vom Bestattungsunternehmen hatten gute Arbeit geleistet, sie waren kompetent und erfahren. Mit den Worten des Heiligenhändlers, der kurz vorbeigekommen war, um nach dem Rechten zu sehen: »Man glaubt fast nicht, dass das derselbe Tote ist.« Gekämmt, rasiert, im schwarzen Anzug und blütenweißen Hemd, mit Krawatte und blanken Schuhen war das wirklich Joaquim Soares da Cunha, der da im Sarg ruhte - einem prächtigen Sarg (wie Vanda befriedigt konstatierte) mit goldenen Griffen und Rüschen. Man hatte aus Brettern und hölzernen Böcken eine Art Tisch improvisiert, und darauf lag die Bahre, vornehm und streng. Zwei riesige Kerzen - große Wachslichter wie vor einem Hauptaltar, sah Vanda stolz - warfen einen schwachen Schein, denn das Licht von Bahia drang durchs Fenster und füllte das Zimmer mit Helligkeit. All das Sonnenlicht, all diese fröhliche Helligkeit erschien Vanda als Achtlosigkeit gegenüber dem Tod, es machte die Kerzen nutzlos, raubte ihnen den erhabenen Glanz. Einen Moment lang erwog sie, die Wachslichter zu löschen, als Sparmaßnahme. Aber da der Bestattungsunternehmer zweifellos denselben Betrag in Rechnung stellen würde, egal ob sie zwei Kerzen verbrauchten oder zehn, beschloss sie, die Fensterläden zu schließen, und Halbdunkel verbreitete sich im Raum, die heiligen Flammen schossen empor wie Feuerzungen. Vanda setzte sich auf einen Stuhl (eine Leihgabe des Heiligenhändlers), sie empfand Genugtuung. Nicht etwa das befriedigende Gefühl, ihre Kindespflicht getan zu haben, es war etwas Tieferes.
Ein zufriedener Seufzer entrang sich ihrer Brust. Sie strich sich das braune Haar zurecht, es war, als hätte sie Quincas endlich gezähmt, als hätte sie ihm wieder die Zügel angelegt, jene Zügel, die er einst den starken Händen Otacílias entrissen hatte und ihr dabei ins Gesicht gelacht. Der Schatten eines Lächelns erschien auf Vandas Lippen, die schön und begehrenswert gewesen wären, hätte nicht eine gewisse Starrheit und Härte sie gezeichnet. Sie fühlte sich gerächt für all das Leid, das Quincas über die Familie gebracht hatte, vor allen Dingen über sie selbst und Otacília. Die jahrelange Demütigung. Zehn Jahre hatte Joaquim dieses absurde Leben geführt. »König der Herumtreiber von Bahia«, so nannten sie ihn in den Vermischten Meldungen der Tagblätter, das klassische Original von der Straße, gerne erwähnt in den Kolumnen von Schreiberlingen, die auf billiges Kolorit aus waren, zehn Jahre lang, in denen er der Familie Schande machte, sie mit dem Schlamm dieses unsäglichen Ruhms besudelte. Der »Chefsäufer von Salvador«, der »abgerissene Philosoph von der Rampa do Mercado«, der »Senator der Tanzschuppen«, Quincas Wasserschrei, der »Herumtreiber par excellence«, so sprachen die Zeitungen von ihm, in denen er manchmal sogar auf widerlichen Fotos abgedruckt wurde. Mein Gott!, wie kann eine Tochter leiden auf der Welt, wenn ihr das Schicksal das Kreuz eines Vaters auferlegt, der gewissenlos seine Pflichten vernachlässigt.
Jetzt aber fühlte sie Zufriedenheit: beim Blick auf die Leiche in dem nahezu verschwenderischen Sarg, im schwarzen Anzug, die Hände über der Brust verschränkt, in einer Haltung frommer Zerknirschtheit. Die Flammen der Kerzen stiegen empor, ließen die neuen Schuhe glänzen. Alles, wie es der Anstand gebot, bis auf das Zimmer natürlich. Ein Trost für eine, die sich so gesorgt und gelitten hatte. Vanda ging durch den Sinn, dass auch Otacília glücklich sein musste, an welchem fernen Ort im Universum auch immer sie sich nun befand. Denn endlich geschah ihr Wille, die aufopfernde Tochter hatte Joaquim Soares da Cunha zurückgeholt, jenen guten, schüchternen und gehorsamen Ehemann und Vater: Man brauchte nur die Stimme zu erheben und eine finstere Miene aufzusetzen, schon hatte man ihn friedlich und konziliant. Da lag er, die Hände über der Brust verschränkt. Für immer verschwunden war der Herumtreiber, »der König des Tanzsaals«, der »Patriarch des Rotlichtviertels«.
Ein Jammer, dass er tot war und sich nicht im Spiegel sehen konnte, dass ihm der Triumph der Tochter entging, der würdigen Familie, die solche Kränkung erfahren hatte.
Gerne wäre Vanda in dieser Stunde tiefer innerer Befriedigung und reinen Triumphs großzügig und gut gewesen. Hätte die letzten zehn Jahre vergessen, als wären sie von den fähigen Bestattungsleuten weggewischt worden, mit demselben in Seifenwasser getauchten Lappen, mit dem man den Schmutz von Quincas' Körper entfernt hatte. Um sich nur noch an die Kindheit zu erinnern, an die Jugend, die Zeit der Verlobung, an die Hochzeit und die zahme Gestalt des Joaquim Soares da Cunha, halb verborgen in einem Segeltuchsessel, wie er bei der Zeitungslektüre zusammenzuckte, sobald die Stimme von Otacília nach ihm rief, in tadelndem Tonfall:
»Quincas!«
So schätzte, so spürte sie Zärtlichkeit für ihn, diesen Vater vermisste sie, mit einer kleinen zusätzlichen Anstrengung hätte sie sogar Rührung empfinden können, hätte sich wie eine Waise gefühlt, unglücklich und verlassen.
Die Hitze im Zimmer nahm zu. Seit Vanda die Fensterläden geschlossen hatte, fand die Meeresbrise keinen Einlass. Das wollte Vanda auch nicht: Meer, Hafen und Brise, die Wege, die den Hang hinaufführten, die Geräusche von der Straße, all das war Teil jenes vergangenen Daseins in ehrlosem Wahn. Hier sollten nur sie sein, der tote Vater, der schmerzlich vermisste Joaquim Soares da Cunha und die kostbarsten Erinnerungen, die er hinterlassen hatte. Tief vom Grund ihres Gedächtnisses barg sie vergessene Szenen. Der Vater, wie er sie zu einem Pferdezirkus im Ribeira-Viertel mitnimmt, aus Anlass eines Festes an der Bonfim-Kirche. Vielleicht hatte sie ihn nie so fröhlich gesehen, diesen Riesen von einem Mann, der breitbeinig auf einem Kinderpony saß und dabei schallend lachte, er, dem doch so selten auch nur ein Lächeln über die Lippen kam. Auch die Feier fiel ihr ein, die Freunde und Kollegen zu Ehren Joaquims veranstaltet hatten, als er bei der Zolleinnahmestelle eine Beförderung erhielt. Das Haus voller Leute. Vanda war schon eine junge Frau, ging neuerdings mit einem Verehrer aus. An diesem Tag war es Otacília, die vor Genugtuung schier platzte, inmitten einer Gruppe, die sich im Wohnzimmer versammelt hatte, unter feierlichen Reden, es gab Bier und als Geschenk für den Beamten einen Füllfederhalter. Es war, als wäre sie selbst die Geehrte. Joaquim hörte sich die Reden an, schüttelte die Hände, nahm den Federhalter an, ohne irgendeine Begeisterung zu zeigen. Als wäre ihm das Ganze lästig, und er hätte nur nicht den Mut, es zu sagen.
Sie erinnerte sich auch an den Gesichtsausdruck ihres Vaters, als sie ihm den baldigen Besuch Leonardos ankündigte, der sich endlich dazu entschlossen hatte, um ihre Hand anzuhalten. Joaquim schüttelte den Kopf und sagte leise:
»Der Ärmste .«
Vanda ließ auf ihren Verlobten nichts kommen:
»Wieso der Ärmste? Er ist aus guter Familie, hat eine gute Stelle, er trinkt nicht und geht nicht in Kneipen oder zwielichtige Etablissements .«
»Ich weiß . ich weiß . Ich dachte an etwas anderes.«
Es war merkwürdig: Sie erinnerte sich an sehr wenige Einzelheiten rund um ihren Vater. Als hätte er am heimischen Leben nicht aktiv teilgenommen. Sie hätte Stunden damit zubringen können, an Otacília zurückzudenken, an Szenen, Aussprüche, Begebenheiten, bei denen die Mutter zugegen gewesen war. In Wahrheit hatte Joaquim in ihrer beider Leben erst angefangen zu zählen, als er an jenem absurden Tag zunächst Leonardo als »Bauerntölpel« bezeichnet und dann sie und Otacília angesehen und ihnen ins Gesicht geworfen hatte:
»Ihr Giftschlangen!«
Und dann war er in aller Seelenruhe, als wäre es das Geringfügigste, Banalste von der Welt, aus dem Haus gegangen und nicht mehr wiedergekehrt.
Daran jedoch wollte Vanda nicht denken. Erneut ging sie in die Kindheit zurück, dort stand Joaquim ihr noch am deutlichsten vor Augen. Zum Beispiel damals, als Vanda, ein fünfjähriges Mädchen mit strubbeligen Haaren, nahe am Wasser gebaut, besorgniserregend hohes Fieber bekommen hatte. Joaquim hatte ihr Zimmer für keinen Moment verlassen, er saß neben der kleinen Patientin am Bett, hielt ihr die Hand, verabreichte ihr die Arznei. Er war ein guter Vater und guter Ehemann. Mit dieser letzten Erinnerung fühlte sich Vanda ausreichend gerührt und in der Lage - hätten...
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