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Der Beginn der Wahlparty war auf 18 Uhr festgelegt. Clara hatte sich wieder so weit im Griff, hatte ausgiebig geduscht und sich ein bisschen fein gemacht, das rotbraune Leinenkleid mit einem orangefarbenen Seidenschal kombiniert. Ein optimistisches Orange, das war die Farbe der Partei. Clara war damit sehr zufrieden, und viel Auswahl an Farben hatte es zu Zeiten der Parteigründung sowieso nicht mehr gegeben.
Sie freute sich darauf, mal wieder alle Parteimitglieder zu sehen, die so etwas wie eine Ersatzfamilie geworden waren, damals, als ihr bisheriges Leben innerhalb von ein paar Wochen komplett in die Brüche gegangen war. Kurz nach Jonas Unfall hatte sie Joachim mit Sarah, der Tochter ihrer zweitbesten Freundin im Bett erwischt, ihrem eigenen Bett, wie in der Seifenoper. Zu groß der Scherbenhaufen, um wieder gekittet zu werden. Aus purer Verzweiflung hatte sie den Schlussstrich gezogen und sich geradezu gesuhlt in Hass und Rachegefühlen, beides einigermaßen neue Emotionen. Bis dahin hatte sie ein vergleichsweise ausgeglichenes Leben geführt.
Sie war zu diesem Zeitpunkt so voller Hass, und dieser Hass war ihre wesentliche Triebfeder geworden. Sie wollte dafür sorgen, dass niemand würde sterben müssen, weil jemand schnöde Geld sparen wollte, weder auf Baustellen noch sonst irgendwo. Ihre Ärztin hatte sie bestätigt, ihr Mut gemacht, das Trauma in positiver Richtung zu bearbeiten, für sich selbst und all die anderen, die Ähnliches erlebt hatten, die aber nicht über Möglichkeiten wie sie selbst verfügten.
Sie befand sich an der richtigen Stelle, seit ein paar Jahren war sie Mitglied der damals neu gegründeten Partei, die sich mehr soziale Gerechtigkeit auf die Fahnen geschrieben hatte. Seit Jonas Tod hatte sie sich mit allen Kräften engagiert und war das Zugpferd der Partei geworden, war bei den Wählern beliebt, mehr als die Partei selbst, die immer noch mit Richtungskämpfen beschäftigt war. Kinderkrankheiten, wie das bei jungen Parteien so üblich war.
Clara war eine der Ältesten, wirkte besonnen und lebenserfahren, zielstrebig und ehrgeiziger als die meisten anderen Mitglieder. Durch den tödlichen Unfall war sie geradezu populär geworden, die Öffentlichkeit hatte sie dadurch als Person erlebt, nicht nur als Figur im Politiktheater. Und sie hatte klare Vorstellungen darüber, welche Veränderungen sie bewirken wollte. Die Zeit des Wahlkampfs hatte sie trotz aller Strapazen als konstruktiv empfunden. Immer deutlicher hatte sie gespürt, dass sie mit ihren Ideen bei den Menschen ankam.
Sie wollte Karriere machen, hatte sich in Arbeit gestürzt, auch, um es Joachim zu zeigen. Er hatte ihren Entschluss, in die Politik zu gehen, nie gutgeheißen. »Dazu bist du nicht hart genug«, hatte er argumentiert. Es stimmte, sie war im Grunde weichherzig. In ihrem früheren Beruf als Richterin hatte sie immer mehr gelitten, die Aussichtslosigkeit, die immer krasseren Fälle, für die die Justiz keinerlei Lösungsmöglichkeiten zu bieten hatte. Das Konzept Abschreckung durch Strafandrohung griff schon so lange nicht mehr. Irgendwann hatte es angefangen, dass ihr bestimmte Gesetze fragwürdig vorkamen, ungenügend, geradezu falsch. Sich politisch zu engagieren erschien ihr eine sinnvolle Konsequenz, und sie sah die damals neu gegründete Fortschrittspartei als eine Möglichkeit an. Und das Leben hatte sie härter gemacht.
Ihr erklärtes Ziel war das Justizministerium und um das zu erreichen, brauchte ihre Partei jede Wählerstimme, um als möglicher Koalitionspartner Gewicht zu bekommen. Sie hatte sich in die Kanzlerkandidatur drängen lassen, weil klar war, dass nur ihre Kandidatur der Partei eine Chance auf mehr als 11 Prozent wie bei der letzten Wahl ermöglichen könnte. Sie war glücklich über die positive Rückmeldung in der Partei und vor allem über die Zustimmung aus der Bevölkerung.
Der gemietete Saal war bereits ziemlich voll, am Tag vorher hatten ein paar Freiwillige ein bisschen dekoriert, orangefarbene Fähnchen und Luftballons, es herrschte tatsächlich Partystimmung, laut und lustig. Clara wurde mit großem Hallo empfangen, machte die Begrüßungsrunde, viele gratulierten ihr zu ihrem Fernsehauftritt, was ihr eher peinlich war, aber »nein, das war gut!« war der meist gehörte Kommentar.
Hermann Köhler, der Parteivorsitzende umarmte sie und lud sie zu einem Glas Sekt ein, auf seine Kosten. Die Mitglieder hatten übereinstimmend beschlossen, dass jeder seine Getränke und die Häppchen selbst bezahlte.
»Bist du aufgeregt?«, fragte er.
»Und wie! Es wäre einfach zu gut, wenn wir es schaffen. Keine Ahnung, was ich tun würde, wenn ich keine Justizministerin würde.«
Er gab sich zuversichtlich, immerhin hatten die Vorhersagen der Partei 18 Prozent prognostiziert und den beiden großen Parteien je 30 Prozent.
»Auf jeden Fall wird es spannend. Also, wenn du mich fragst, bin ich ziemlich zuversichtlich, dass du den Posten fast sicher hast, wenn nicht die große Überraschung kommt .«
»Hoffentlich hast du recht, ich hasse Überraschungen, jedenfalls unangenehme. Und schließlich würden wir ja lieber mit den Sozialdemokraten koalieren als mit den Konservativen.«
Es gab einen Parteibeschluss, dass sie zwar mit allen Parteien über eine Koalition verhandeln würden, aber Rot und natürlich Grün wären vorzuziehen, man lag sich einfach näher.
Als die ersten Hochrechnungen ankamen, schluckte Clara und fühlte sich in allen Ängsten bestätigt, 46 Prozent für die CDU, 29 Prozent SPD, immerhin 17 Prozent für ihre Partei, 9 Prozent für die Grünen. Die Zahlen stammten aus irgendeinem Wahlkreis, den sie nicht einmal dem Namen nach kannte.
Hilfe, das kann ja wohl nicht wahr sein! Clara versuchte, sich die Enttäuschung nicht anmerken zu lassen.
»Kein Grund zur Aufregung, zuerst werden immer die kleineren Wahlkreise fertig ausgezählt, und die haben fast immer einen hohen CDUAnteil, warum auch immer.«
Hermann wollte beruhigend sein, hatte es selbst aber auch nötig. Nicht nur Clara erlebte an diesem Abend ein extremes Wechselbad der Gefühle, mehrmals den Abstieg zur Hölle, dann wieder Auftauchen und sich Emporschwingen wie der Phönix aus der Asche, Momente der Atemlosigkeit und dem Fall aus allen Wolken.
Eine Stunde später sah das Bild tatsächlich schon ganz anders aus. 33,6 CDU, 33,1 SPD, 15,9 PSF, 13 Grüne, 7,2 FDP, Freie Radikale 6,3 . Clara war froh, dass es die Rechtsradikalen offensichtlich nicht schaffen würden, die Fünf-Prozent-Hürde zu nehmen, mit 1,2 Prozent konnte man sie wohl einfach vergessen.
Die Wahlbeteiligung war höher als erwartet, Clara atmete durch und entspannte sich etwas. Sie brauchte etwas zu essen, ihr war richtig flau. Sie kämpfte sich zum Buffet durch, was nicht so einfach war, weil jeder sie ansprach, um ihr und meistens wohl auch sich selbst Mut zu machen. Sie erstand ein Käsebrötchen und hatte es gerade verspeist, als die nächste Hochrechnung ihr den Atem verschlug: CDU 28, SPD 24,9, PSF 24, Grüne 16,2, FDP 5,7, Freie Radikale 6,3.
Die Stimmung im Saal war ausgesprochen euphorisch, es wurde geklatscht und geschrien, Clara wurde es richtig warm ums Herz.
Die Hochrechnungen kamen immer schneller. Sie schaute auf die Uhr, es war schon fast 23 Uhr, als plötzlich die SFP die beiden großen Parteien überflügelte. 29 Prozent für die SFP, während CDU und SPD auf Gleichstand von 27,5 Porzent kamen.
Es war die Sensation, Clara versuchte sich zu sagen, freu dich nicht zu früh, aber sie konnte nicht anders, sie fühlte sich haargenau wie in My fair Lady: »Ich hätt getanzt heut Nacht«. In ihrer Teenager Zeit war der Film mal ihr absoluter Favorit gewesen. Sie war verblüfft, dass diese Erinnerung in diesem Augenblick den Weg in ihren innersten Gefühlsbereich gefunden hatte. Sie schwebte und die Vernunft hatte es schwer.
Um Mitternacht stellte sich das vorläufige Gesamtergebnis folgendermaßen dar: PSF 29,4, CDU 24,6, SPD 20,4, Grüne 16, Freie Radikale 8,1, FDP 5,1. Der Lärm war ohrenbetäubend, alles schrie: »Clara! Clara! Clara!« Sie sank von einer Umarmung in die nächste und war froh, dass niemand mitzukriegen schien, dass ihr die Tränen kamen.
Als ihr Vater sie umarmte, dachte sie einen Moment lang, ich bin verrückt geworden und sehe Gespenster, aber sie hatte sich nicht getäuscht, er stand vor ihr und Helga daneben, die sie ebenfalls an sich drückte.
»Was macht ihr denn hier, ich hätte gedacht, ihr schlaft schon seit Stunden. Wie spät ist es denn eigentlich?«
»Es ist 1 Uhr, aber das wollten wir uns nicht entgehen lassen«, sagte Helga.
»Das ganze Seniorenheim hat die ganze Zeit vor dem Fernseher gesessen und alles mitverfolgt. Alle lassen dich grüßen und gratulieren dir, mein Kind.«
Clara war froh, dass sie dieses Mal ihre Tränen in das Jackett ihres Vaters tropfen lassen konnte. Sie putzte sich die Nase und atmete tief durch, um die Fassung wiederzugewinnen, was ihr dadurch...