Schweitzer Fachinformationen
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Das Leben der Menschen veränderte sich über Nacht. Alles war so verdorben, dass niemand mehr sich an den Wurzeln seiner eigenen Vergangenheit festzuhalten vermochte. Alle lebten unter der Bedrohung, mit einem Schlag umzustürzen und zu verschwinden, wie es mit den Zielfiguren auf den Jahrmärkten geschieht.
Auch mein Leben veränderte sich in einer Nacht. Eigentlich war es das Leben meines Vaters, das sich veränderte. Als ein größerer Staat aufgrund mir nicht ganz nachvollziehbarer Entwicklungen verkündete, »die Tomateneinfuhr einzustellen«, verwandelte sich ein bestelltes Feld von über tausend Hektar in einen blutroten Abfallhaufen. Mit einem Leichtsinn, wie er gelegentlich bei Menschen anzutreffen ist, die eine ungeliebte Arbeit verrichten, hatte mein Vater sein gesamtes Vermögen in eine einzige Feldfrucht gesteckt; jene drei Wörter genügten, ihn in den Bankrott zu treiben. Wir hatten alles verloren. Nach einer beklemmenden Nacht erlitt mein Vater frühmorgens einen Hirnschlag.
Dieser uns so jählings treffende gewaltsame Schicksalsschlag bewirkte, dass wir nicht einmal Zeit fanden, den Tod meines Vaters zu betrauern. Wir lebten wie unter einem Anfall von heftigem Schwindel; obwohl wir alles sahen, konnten wir nichts, darunter auch den Tod meines Vaters, ganz begreifen. Unser Leben, das wir für unveränderlich gehalten hatten, war mit erschreckender Leichtigkeit in sich zusammengebrochen. Wir stürzten ab in eine uns unbekannte Leere; ich wusste nicht, wohin mein Sturz führen würde. Etwas später sollte ich es erfahren.
Es war uns nichts verblieben außer einem geringen Betrag auf dem Bankkonto meiner Mutter und dem kleinen Blumen-Gewächshaus, das mein Vater ihr »zu ihrem Zeitvertreib« gekauft hatte. Sie sagte: »Ganz gleich, wie ich das anstelle, dein Studium werde ich dir sichern, aber den alten Luxus musst du vergessen.« Eigentlich war mein Literaturstudium an jener hell erleuchteten, inmitten weitläufiger Gärten gelegenen Universität ja bereits ein Luxus. Doch meine Mutter weigerte sich, auch nur darüber zu diskutieren, dass ich mein Studium aufgeben könnte.
Mein armer Vater hatte sich gewünscht, dass aus mir ein Agraringenieur würde, doch ich hatte darauf bestanden, Literatur zu studieren. Bei diesem Entschluss war, neben meiner Neigung zu einer aufregenden, durch Romane zu erschaffenden Festung der Einsamkeit, sicher auch meine Überzeugung ausschlaggebend, dass meine gesicherte Zukunft durch keine von mir getroffene Entscheidung gefährdet sein könnte.
Eine Woche nach der Beerdigung meines Vaters kehrte ich mit dem Nachtbus in die Stadt zurück, wo ich studierte. Gleich am nächsten Morgen bewarb ich mich um ein Stipendium. Ich hatte gute Noten und erhielt die Unterstützung.
Die Miete für die Dreizimmerwohnung mit großem Wohnzimmer, die ich mir mit einem Freund teilte, konnte ich hiermit allerdings nicht mehr aufbringen. Ich fand ein Zimmer zur Miete in einem der alten Gebäude in der Kneipenstraße, die ich hin und wieder mit meinen Kommilitonen aufsuchte. Es handelte sich um ein sechsstöckiges Haus aus dem 19. Jahrhundert. An der von Glyzinien umrankten Frontfassade befanden sich kleine, mit schmiedeeisernen Geländern geschmückte Balkone. Es gab auch einen hölzernen Aufzug in einem Drahtkäfig, doch der funktionierte nicht mehr. Offensichtlich war das Gebäude ursprünglich als Han für Geschäftsleute errichtet worden; jetzt wurden die Zimmer einzeln vermietet.
Nachdem ich einige wenige Kleidungsstücke zur Seite gelegt hatte, verkaufte ich in einem unsinnigen Anfall von Wut - als wollte ich mich für das mir Geschehene rächen - alle meine Kleider, Bücher, mein Mobiltelefon und meinen Computer zu Spottpreisen an die Trödler und bezog das Zimmer.
Die Einrichtung bestand aus einem Bett mit Messingkopfteil und einem altmodischen hölzernen Nachttisch daneben, einem winzigen runden, genau in der Mitte gespaltenen Tisch neben der Balkontür und einem Wandspiegel, der neben der Eingangstür hing. Eine Toilette und eine Dusche beanspruchten nicht mehr Platz als ein Kleiderschrank. Eine Küche gab es nicht - ein geräumiges Zimmer im zweiten Stock diente als Gemeinschaftsküche. Dort stand mitten im Raum ein aus grobem Holz gefertigter langer Tisch mit je einer Bank aus dem gleichen Holz an jeder Seite. Ein mindestens fünfzig Jahre alter riesiger Kühlschrank der Marke Frigidaire gab unter gelegentlichem Beben röchelnde Töne von sich. Zu den gemeinschaftlich genutzten Dingen dieser Gemeinschaftsküche gehörten weiter eine weiß gekachelte Anrichte, ein Waschbecken mit aus dem 19. Jahrhundert stammenden bronzenen Wasserhähnen, deren Handgriffe Porzellanplättchen mit den Aufschriften Chaud und Froid trugen, außerdem ein Samowar, der auf geheimnisvolle Weise stets heißen Tee enthielt, sowie ein Fernseher.
Der kleine Balkon meines Zimmers gefiel mir sehr. Ich stellte mir einen Stuhl hinaus und sah auf die kopfsteingepflasterte Gasse hinunter. Nach sieben Uhr abends begann diese sich zu beleben. Um neun Uhr konnte man keinen Pflasterstein mehr erkennen; eine bunte, miteinander atmende, sich miteinander ausbreitende Menschenmenge bedeckte die Gasse, von der sich Duftwolken aus Anis, Tabak und gebratenem Fisch erhoben. Gelächter, Pfeifen und fröhliche Zurufe waren zu hören. Es schien, als ob jeder, der diese Gasse betrat, augenblicklich von einem vorübergehenden Glücksgefühl erfasst würde, das ihn alles, was draußen geschehen mochte, vergessen ließ. Ich betrachtete jetzt von weitem dieses vergnügliche Geschehen, an dem ich nicht mehr teilhaben konnte.
Die Mieter, die ihre Mahlzeiten in der Küche zubereiteten, schrieben ihre Namen auf ihre Vorräte und stellten sie in den Kühlschrank. Niemand vergriff sich an den Lebensmitteln der anderen. Eine unglaublich friedliche Ordnung herrschte in diesem Gebäude, in dem mittellose Studenten, Transvestiten, junge aus der Provinz stammende Tagelöhner, Rausschmeißer, afrikanische Straßenhändler mit ihren Luxusimitaten sowie Laufjungen aus den umliegenden Restaurants lebten. Obwohl es anscheinend keinen Hausmeister gab, fühlten sich alle in diesem Gebäude sicher. Und wenn auch jeder vermutete, dass ein Teil der Hausgemeinschaft draußen in dunkle Machenschaften verwickelt war, so drang dieses Dunkel doch nie in das Gebäude ein.
Ich konnte nicht kochen und war auch zu faul, mir etwas zuzubereiten. Meistens kaufte ich mir beim nahe gelegenen Krämer einen halben Laib Brot und etwas Käse. Diese lächerliche Unbeholfenheit, mit der ich das, was mir zugestoßen war, förmlich zelebrierte, teilte ich wohl mit vielen anderen »Neuarmen«.
In die Küche ging ich vorerst nur, um zu meiner »Mahlzeit« einen Tee zu trinken. Irgendwann entdeckte ich, dass ein Bar-Rausschmeißer mit tätowierten Bizeps, der stets in ärmellosen schwarzen Trikots herumlief, exotische Gerichte kochte und diese allen anbot, die sich gerade in der Küche befanden. Seltsame Speisen bereitete er zu, wie Rinderfilet mit Ananas oder Blaubarsch mit Ingwer.
Genauso undurchsichtig wie das Sicherheitssystem des Gebäudes war sein Informationsnetz. Jeder wusste alles über jeden. Ohne zu wissen, woher diese Informationen stammten, hatte ich bald herausgefunden, dass der im Zimmer neben mir wohnende Transvestit namens Gülsüm in einen verheirateten Koch verliebt war, dass der junge Mann zwei Zimmer weiter vorne von allen Dichter genannt wurde, dass der dicke Schwarze mit dem Spitznamen Mogambo tagsüber gefälschte Handtaschen verkaufte und sich nachts als Gigolo betätigte, und schließlich, dass einer der Jungen aus der Provinz den Sohn seines Onkels erschossen hatte. Es war, als ob die Wände der Küche uns diese Informationen zuflüsterten.
Mit jedem meiner Mitbewohner tauschte ich Begrüßungen und ein paar Worte aus, doch Freundschaften schloss ich keine. Die einzige Person, mit der ich gerne sprach, war Tevhide. Sie war fünf Jahre alt, das einzige Kind im Haus. Mit ihren stümperhaft geschnittenen kurzen Haaren und ihren großen, neugierig blickenden dunkelgrünen Augen glich sie einem glänzenden Wassertropfen. Bei unserer ersten Begegnung gab sie mir mit einem Wink ihres kleinen Fingers zu verstehen, dass ich mich zu ihr herabbeugen sollte. »Weißt du, dass es eine Zahl >Eintausendfünfhundert< gibt?«, flüsterte sie mir ins Ohr, als gäbe sie ein verblüffendes Geheimnis preis. »Tatsächlich?«, fragte ich zurück, Erstaunen mimend. »Ich schwöre es«, sagte sie, »ich habe es heute von einer Freundin erfahren.«
Wenn ich Tevhide und ihren Vater nicht in der Küche antraf, aß ich gewöhnlich schnell meine Mahlzeit, Brot und Käse, trank dazu ein paar Gläser Tee und ging in mein Zimmer hinauf. Dann betrachtete ich für eine Weile von meinem Balkon aus das Treiben auf der Gasse, um mich schließlich in die Lektüre des Mythologie-Lexikons zu vertiefen, das zu verkaufen ich nicht übers Herz gebracht hatte. Ich ließ mich davontragen von einer jahrtausendealten Vorstellungskraft, die uns bekanntmachte mit Göttern schlimmer als Menschen, mit unendlichen Kriegen, Gier, Neid und anderen Übeln, aber auch mit romantischen Abenteuern. Und ich vergaß darüber die Welt, in der ich lebte.
Der Herbst mit all seiner Unausweichlichkeit und Pracht begann seinen Einzug in die Stadt. Das Wetter war kühler geworden, und Schulen und Universitäten hatten wieder aufgemacht.
Eines Abends fragte mich in der Küche jemand, dessen Namen ich nicht kannte, ob ich interessiert sei, nach den Vorlesungen etwas zu arbeiten. Der Verdienst sei gering, die Arbeit dafür leicht. Ich sagte »Ja«, ohne nachzudenken, konnte ich doch jede Lira...
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