Schweitzer Fachinformationen
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Grobknochig wie ein aufgebahrtes Skelett liegen die Höhenzüge des Karsts zwischen der fetten friulanischen Ebene und den beginnenden Weiten des Balkan. Kommt man aus der venetischen Lagunenlandschaft, steigt die Adriaküste hinter den Sandstränden bei Grado plötzlich an. Zwischen Meer und Karst passen bald nicht mehr als eine Straße und eine Bahnlinie. Allzu schroff erheben sich die Felsen über der Brandung, bilden natürliche Balkone und phantastische Aussichtsplattformen. Diese Steilküste ist im letzten Jahrhundert ein bevorzugter Bauplatz für die Adelssitze der Potentaten des Habsburgerreiches gewesen. Architekturinteressierte aus aller Welt besuchen bis heute die eklektischen Bauten, allen voran Miramare, das Schloss des unglücklichen Kaiserbruders Maximilian.
Von den Sakralbauten jener Epoche haben sich nur wenige erhalten. Die katholische Kirche und die ihr zugehörigen Orden pflegten ihre Reichtümer anderswo zu investieren. So ist beispielsweise das Augustiner-Kloster Zum Heiligen Kreuz, das auf einer plateauartigen Felsnase hoch über dem Adriatischen Meer sitzt, kaum noch als Sehenswürdigkeit zu bezeichnen. Seit über 30 Jahren sind die Wohn- und Wirtschaftsgebäude verlassen, findet kein Gottesdienst, finden keine Andachten in der Kirche mit dem befremdlich wirkenden romanischen Portal mehr statt. Seit über 30 Jahren verrichten die heftigen Herbst- und Frühjahrsstürme, verrichtet die berüchtigte Bora ihr vernichtendes Werk an den Wänden, vor allem aber an den Dächern der Klostergebäude, beschleift wie ein wütender Gegner Mauern und Balken.
Der Verfall der Anlage begann wenige Tage, nachdem die letzten vier Klosterbrüder nach dem Tod ihres Abtes das Gebäude verlassen und bei einer anderen Kongregation Aufnahme gefunden hatten. Damals tobte ein besonders heftiger Sturm über die adriatische Küste. In allen Ansiedlungen zwischen Triest und Grado wurden die Fenster verrammelt und die Gebäude gesichert. Zwei Tage und Nächte lang wagte sich niemand ohne triftigen Grund auf die Straße, obwohl in den Städten längst die Halteseile entlang der größeren Wege und Plätze gespannt worden waren, an denen man sich an Sturmtagen gewohnheitsmäßig vorwärts zu hangeln pflegte.
Das verlassene Kloster am Karst musste zum ersten Mal seit seiner Gründung ungeschützt den tobenden Winden widerstehen. Es war ein ungleicher Kampf. Zum Teil einzeln, manchmal in ganzen Reihen, wurden die Ziegel der längst baufälligen Wirtschaftsgebäude zu Boden gerissen, wo sie aufschlugen und scheppernd zu Bruch gingen, sodass jeder nächste Windstoß das Werk seines Vorgängers fortführen konnte. Da auch nach Abflauen der Winde niemand die klaffenden Löcher reparierte, die freigelegten Balken sicherte, fiel es der Bora, diesem reißenden Sturmwind, Jahr für Jahr leichter, die über Jahrhunderte gepflegte und ausgebaute Klosteranlage zu zerstören.
Längst ist das Gelände mit den verfallenen Gebäuden die Wohnstätte zahlreicher Nager und anderer Kleintiere, ein ertragreicher Nahrungshort also für die Raubvögel, die mit ihren hungrigen Schreien das Meer und die angrenzende Steilküste beherrschen. Die bröckelnden Mauern des Wohntraktes sind mit dem Kot der Vögel ebenso wie mit den Knochenresten ihrer Beutetiere überzogen. Wie bizarr gesprenkelte Waben umgeben die früheren Zellen der Fratres einen aus rohen Steinen errichteten, seit langer Zeit deckenlosen Duschraum, aus dessen Ziegelboden ein verkrüppelter Feigenbaum neben einigen Macchiasträuchern wächst.
Das Refektorium, der ehemalige Speisesaal der Mönche, grenzt östlich an den Schlaftrakt. Hier ist der hölzerne Dachstuhl komplett eingestürzt und hat das ungewöhnlich farbenfrohe Bodenmosaik unter sich begraben. Von den inneren Wänden lappen grauweiße Putzfladen und legen das Mauerwerk aus gebrannten Ziegeln frei.
Nur die Kirche und der ihr angegliederte Kreuzgang, die das Ensemble nach Westen abschließen, sind besser erhalten. Vor allem dem Kreuzgang hat die Bora weniger zusetzen können. Seine quadratische Grundform, die gedrungene, zweigeschossige Bauweise, das doppelt gedeckte, außergewöhnlich flache Ziegeldach und der nicht sehr hoch aufragende ebenfalls quadratische Turm strahlen immer noch eine gewisse Eleganz aus.
Gerade zieht ein Falke einen weiten Kreis über den Innenhof, sein Schatten gleitet von Wand zu Wand und streift eine menschliche Gestalt auf der sonnigen Seite des Hofes. Aufmerksam geworden hebt sie den Kopf. Der Falke bleibt ohne einen einzigen Flügelschlag in der Luft stehen, sekundenlang begegnen sich die Blicke von Mensch und Raubvogel in einem stummen Duell, dann begreift der Falke, dass das Lebewesen auf dem Klostergelände wohl kaum zu der Kategorie seiner Beutetiere gehören kann, und dreht ab.
Der Mensch im Klosterhof schaut dem Vogel lange hinterher, als wolle er ihn neuerlich herausfordern. Erst als sich die Silhouette des Vogelleibs im Dunst über dem Meer verloren hat, senkt der Mensch seinen Blick. Bedächtig wischt er sich die Hände an der weiten Baumwollhose ab und beugt sich über den Spaten, der neben ihm im Boden steckt. Der Fuß in dem Turnschuh tritt auf die Kante des Blattes und dirigiert einen Stich zwischen krautigen Lavendel und üppig wuchernden Rosmarin.
Im Umkreis einer verfallenen Zisterne haben sich die Strukturen eines klösterlichen Kräutergartens erhalten. Streng symmetrisch angelegt, fassen dorrende Buchsbaumgerippe die ehemaligen Beete ein, deren Bewuchs zum Teil auch ohne Pflege überleben konnte. Das Grün der verwilderten Sträucher wirkt im Licht der Morgensonne blau. Pelzige Salbeiblätter beschatten einen wilden Thymian, der winzige Blüten zeigt. Das Skelett einer abgestorbenen Rose dient als Kletterhilfe für ein anspruchsloses Malvengewächs.
Nach jedem Stich wirft die grabende Gestalt den Bodenaushub weit nach hinten. Die trockene Erde ist durchsetzt mit Wurzeln und Steinen, sie bröselt auf das Pflaster des inneren Rundwegs, dessen Ziegel brüchig und von der intensiven Strahlung der norditalienischen Sonne hellgelb gebleicht sind. Würmer und Asseln, die die jähen Stürze überlebt haben, kriechen zwischen den Brocken hervor und irren über das Ziegelpflaster. Ein weiterer Stich fördert Scherben zutage. Rötlich getöntes Glas mit plumpen Pressnarben. Nichts, was auf die Glasbläsertradition der Gegend hinweisen könnte, auf Grado und Murano, die beiden nicht weit entfernten Lagunenstädte. Vielmehr handelt es sich bei den Scherben um Böden und Seitenteile von einfachen Bechergläsern.
Haben daraus die letzten Augustinermönche ihr Wasser und ihren Wein getrunken? Aber warum liegen die Scherben im Klosterhof?
Die Gestalt in den Turnschuhen grübelt über diese müßigen Fragen nach, während sie wie mechanisch weitergräbt. In der Achsel ihres weiten Baumwollhemdes bilden sich erste Schweißflecken. Von Stich zu Stich wird die Erde lehmhaltiger und damit schwerer. Nur durch mehrmaliges Stoßen und Treten lässt sich der Spaten noch im Boden versenken.
Es ist Ostersonntag, zehn Uhr am Morgen, und die Grube erst einen knappen Meter lang und zu flach, um einen Toten aufzunehmen. Der Spaten erreicht die äußere Grenze des Kräutergartens, entwurzelt zwei Thymianbüsche und einen Currystrauch. Behutsam werden die Pflanzen neben die zerfallene Zisterne in der Mitte des Kreuzganges platziert. Der Tote, ein schmaler junger Mann mit auffallend blonden Haaren und einem hart geschnittenen Kinn, liegt im Schatten auf der Ostseite des Ziegelwegs. Er trägt eine helle Cordhose und ein blau-grün kariertes Hemd, dessen Knöpfe bis zum Hals geschlossen sind. Der Riss über der linken Brustseite hat den Stoff ausfransen lassen. Die Fasern sind in einem Schwall von Blut erstarrt, das jetzt krustig schwarz eine klaffende Wunde einrahmt. Die Füße des Toten stecken in auffallend gut geputzten schwarzen Schnürschuhen. Es ist noch nichts Unappetitliches an seinem Gesicht. Nur hat niemand seine Augen geschlossen, sodass ihr im Erstaunen über einen allzu plötzlichen Tod erstarrter Blick gezwungen ist, jetzt auch die Bemühungen um seine letzte Heimstatt zu verfolgen.
Zur Mittagszeit streift der Falke auf seinem Flug den Hafen von Triest und gleich darauf den gewaltigen Aufmarsch- und Paradeplatz hinter dem Hafen, ein Areal von der Größe des Markusplatzes in Venedig, den an drei Seiten Prachtbauten aus der Ära Maria Theresias umgeben. An der vierten Front, der Hafenmole, ragen Anleger weit ins Meer. Sie ruhen wie Betonfinger auf dem Wasserspiegel, flankiert von Möwen, die gleichmütig auf müden Wellen wippen und keinen Blick für den Raubvogel haben, der hoch über ihnen durch den Frühjahrshimmel segelt.
Über die Mole schlendern müßige Triestiner Familien, die Herren korrekt gekleidet bis zum Einstecktuch, die Damen auf hohen Schuhen und in engen Röcken, die Kinder mit weißen Strümpfen und blauen Jacken. Es ist zwölf Uhr am Mittag, Zeit für den Osterspaziergang. Die Flanierenden drehen eine Runde um den Platz und verweilen eine angemessene Zeitspanne in der Nähe der Blaskapelle, die sich neben dem Standbild im vorderen Drittel postiert hat und Märsche intoniert. Nach der dem Musikgenuss gewidmeten Pause folgt in ritualisierter Gewohnheit der Gang über einen der Betonanleger bis hinaus zur Meereskante.
Die Gestalt in den erdverkrusteten Lederturnschuhen und dem schweißfleckigen Hemd schlendert auch über die Mole. Sie lenkt alle Blicke auf sich. Niemand kennt sie, sie fügt sich nicht ein in das Bild dieses Ostersonntags, den man wie jedes Jahr mit dem Gottesdienst, dem Spaziergang und einem sich anschließenden heimischen Festmahl begehen möchte. Die Gestalt stört. Sie riecht schlecht. Die Triestiner machen einen...
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