1. Meine erste Berührung mit Indonesien
"Wir lernen Menschen nicht kennen,
wenn sie zu uns kommen.
Wir müssen zu ihnen gehen,
um zu erfahren, wie es mit ihnen steht."
(J. W. von Goethe)
Eine junge Dame, sehr hübsch, kommt auf mich zu. Sie hält mir ein Foto entgegen und fragt: "Are you Mike?" Ich bin überwältigt und überrascht. Sari wollte einen Freund vorbeischicken und auf einmal dieses bezaubernde Mädchen. Sie lächelt mich mit ihren dunklen, brauen Augen an. Ihr Name ist Ari. Wir gehen zum Busstand. Als wir das Flughafengebäude verlassen, glaube ich in einem Backofen zu stehen. Warme Luft strömt mir entgegen, beinahe so, als ob mir ein Fön ins Gesicht gehalten wird. Die Luft ist dazu sehr schwül. Schnell läuft der erste Schweiß, nachdem es im Gebäudekomplex des Flughafens noch angenehm temperiert war.
Beim Busstand wartet bereits Aris Bruder Sumanto. Wir verstehen uns auf Anhieb blendend. Gemeinsam fahren wir circa eine Stunde mit dem Bus der Linie DAMRI zum Bahnhof.
Der Strom von Rußwolken ausstoßenden Bussen, überladenen Lieferwagen, verrosteten und verbeulten Autos, waghalsigen und mutigen Händlern mit ihren Wagen und Ständen und mittendrin unzähligen Mopeds und Motorrollern reißt einfach nicht ab - das perfekte Chaos.
Jakarta ist eine riesige Metropole. Ich bin froh, dass ich die beiden an meiner Seite habe. Jakarta liegt an der javanesischen Nordwestküste, am Fluss Ciliwung.
Niemand kann genau sagen, wie viele Menschen in der indonesischen Hauptstadt leben - die Schätzungen gehen auf 8,4 Millionen. Sicher noch mehr. Was mir sofort auffällt, ist die enorme Ausdehnung der Stadt. Und, wie ich später in einem Bericht lese, sind Hunderttausende vom Land nach Jakarta gekommen, um hier Arbeit zu finden. Die Randbezirke ufern immer weiter aus. Es entstanden dadurch große Slumgebiete, die übersät sind mit ärmlichen Hütten, in denen Menschen leben, ohne Strom und ohne Wasser.
Jakarta wurde ursprünglich von den europäischen (holländischen) Eroberern in `Batavia` getauft. Zuvor hieß es, seit 1527, Jayakarta. Mehr als drei Jahrhunderte blieben die holländischen Kolonialherren, bis zum Ende der 1940er Jahre. Seit der Sprachreform zu Beginn der 1970er Jahre heißt es Jakarta. 1945 wurde die Unabhängigkeit durch den damaligen Präsidenten Sukarno proklamiert. Zu dieser Zeit lebten etwa 600.000 Menschen in der Stadt. Danach explodierte sie förmlich.
Wir schreiben das Jahr 2000. An der Jalan Thamrin (Jalan bedeutet Straße) reihen sich Hochhäuser, Hotels und Bürogebäude aneinander. Nur einen Straßenzug weiter stehen Lehmhütten, Holzbaracken und Notunterkünfte. Dazwischen Abfall, in dem die Menschen mit den Händen nach Verwertbarem wühlen. Ein offen liegender, stinkender Abwasserkanal gibt dem Bild noch einen abschließenden Rahmen. Lastkraftwagen und Busse verpesten mit dicken, schwarzen Abgaswolken die Luft. Die rasante Entwicklung ist hier längst an ihre Grenzen gestoßen. Jahrelang gab es keine Stadtplanung. Busse und Züge sind überfüllt, selbst auf dem Dach der Züge sitzen Menschen. Auch hier in der Hauptstadt gibt es Wassermangel und ungleiche Verteilung. Die Armen säubern ihre Wäsche in Kanälen, in die auch Fäkalien geleitet werden. Diese Wasserläufe dienen auch für das tägliche Bad. Krankheiten sind somit programmiert.
Was werden wohl die nächsten Tage bringen? - denke ich noch so bei mir. Letztendlich gibt es nur eine Antwort: Ich muss es angehen.
In meiner Kindheit genoss ich das Privileg, sorgenfrei aufzuwachsen, was ich in erster Linie meinen Eltern zu verdanken habe. Wenn man weiterdenkt, stellt sich die Frage: "Hat nicht jeder auf unserer Welt das Verlangen glücklich zu sein?" Sicher doch, diesen Wunsch hegt jeder Mensch. Leider ist die Situation jedoch die, dass es deutliche Unterschiede auf der Erde gibt. Haben wir aber nicht auch tief in unserem Inneren den Wunsch, etwas auf dieser Welt zu verändern und sogar zu verbessern? So gibt es bestimmt Situationen in unserem Leben, die uns beeinflusst haben. Ein solcher Moment war für mich meine erste Reise nach Indonesien. Dieser richtungsweisende Moment hat meine Anschauung verändert und mein Gewissen und Denken angeregt. Wir sind verantwortlich für die Dinge, die wir tun, aber auch für die Dinge, die wir nicht tun. Wir alle haben eine Verantwortung, nicht nur für unser eigenes Leben, sondern auch für die Gemeinschaft.
Eins wollte ich irgendwann später nicht bereuen: Dinge, die ich nicht getan habe. Es wird keine bessere Welt geben, wenn jeder nur davon träumt. Erst wenn jeder, im Rahmen seiner Möglichkeiten, handelt und sich einbringt, wird dieser Traum wahr. Verantwortung zeigen für unsere Erde ist unsere Aufgabe. Das wahre Gefühl von Glück ist dann gegeben, wenn wir das bewusst genießen, was wir haben und wenn wir geben.
Doch zurück zu meiner ersten Berührung mit Indonesien:
Nachdem ich etwa ein Jahr lang in der Schule Englischunterricht hatte, kam es dazu, dass ich durch einen Briefklub eine Adresse aus Indonesien in meinen Händen hielt. Ich schaute auf den Globus und war fasziniert, wie weit weg dieses Land von meinem Wohnort war. Unglaublich - man kann ja fast von hier aus durchgraben und kommt am anderen Ende der Welt, in Indonesien, heraus. Also schrieb ich einen Brief und schickte auch eine Ansichtskarte von meinem Heimatort mit. Einige Zeit später kam auch tatsächlich eine Antwort. Ganz stolz hielt ich den Brief in meinen Händen, auf dem eine bunte Briefmarke klebte. Im Brief selbst lag auch eine Ansichtskarte mit einer Landschaftsansicht eines Reisfeldes und mit Bergen im Hintergrund. Ich war begeistert. Aus dem Brief erfuhr ich, dass mir ein älterer Herr geschrieben hat. Er erzählte mir über seinen Wohnort und seine Familie und dass er es gut finden würde, wenn ich doch lieber mit seiner Enkelin schreiben würde, da sie in meinem Alter sei.
So begann schließlich meine langjährige Brieffreundschaft mit dem Mädchen Sari Asih Nastiti aus Banyumas. Wir schrieben uns fortan regelmäßig, schickten uns bunte Karten mit verschiedensten Ansichten und berichteten über Land und Leute. Es war ein wunderbarer Austausch.
Natürlich kommt dann auch mal der Gedanke, sich sehen zu können. Doch das war aufgrund der beschränkten Reisefreiheit in der DDR, wo ich lebte, nicht möglich. Aber es war "unser" Traum.
Nachdem die Grenzen gefallen waren, befanden wir uns zunächst noch in Ausbildung, schrieben aber weiter wie die Weltmeister. Im September 1999 kam ein Brief von Sari mit einer Einladung zu ihrer Hochzeit. Zunächst dachte ich tatsächlich, sie möchte mich einladen, dass wir beide heiraten. Doch es stellte sich heraus, dass sie mich gern als Gast dabei hätte. Ich freute mich `trotzdem` für sie und musste nicht lange überlegen. Wann erhält man schon mal eine Einladung zu einer traditionellen indonesischen Hochzeitszeremonie?
Diese für mich noch fremdartige und exotische Welt auf der gegenüberliegenden Seite der Erdkugel wollte ich unbedingt genauer kennenlernen.
Schon von Anbeginn, vom ersten Gedanken an diese Reise, schien das Blut in den Adern schneller zu fließen, das Herz energischer zu pochen und der Körper energiegeladener zu sein.
Es gibt verschiedene Gründe auf eine Reise zu gehen. Entweder fühlt man sich so stark und möchte Bäume, ja ganze Wälder, ausreißen, hat Zeit und auch das nötige Geld und hat den gewissen Entdeckergeist oder aber man ist an einem Tiefpunkt im Leben, ob durch den Job, Arbeitslosigkeit, nach einer Krankheit oder Probleme in der Partnerschaft und möchte einfach nur weg.raus aus dem tristen Alltag. Die große weite Welt scheint sich dann für alles und jeden zu öffnen. Man kennt und erkennt in solchen Momenten keine Grenzen. Doch für viele verebbt diese Euphorie wieder sehr schnell. Das ist zwar schade, doch es muss jeder für sich entscheiden. Ich, für meine Person, hatte meine Entscheidung getroffen: Es geht auf Reise! Ich möchte Neues entdecken! Die Vorbereitungen konnten beginnen. Mein Traum sollte wahr werden und dafür, dass es so wird, bin nur ich allein verantwortlich. Ich war entschlossen.
Nun hieß es für mich, die Reise zu planen.
Zur selben Zeit, als ich mich zu dieser Reise entschlossen hatte, wurden in mir zwei Stimmen laut. Die erste Stimme, die vielen Individualreisenden vertraut ist, die manch einer aber nur ungern zugibt, mahnte zur Vorsicht und sagte: Bleib daheim, es ist nicht einfach allein, gerade bei solch einer Reise! Aber die andere Stimme, die, die mir schließlich Mut machte, sagte: So etwas wird Dir sicherlich nicht gleich wieder geboten. Nimm es wahr. Es wird dein Leben bereichern! Und diese zweite Stimme, die nur flüsternd begann, wurde stets lauter, je mehr ich mich mit dem Thema Indonesien befasste. Und diese Stimme sollte Recht behalten.
Ich hatte mir vorgenommen, da ich ja sowieso eine große...