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11. Mai 1561, Finca Can Tamany, Sóller
Der Kuchen war der zündende Auslöser für die Ereignisse, die Jahrhunderte später in den Geschichtsbüchern verewigt werden sollten. Weder die drohende Gefahr, gewaltsam entehrt zu werden, noch die Aussicht, die letzten Momente dieses bedauernswerten Daseins zu erleben, hatten es vermocht, jene erstaunlichen Kräfte zu mobilisieren.
Vor Raub fürchtete sich Catalina Casasnovas nicht. Wer kaum etwas besaß, hatte wenig zu verlieren. Außer ihrer Würde. Und dem nackten Leben.
Die frühe Morgensonne arbeitete sich über die hohen Gipfel der Tramuntana und warf dämmriges Licht durch die schmalen Fenster des Erdgeschosses der Sandsteinfinca.
Catalina lehnte sich gegen das verwitterte Holz des Esstisches in der Küchenstube und starrte auf den unförmigen Teigberg vor sich: in drei Tagen erhungert, in einer Stunde zubereitet.
Der Duft nach frisch Gebackenem hing in der Luft und versprach mehr, als das armselige Gebilde hergab. Es hatte Catalina Mühe gekostet, die spärlichen Zutaten in eine ansehnliche Form zu bringen. Die letzte Tasse Johannisbrotkernmehl und ein im Tausch für eine Näharbeit ergattertes Ei hatten letztlich die Masse verdickt, sodass sie nun auf einem Tonteller abkühlen konnte.
Es gab nie genug Nahrung, und zu mehr hatte es nicht gereicht. Doch angesichts der Ereignisse dieser Nacht war es absurd, sich über Kuchen den Kopf zu zerbrechen.
Catalina schloss die Augen in der vergeblichen Hoffnung, nach dem Öffnen aus dem Nachtmahr zu erwachen. Doch die Wirklichkeit löste sich nicht einfach auf. Dreiundzwanzig vor Anker liegende Piratengaleeren in der Bucht von Sóller! Die Korsaren hatten tatsächlich in dieser Nacht angegriffen.
Die Alarmglocken, die Capitán Angelats auf der Dorfplaza geläutet hatte, waren bis hier draußen zu hören gewesen und hatten Catalina und ihre Schwester Francisca aus dem Tiefschlaf gerissen.
Sie betastete die brennende Schürfwunde am Ellenbogen, die sie sich vor Schreck beim Stolpern über die Bettpfanne zugezogen hatte.
Zwar war die Warnung eines geplanten Großangriffs schon vor Tagen angekommen - gebenedeit seien die mallorquinischen Spione im Mittelmeer. Dennoch hatte man in Sóller der Dinge geharrt und im Stillen gehofft, wenigstens dieses Mal verschont zu bleiben. Schließlich gab es andere wohlhabende Häfen wie Andratx oder Pollença.
Catalina seufzte. Hoffnung, das Elixier der Träumer.
Während sie hier ihren Geist mit Kuchenbacken vor der Hysterie bewahrte, kämpften die Sóllerics draußen am Strand um ihrer aller Leben. Glücklicherweise hatten die Männer des Ortes gleich nach der Warnung ein Heer formiert und den vermaledeiten Piraten die Überraschung verdorben. Doch würden sie es schaffen, die Angreifer in die Flucht zu schlagen?
Dreiundzwanzig Galeeren . Ihre Gedanken sprangen sofort zu Juan, und die Angst griff mit kalten Fingern nach ihrem Herzen. Im Stillen bat sie dessen Santo, den heiligen Johannes, in der anstehenden Schlacht seine schützende Hand über ihren Bruder zu halten. Nach kurzem Zögern bekreuzigte sie sich. Schaden konnte es nicht.
Von Catalinas Mangel an Glauben ahnte außer ihren Geschwistern niemand etwas. Die Inquisitoren zu der langen Liste ihrer Misslichkeiten hinzuzufügen, fehlte zu ihrem Glück wie die Beulenpest. Dem Himmel war es gewiss egal. Verlorene Tochter und der ganze Kramanz . Gott sei gnädig, hieß es.
Himmel und Erde verbündeten sich dieser Tage, um die Menschen mit geeinter Härte zu bestrafen. Der letzte Starkregen lag seit Allerheiligen zurück, und die resultierende Dürre machte das Angebot der Marktstände spärlicher, die schmalen Antlitze der Leute knochiger und die Schultern gebeugter. Als reichte das nicht aus, spielte das Leben ihnen noch mit niederträchtigen Piratenangriffen übel mit.
Catalina richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Ergebnis ihrer Backkunst. Wenn Francisca schon das Pech hatte, an diesem schwarzen Tag volljährig zu werden, sollte sie wenigstens einen Geburtstagskuchen bekommen. Seitdem ein hohes Fieber die Eltern im letzten Winter dahingerafft hatte, fühlte Catalina sich verantwortlich für ihre Schwester, obwohl Francisca zwei Jahre älter war. Sie lächelte zum ersten Mal an diesem Tag, entfernte mit den Zähnen die klebrigen Krümelreste unter ihren Fingernägeln und ließ sie auf der Zunge zergehen. Ihr durch den ständigen Hunger geschrumpfter Bauch reagierte sofort mit einem Knurren auf die charakteristische Süße der gemahlenen Johannisbrotschoten.
Im ersten Stock fiel etwas mit lautem Poltern zu Boden. Ein Aufschrei folgte.
Catalinas Herz machte einen Satz. »Francisca?«, rief sie besorgt in das obere Geschoss hinauf.
»Alles in Ordnung.« Am Treppensatz erschien das Antlitz ihrer Freundin María, kugelrund im Gegensatz zu Catalinas hohlwangigem - ein Resultat der letzten Monate im Dienste der Gräfin de Falcó, deren Mägde selten Hunger litten. Wie die anderen Frauen Sóllers, die außerhalb des Dorfs und in den Bergen vor dem Angriff Unterschlupf gesucht hatten, war María vor zwei Tagen in die abgelegene Finca der Casasnovas-Schwestern geflüchtet.
Catalina presste die Hand auf ihren Brustkorb, bis ihr Herz in den gewohnten Takt zurückfand. Sie bemühte sich, ihrer Stimme einen ruhigen Ton zu verleihen. »Franciscas Überraschung ist gleich fertig, ihr könnt bald runterkommen.«
María musterte sie einen Augenblick und schien Catalinas aufgesetzte Zuversicht zu durchschauen. »Es wird alles gut, meine Liebe. Wir werden diese Barbaren schlagen.« Ihre Worte klangen überzeugt.
»Und wenn nicht?« Catalina schluckte hart. Dies war der größte Überfall, den die Insel bisher erfahren hatte, und es gab nur zwei Alternativen für Sóller: Triumph oder Untergang. Die Auslöschung ihres Dorfes.
»Fünfhundert Männer. Das ist ein beachtliches Heer. Nicht eingerechnet die Verstärkung der hundert Burschen aus Bunyola und der Bandoleros aus den Bergen.«
»Bandoleros.« Catalina schnaubte. »Wer hätte gedacht, dass selbst Banditen einen Funken Anstand und Ehre besitzen.« Dennoch setzte sie auf die Straßenräuber, denn sie verfügten als Einzige über Gerissenheit und Kampferfahrung. »Aber da draußen liegen dreiundzwanzig Schiffe. Ich schätze über tausendfünfhundert Piraten.«
María zuckte unbeeindruckt die Schultern. »Die haben erwartet, ein unvorbereitetes Dorf im Schlaf zu überraschen. Wir sind im Heimvorteil. Sie kennen unsere Berge nicht.«
Catalina seufzte. Sie hatten diese Gedankenschleife allstündlich durchgespielt. »Es bleibt uns nichts anderes, als abzuwarten. Wie weit seid ihr?«
»Wir haben es endlich geschafft, den Stein aus der Wand zu lösen. Dabei ist er mir leider auf den Fuß gefallen.«
Catalina nickte halbherzig, die Sorge um die Schlacht ließ sich nicht einfach abschütteln. »Und?«
»Man muss gezielt danach suchen, um es zu entdecken.«
Bei ihnen würde niemand etwas Wertvolles vermuten. »Beschäftige Francisca noch ein paar Minuten. Der Kuchen ist fast so weit.«
María nickte und verschwand im oberen Stockwerk.
Gedankenverloren starrte Catalina auf den Holztisch, wo ihr Finger durch die Krümelansammlung um das Gebäck fuhr und ein M hineinzeichnete. M für Molt anys - Glückwünsche zum Geburtstag.
Ihre Lese- und Schreibfähigkeiten gehörten ebenfalls zu den Kenntnissen, die es in Aussicht auf eine problemlose Zukunft zu verbergen galt. Statt über Gott hatte Catalina sich von den Mönchen über die Schriftkunst belehren lassen und diesen Gefallen mit kleinen Näharbeiten vergütet.
Lesen und Schreiben schickte sich nicht für eine Frau, pflegte Juan zu sagen. So würde sie niemals einen Ehemann finden. Als ob die Fähigkeit, drei zusammenhängende Linien in den Staub zu zeichnen und ihnen einen Sinn zu entlocken, der Niederkunft eines Säuglings im Wege stünde.
Das altbekannte Zündeln des Ärgers loderte in ihr auf. Ungerechtigkeit schmeckte nach saurem Wein. Die Abhilfe für solche Momente stand griffbereit. Catalina trank einen Schluck aus dem Wasserkübel und löschte ihre Wut, bevor sie das Denken verhinderte und die Vernunft in Dunkelheit versenkte. Denn von der Leine gelassen, führte dieses Ungetüm, das sie in sich trug, wahrlich zu unziemlichem Benehmen.
Es hieß, es sei ein Erbe der Alcovers, der mütterlichen Seite ihrer Familie, die diesen Zug schmeichelhaft carácter nannten, obwohl Jähzorn es präziser traf. Muhme Eugenia besaß ihn, deren sanftmütiger Mann eines windstillen Tags friedlichere Gewässer gesucht hatte und nach dem Fischen auf spiegelglatter See nicht zu seiner Frau zurückgekehrt war. Auch Oheim Jaimes lautstarke Weigerung, den Gesandten des Königs drei Säcke Getreide abzutreten, wurzelte in dieser Wut. Cojones hatte er besessen, der gute Jaime - wenn auch danach kein Haupt mehr.
Catalina wischte sich die feuchten Hände an der Schürze über ihren schweren Leinenröcken ab, die ursprüngliche Farbe des Stoffs war vom häufigen Waschen und Flicken bis zur Unkenntlichkeit verblasst. Nachdenklich betrachtete sie den Kuchen. Eingefallen, trocken und krustig wie das Gemüsefeld hinter dem Haus.
Während sie mit dem Reisigbesen letzte Erdklumpen vom Lehmboden entfernte, durchquerte Catalina die L-förmige Stube zum Eingangsportal. Sie schob den schweren Riegel zurück und zog den massiven Holzbalken aus den Haltehaken. Eine Blume würde das Gebäck gebührlich verzieren und die hässlichsten Dellen verbergen.
Kühle Morgenluft schlug ihr entgegen, als sie in den von...
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