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»Ich will dir erzählen, was aus uns geworden ist, nachdem du fort warst.« Mit diesen Worten richtet sich Isabel Allende in Das Siegel der Tage an ihre verstorbene Tochter Paula. Heitere, traurige, oft unglaubliche und doch immer tröstliche Geschichten, die sich nach dem schmerzhaften Verlust ihrer Tochter im Kreise des Allende-Clans zugetragen haben, hat die chilenische Erfolgsautorin hier aufgeschrieben.Mit lebenskluger Wärme erzählt sie von unverhofften Begegnungen, Liebschaften, Trennungen und Versöhnungen; von den beiden lesbischen buddhistischen Nonnen, die sich wie selbstverständlich eines elternlosen Säuglings annehmen, oder von dem stoischen Buchhalter, der sich auf Befehl seiner chinesischen Mutter auf die Suche nach einer Ehefrau macht. Und schließlich lesen wir von der schicksalhaften Liebe zwischen zwei reifen Menschen, die gemeinsam alle Stromschnellen und Untiefen des Lebens gemeistert haben.
Mit Wärme, Humor und ihrem handfesten Sinn dafür, wie sich dem Leben in all seinen Formen begegnen lässt, erzählt Isabel Allende in Das Siegel der Tage von den schwierigen Zeiten nach dem Verlust ihrer Tochter Paula und von den erfüllten Tagen im Zentrum einer überaus farbigen Großfamilie.
In der zweiten Dezemberwoche des Jahres 1992, als es eben zu regnen aufgehört hatte, brachen wir im Kreis der Familie auf, um deine Asche auszustreuen, wie du, Paula, das, lange bevor du krank geworden warst, in einem Brief verfügt hattest. Dein Mann Ernesto war aus New Jersey, dein Vater aus Chile angereist, kaum daß wir sie über das Geschehene benachrichtigt hatten. Sie trafen rechtzeitig ein, um von dir Abschied zu nehmen – du lagst aufgebahrt unter einem weißen Laken –, ehe man dich zur Einäscherung brachte. Danach versammelten wir uns in einer Kirche, hörten die Messe und weinten miteinander. Dein Vater hätte eigentlich nach Chile zurückgemußt, wartete jedoch, daß der Regen nachließ, und als sich zwei Tage später schließlich die ersten zaghaften Sonnenstrahlen zeigten, fuhr die ganze Familie in drei Autos zu einem Wald. Dein Vater saß im ersten Wagen und führte uns. Er kennt sich hier nicht aus, hatte die Gegend aber in den Tagen zuvor durchstreift und nach dem Ort gesucht, der dir der liebste gewesen wäre. Es gibt hier viele Stellen, die man hätte wählen können, die Natur ist verschwenderisch, doch durch eine dieser Fügungen, die schon üblich sind bei allem, was dich betrifft, Tochter, führte er uns in ebenden Wald, durch den ich häufig gewandert war, wenn ich meinen Zorn und Kummer lindern wollte, als du krank lagst, in den Willie mich zum Picknick ausgeführt hatte, als wir uns gerade kennengelernt hatten, in dem Ernesto und du Hand in Hand spazierengingt, wenn ihr bei uns in Kalifornien zu Besuch wart. Dein Vater fuhr ein Stück in den Nationalpark hinein, stellte das Auto ab und winkte uns, ihm zu folgen. Er brachte uns geradewegs zu der Stelle, die auch ich gewählt hätte, denn hier war ich häufig gewesen, um für dich zu beten: ein Bachlauf, gesäumt von hohen Sequoien, deren Kronen die Kuppel einer grünen Kathedrale bilden. Ein dünner Nebel hing in der Luft und ließ alle Konturen der Wirklichkeit verschwimmen; kaum ein Sonnenstrahl drang durch die Baumwipfel, aber die Blätter im Unterholz schimmerten winterfeucht. Der Boden roch würzig nach Humus und Dill. Dort, wo der Bach eine Biegung machte und das Wasser sich an Felsen und umgestürzten Stämmen etwas staute, blieben wir stehen. Ernst, mit bleichen Wangen, doch ohne eine Träne, denn die hatte er alle schon geweint, hielt Ernesto die Keramikurne mit deiner Asche in den Händen. Ein klein wenig davon hatte ich in einem Porzellankästchen verwahrt, um es immer auf meinem Altar zu haben. Nico hielt deinen kleinen Neffen Alejandro im Arm, und deine Schwägerin Celia hatte Andrea, die noch ein Säugling war, in Wollschals gewickelt an der Brust. Ich hatte einen Strauß Rosen mitgebracht, die ich, eine nach der anderen, ins Wasser warf. Danach nahmen wir alle, auch Alejandro mit seinen drei Jahren, eine Handvoll Asche aus der Urne und streuten sie ins Wasser. Einige Flocken trieben kurz zwischen den Rosen, doch die meisten sanken wie weißer Sand auf den Grund.
»Was ist das?« wollte Alejandro wissen.
»Deine Tante Paula«, sagte meine Mutter schluchzend.
»Sieht gar nicht so aus«, bemerkte er verwirrt.
Ich will dir erzählen, was seit 1993 aus uns geworden ist, nachdem du fort warst, und werde mich auf die Familie beschränken, weil die dich interessiert. Zwei von Willies Söhnen müssen dabei unerwähnt bleiben: Lindsay, weil ich ihn kaum kenne, wir uns nur etwa ein dutzendmal gesehen haben und über erste Höflichkeitsfloskeln nie hinausgekommen sind, und Scott, der auf diesen Seiten nicht auftauchen möchte. Du hattest ihn sehr gern, diesen hageren, einzelgängerischen Jungen mit der dicken Brille und den Wuschelhaaren. Heute ist er ein Mann von achtundzwanzig, sieht Willie ähnlich und nennt sich Harleigh; »Scott« hatte er sich mit fünf Jahren selber ausgesucht, weil ihm der Name gefiel, und er hat ihn lange benutzt, als Teenager aber schließlich den eigenen wieder für sich entdeckt.
Die erste, zu der meine Gedanken und Gefühle wandern, ist Jennifer, Willies einzige Tochter, die zu Beginn jenes Jahres zum dritten Mal aus der Klinik weglief, in der ihre geschundenen Knochen wegen einer der vielen Infektionen gelandet waren, die sie in ihrem kurzen Leben schon hatte durchstehen müssen. Die Polizei gab nicht einmal vor, nach ihr zu suchen, ihr Fall war nur einer unter vielen, und diesmal halfen auch Willies juristische Kontakte nicht weiter. Der Arzt, ein großgewachsener, zurückhaltender Philippine, der ihr durch schiere Hartnäckigkeit das Leben gerettet hatte, als sie fieberschlotternd in die Klinik eingeliefert wurde, und der sie bereits kannte, weil er sie die beiden vorangegangenen Male behandelt hatte, erklärte Willie, er müsse seine Tochter umgehend finden oder sie werde sterben. Wenn sie über Wochen massive Gaben von Antibiotika bekäme, könne sie durchkommen, sagte er, aber einen Rückfall werde sie wohl nicht überleben. Wir saßen in einem gelbgestrichenen Wartezimmer mit Plastikstühlen, Plakaten zu Mammographie und Aidstests an den Wänden und voller Patienten, die dringend darauf warteten, behandelt zu werden. Der Arzt nahm seine Nickelbrille ab, wischte sie mit einem Papiertuch sauber und antwortete nur zögernd auf unsere Fragen. Er hatte weder für Willie noch für mich viel übrig, hielt mich vielleicht für Jennifers Mutter. In seinen Augen waren wir schuld, hatten Jennifer vernachlässigt und kamen jetzt, zu spät, reuig zu ihm. Er vermied es, uns Einzelheiten zu nennen, weil die unter die Schweigepflicht fielen, aber Willie erfuhr doch, daß die zu Spänen gewordenen Knochen und die vielfältigen Infektionen seiner Tochter nicht alles waren, sondern ihr Herz nicht mehr lange mitmachen würde. Seit neun Jahren spielte Jennifer nun schon mit dem Tod Katz und Maus.
Wir hatten sie in den Wochen zuvor in der Klinik gesehen, an den Handgelenken fixiert, damit sie sich im Fieber nicht die Schläuche aus der Haut riß. Sie war süchtig nach nahezu allen bekannten Drogen, von Tabak bis Heroin; mir ist unbegreiflich, wie ihr Körper diesem Mißbrauch standhalten konnte. Weil man keine gesunde Vene fand, um ihr die Medikamente zu verabreichen, wurde ihr eine Sonde an eine Arterie der Brust gelegt. Nach einer Woche kam sie von der Intensivstation in ein Dreibettzimmer, das sie mit anderen Patienten teilte, war nicht mehr festgeschnallt und wurde weniger streng überwacht als zuvor. Von da an besuchte ich sie täglich und brachte ihr, was sie sich wünschte, Parfüm, Nachthemden, Musik, aber alles verschwand sofort wieder. Wahrscheinlich kamen ihre miesen Freunde außerhalb der Besuchszeiten vorbei und versorgten sie mit Drogen, die sie, weil sie kein Geld hatte, mit meinen Geschenken bezahlte. Als Teil der Behandlung bekam sie Methadon, das ihr helfen sollte, den Entzug durchzustehen, aber daneben verabreichte sie sich über die Sonde, was immer ihre Lieferanten ihr ins Krankenhaus schmuggelten. Ein paarmal war es an mir, sie zu waschen. Ihre Knöchel und Füße waren geschwollen, ihr Körper von Schrammen und Schrunden gezeichnet, von den Spuren infizierter Nadeln, von Narben und einem Piratenschmiß quer über den Rücken. »Von einem Messer«, war alles, was sie dazu sagte.
Willies Tochter war ein blondes Mädchen gewesen, mit großen blauen Augen wie ihr Vater, aber aus jener Zeit waren nur wenige Fotos geblieben, und niemand erinnerte sich mehr daran, wie sie gewesen war, die Klassenbeste, brav und adrett. Auf den Bildern hatte sie etwas Ätherisches. Ich lernte sie 1988 kennen, kurz nachdem ich nach Kalifornien gekommen war, um mit Willie zu leben, und damals war sie noch hübsch, auch wenn ihr Blick bereits ausweichend war und diese nebelhafte Unaufrichtigkeit sie umgab wie ein dunkler Schatten. Im Überschwang meiner frischen Liebe zu Willie wunderte ich mich nicht weiter, als er mich eines Sonntags im Winter in ein Gefängnis im Osten der Bucht von San Francisco mitnahm. Lange standen wir in einem unwirtlichen Hof in einer Schlange mit anderen Besuchern, fast ausschließlich Schwarzen oder Latinos, bis das Gittertor geöffnet wurde und man uns in ein düsteres Gebäude ließ. Die wenigen Männer wurden von den vielen Frauen und Kindern getrennt. Ich weiß nicht, was Willie erlebte, mir jedenfalls nahm eine uniformierte Matrone die Handtasche ab, schob mich hinter einen Vorhang und versenkte ihre Hände an Stellen, an die sich noch niemand gewagt hatte, das alles schroffer als nötig, vielleicht weil mein Akzent mich verdächtig machte. In der Besucherschlange hatte mich eine Bauersfrau aus El Salvador zum Glück vorgewarnt und gesagt, ich solle keine Scherereien machen, weil es dann noch viel übler würde. Endlich trafen Willie und ich uns in einem Trailer wieder, der für die Besuche der Gefangenen hergerichtet war, ein langer, schmaler Schlauch mit einer Trennwand aus Hasendraht, hinter der Jennifer saß. Sie war seit zwei Monaten im Gefängnis; sauber und gut genährt, wirkte sie, verglichen mit ihren vierschrötigen Mitgefangenen, wie ein Schulmädchen am Sonntag. Ihren Vater begrüßte sie unendlich niedergeschlagen. In den Jahren danach lernte ich, daß sie immer weinte, wenn sie mit Willie zusammen war, ich weiß nicht, ob aus Scham oder aus Groll. Willie stellte mich kurz als eine »Freundin« vor, obwohl wir schon seit einer Weile zusammenlebten, und blieb mit verschränkten Armen und trotzig gesenktem Blick vor dem Hasendraht stehen. Ich hielt mich etwas abseits und beobachtete die beiden, hörte durch das Gewirr der anderen Stimmen Fetzen ihres Gesprächs mit.
»Weshalb diesmal?«
»Was soll die Frage? Das weißt du doch. Hol mich hier raus, Papa.«
»Kann ich nicht.«
»Bist du Anwalt oder was?«
»Das letzte Mal habe ich dir gesagt,...
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