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»Hör mir zu, Paula, ich erzähle dir eine Geschichte, damit du nicht so verloren bist, wenn du wieder aufwachst.« Das Unfassbare geschah im Dezember 1991, als lsabel Allendes Tochter Paula plötzlich schwer erkrankte und kurz darauf ins Koma fiel. Eine heimtückische Stoffwechselkrankheit hatte die lebensfrohe junge Frau jäh niedergeworfen, im Herbst 1992 starb sie.
Das Schicksal ihrer Tochter wurde für lsabel Allende zur schwersten Prüfung ihres Lebens. Um die Hoffnung nicht zu verlieren, schrieb sie, der Tochter zur Erinnerung und sich selbst zur Tröstung, ihr persönlichstes und intimstes Buch.
Hör mir zu, Paula, ich werde dir eine Geschichte erzählen, damit du, wenn du erwachst, nicht gar so verloren bist.
Die Familienlegende beginnt im Anfang des vorigen Jahrhunderts, als ein stämmiger baskischer Seemann an der Küste Chiles an Land ging, den Kopf voller hochfliegender Pläne, um den Hals das schützende Medaillon seiner Mutter – aber wozu so weit zurückgehen, es genügt zu wissen, daß er der Stammvater wurde eines Geschlechtes von kraftvollen Frauen und Männern mit festen Armen für die Arbeit und gefühlvollem Herzen. Einige Zornmütige darunter starben mit Schaum vor dem Mund, aber vielleicht war der Grund dafür nicht Wut, wie böse Zungen behaupteten, sondern eine umlaufende Seuche. Sie kauften fruchtbares Land in der Umgebung der Hauptstadt, das mit der Zeit an Wert gewann, sie wurden kultiviert, bauten Herrenhäuser mit Parks und Alleen, verheirateten ihre Töchter mit reichen alteingesessenen Spanierabkömmlingen, ließen ihre Kinder auf strengen Klosterschulen erziehen, und so wuchsen sie im Lauf der Jahre in eine stolze Gutsbesitzeraristokratie hinein, die über ein Jahrhundert im Lande tonangebend war, bis im Sturmwind der neuen Zeit Technokraten und Geschäftsleute die Führungsrolle übernahmen. Einer dieser Grundherren war mein Großvater.
Er stammte aus vornehmer Familie, aber sein Vater starb früh durch einen nie aufgeklärten Gewehrschuß. Die Einzelheiten dessen, was in dieser unseligen Nacht geschah, wurden vertuscht, vielleicht war es ein Duell, ein Racheakt oder ein Unfall aus Liebe, jedenfalls blieb seine Familie mittellos zurück, und weil mein Großvater der Älteste war, mußte er die Schule aufgeben und sich eine Stellung suchen, um für seine Mutter sorgen und seine jüngeren Geschwister auf Schulen schicken zu können. Lange Zeit später, als er ein vermögender Mann geworden war, vor dem die anderen den Hut zogen, bekannte er mir, die schlimmste Armut sei die, die man hinter Kragen und Krawatte verstecken müsse.
Er trat immer makellos gekleidet auf, in den Sachen seines Vaters, die für ihn passend gemacht worden waren, mit engen Kragen und die Anzüge wohlgebügelt, um den fadenscheinigen Stoff zu kaschieren. Diese Zeit der Entbehrungen festigte seinen Charakter, er glaubte, das Dasein sei nur Mühe und Arbeit und ein ehrbarer Mann könne nicht durch diese Welt gehen, ohne seinem Nächsten zu helfen. Schon damals hatte er diesen Ausdruck von Sammlung und Redlichkeit, die ihn kennzeichneten, er war aus dem gleichen felsharten Stoff wie seine Vorfahren, und wie viele von ihnen stand er mit den Füßen auf festem Boden, aber ein Teil seiner Seele entwischte immer wieder in den Abgrund seiner Träume.
Deshalb verliebte er sich auch in meine Großmutter, die Jüngste in einer Familie mit zwölf Geschwistern, alles exzentrische, köstliche Verrückte – wie Teresa, der am Ende ihres Lebens Heiligenflügel zu wachsen begannen, und als sie starb, vertrockneten in einer Nacht alle Rosensträucher im Japanischen Garten, oder wie Ambrosio, dieser fabelhafte Teufelskerl und Weiberheld, der sich in seinen großmütigen Augenblicken auf der Straße die Kleider auszog, um sie den Armen zu schenken. In meiner Kindheit hörte ich ständig Reden über die Gabe meiner Großmutter, die Zukunft vorherzusagen, Gedanken zu lesen, mit den Tieren zu sprechen und Gegenstände mit dem Blick zu bewegen. Es wurde erzählt, sie hätte einmal einen Billardtisch durch den Salon rutschen lassen, aber in Wirklichkeit war das einzige, was ich in ihrer Gegenwart sich bewegen sah, eine unbedeutende Zuckerdose, die zur Teestunde über den Tisch zu wandern pflegte. Diese Fähigkeiten weckten ein gewisses Mißtrauen, und so bezaubernd das Mädchen auch war – die möglichen Bewerber verloren in ihrer Gegenwart den Mut. Aber für meinen Großvater waren Telepathie und Telekinese unschuldiger Zeitvertreib und auf keinen Fall ernsthafte Hindernisse für die Ehe. Das konnte schon eher der Altersunterschied sein, denn sie war sehr viel jünger, und als er sie kennenlernte, spielte sie noch mit Puppen und schleppte gern ein schäbiges kleines Kissen mit sich herum.
Weil er sie so ständig wie ein kleines Mädchen sah, wurde ihm seine Leidenschaft nicht bewußt, bis sie eines Tages im langen Kleid und mit aufgestecktem Haar erschien, und da stürzte ihn die Erkenntnis einer über Jahre verborgen herangereiften Liebe in eine solche Krise der Schüchternheit, daß er sie nicht mehr besuchte. Sie erriet seinen Seelenzustand, noch bevor er selbst das Knäuel seiner Gefühle zu entwirren vermochte, und schrieb ihm einen Brief, den ersten von vielen, die sie ihm in den entscheidenden Augenblicken ihres und seines Lebens schreiben sollte. Es war kein parfümiertes, vorsichtig sondierendes Billett, sondern ein paar Bleistiftzeilen auf einer Heftseite, mit denen sie ihn ohne Umschweife fragte, ob er ihr Mann werden wolle und, falls ja, wann. Ein paar Monate später fand die Hochzeit statt. Die Braut trat vor den Altar wie eine Erscheinung aus einer anderen Zeit, in elfenbeinfarbener Spitze und mit einem Gewirr von wächsernen, mit dem Haarknoten verflochtenen Orangenblüten, und als er sie sah, beschloß er, sie beharrlich und unverdrossen zu lieben bis an sein Lebensende.
Für mich war dieses Paar immer der Tata und die Memé. Von ihren Kindern interessiert in dieser Geschichte nur meine Mutter, denn wenn ich anfange, von der übrigen Sippe zu erzählen, dann werden wir nie fertig, ohnedies sind die, die noch leben, in weiter Ferne; so ist das Exil, es schleudert die Menschen in alle vier Winde, und später wird es dann sehr schwierig, die Verstreuten wieder zu vereinen. Meine Mutter wurde in den zwanziger Jahren an einem Frühlingstag geboren. Sie war ein empfindsames kleines Mädchen und brachte es niemals über sich, bei dem wilden Toben ihrer Brüder mitzutun, die auf dem Dachboden hinter den Ratten herjagten, um sie dann in Gläsern mit Formol aufzubewahren. Sie wuchs behütet im Schutz des Elternhauses und der Schule auf, beschäftigte sich mit romantischer Lektüre und guten Werken und galt als die Schönste, die man in dieser Familie voll rätselhafter Frauen je gesehen hatte. Von der Pubertät an wurde sie von Verliebten wie von Schmeißfliegen umschwärmt, aber ihr Vater hielt alle auf Distanz, und ihre Mutter nahm die Kandidaten mit Hilfe ihrer Tarotkarten auseinander, bis die unschuldigen Anbandeleien ein Ende fanden, weil ein ebenso begabter wie zwielichtiger Mann in ihr Leben trat, mühelos die übrigen Bewerber beiseite schob und ihr Herz mit Unruhe erfüllte. Das war dein Großvater Tomás, der später wieder im Nebel verschwand, und ich erwähne ihn nur, weil du etwas von seinem Blut in dir trägst, Paula, aus keinem anderen Grund. Dieser Mann mit dem raschen Verstand und der schonungslosen Zunge erwies sich als allzu intelligent und vorurteilsfrei für diese provinzielle Gesellschaft, ein seltener Vogel im damaligen Santiago. Sie sagten ihm eine dunkle Vergangenheit nach, Gerüchte gingen um, daß er zu den Freimaurern gehöre, folglich ein Feind der Kirche sei und außerdem irgendwo einen unehelichen Sohn versteckt halte, aber nichts davon konnte der Tata anführen, um seiner Tochter den Mann auszureden, denn er hatte keine Beweise und er war nicht der Mensch, leichtfertig den Ruf eines andern zu beschmutzen. Zu jener Zeit war Chile wie eine Schichttorte – und ist es in gewisser Weise noch immer –, es gab mehr Kasten als in Indien und genug abschätzige Beiwörter, um jeden auf seinen Platz zu verweisen: armer Teufel, Fatzke, Parvenu, Protz und viele mehr, bis die angemessene Plattform der Ebenbürtigkeit erreicht war. Die Geburt entschied über die Menschen; es war leicht, auf der gesellschaftlichen Stufenleiter abzusteigen, aber um aufzusteigen, genügten weder Geld noch Ruhm, noch Talent, das erforderte die fortdauernde Anstrengung mehrerer Generationen. Zu Tomás’ Gunsten sprach seine ehrenhafte Abstammung, wenn es auch in den Augen vom Tata verdächtige politische Umstände gab. Schon damals klang der Name eines gewissen Salvador Allende auf, Gründers der Sozialistischen Partei, der gegen das Privateigentum, die konventionelle Moral und die Macht der Arbeitgeber predigte. Tomás war der Vetter des jungen Abgeordneten.
Schau, Paula, hier habe ich ein Bild vom Tata. Dieser Mann mit den strengen Zügen und dem klaren Blick, mit der randlosen Brille und der schwarzen Baskenmütze ist dein Urgroßvater. Auf dem Foto sitzt er, die Hand auf den Spazierstock gestützt, und neben ihm, an sein rechtes Knie gelehnt, steht ein kleines dreijähriges Mädchen, festlich angezogen, anmutig wie eine winzige Ballerina, und schaut schmachtend in die Kamera. Das bist du, dahinter stehen meine Mutter und ich, der Sessel verbirgt meinen Bauch, ich war mit deinem Bruder Nicolás schwanger. Man sieht den alten Herrn von vorn und erkennt seine stolze Miene, die ungekünstelte Würde eines Menschen, der sich selbst erzogen hat, er ist seinen geraden Weg gegangen und erwartet nun nichts mehr vom Leben. In der Erinnerung sehe ich ihn immer als Greis, wenn auch sein Gesicht fast faltenlos war, abgesehen von zwei tiefen Furchen hinab zu den Mundwinkeln, sein Haar war eine weiße Löwenmähne, und sein rasches Lachen entblößte zwei Reihen gelber Zähne. Gegen Ende seines Lebens fiel ihm jede Bewegung schwer, aber er erhob sich, wenn auch mühsam, um die Frauen zu begrüßen und zu verabschieden, und begleitete, auf seinen Stock gestützt, die Besucher zur Gartentür. Ich mochte seine Hände, kräftig und knotig wie gekrümmte Eichenäste, sein unumgängliches seidenes Halstuch und seinen Geruch nach englischer Lavendelseife und Desinfektionsmittel. Großmütig erteilte er seiner Nachkommenschaft Gratislektionen seiner stoischen Philosophie;...
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