Schweitzer Fachinformationen
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Die neunzehnjährige Maya ist auf der Flucht. Vor ihrem trostlosen Leben in Las Vegas, der Prostitution, den Drogen, der Polizei, einer brutalen Verbrecherbande. Mit Hilfe ihrer geliebten Großmutter gelangt sie auf eine abgelegene Insel im Süden Chiles. An diesem einfachen Ort mit seinen bodenständigen Bewohnern nimmt sie Quartier bei Manuel, einem kauzigen alten Anthropologen und Freund der Familie. Nach und nach kommt sie Manuel und den verstörenden Geheimnissen ihrer Familie auf die Spur, die mit der jüngeren Geschichte des Landes eng verbunden sind. Dabei begibt Maya sich auf ihr bislang größtes Abenteuer: die Entdeckung ihrer eigenen Seele. Doch als plötzlich Gestalten aus ihrem früheren Leben auftauchen, gerät alles ins Wanken.
»Mayas Tagebuch« erzählt von einer gezeichneten jungen Frau, die die unermesslichen Schönheiten des Lebens neu entdeckt und wieder zu verlieren droht. Ein unverwechselbarer Allende-Roman: bewegend, spannend und mit warmherzigem Humor geschrieben.
Vor einer Woche verabschiedete mich meine Großmutter mit einer tränenlosen Umarmung am Flughafen von San Francisco und schärfte mir noch einmal ein, wenn mir mein Leben lieb sei, dann solle ich mit keinem, der mich kennt, in Verbindung treten. Jedenfalls bis wir uns sicher sein könnten, dass meine Verfolger nicht mehr nach mir suchten. Meine Nini ist paranoid wie alle Bewohner der Unabhängigen Volksrepublik Berkeley, die sich von der Regierung und von Außerirdischen verfolgt fühlen, doch hat sie in meinem Fall nicht übertrieben: Wir können nicht vorsichtig genug sein. Sie drückte mir ein Heft mit hundert leeren Seiten in die Hand, damit ich Tagebuch schreibe, wie ich das zwischen acht und fünfzehn getan habe, ehe alles anfing aus dem Ruder zu laufen. »Du wirst jede Menge Zeit haben, dich zu langweilen, Maya. Du kannst sie nutzen und über den monumentalen Mist schreiben, den du gebaut hast, vielleicht kriegst du ein Gespür für die Ausmaße«, sagte sie. Von mir existieren acht mit Industrieklebeband versiegelte Tagebücher, die mein Großvater früher in seinem abschließbaren Schreibtisch verwahrte und die heute in einer Schuhschachtel unter Ninis Bett lagern. Das hier wird mein neuntes. Meine Nini glaubt, die Aufzeichnungen könnten mir nützlich sein, wenn ich irgendwann eine Psychoanalyse mache, weil sich darin die Anhaltspunkte fänden, um das Kuddelmuddel meiner Persönlichkeit zu entwirren; hätte sie die Tagebücher gelesen, dann wüsste sie, dass lauter Hirngespinste drinstehen, mit denen man Freud persönlich aufs Glatteis führen könnte. Eigentlich misstraut meine Großmutter Menschen, die nach Stunden bezahlt werden, weil denen nicht an zügigen Erfolgen gelegen ist, aber bei Psychiatern macht sie eine Ausnahme. Einer hat sie nämlich von ihrer Depression und aus den Fängen der Magie befreit, als sie meinte, sie müsse mit den Toten in Verbindung treten.
Ich steckte das Heft in meinen Rucksack, weil ich sie nicht kränken wollte, und hatte eigentlich nicht vor, es zu benutzen, doch vergeht die Zeit hier wirklich zäh, und mit Schreiben lassen sich die Stunden füllen. Diese erste Woche im Exil ist mir lang geworden. Ich sitze auf einer winzigen Insel, auf der Landkarte kaum zu erkennen, und hier ist es wie im Mittelalter. Ich tue mich schwer, über mein Leben zu schreiben, weil ich nie weiß, woran ich mich erinnere und was ich mir bloß einbilde; strikt bei der Wahrheit zu bleiben kann einen anöden, deshalb verändere oder überzeichne ich sie oft und merke es gar nicht, aber diesmal habe ich fest vor, das bleiben zu lassen, und ich werde fortan so wenig wie möglich lügen. Obwohl heutzutage selbst die Yanomami am Amazonas Computer benutzen, schreibe ich jetzt also mit der Hand in dieses Heft. Das ist mühsam, und meine Schrift sieht aus wie Kyrillisch, jedenfalls kann ich sie selbst kaum entziffern, was aber bestimmt mit jeder Seite besser wird. Schreiben ist wie Fahrradfahren: Man verlernt es nicht, auch wenn man es jahrelang nicht tut. Ich will versuchen, der Reihe nach zu erzählen, an irgendwas muss man sich ja orientieren, und das scheint mir das Einfachste, selbst wenn ich zuweilen den Faden verliere, mich verzettele, mir Wichtiges erst später wieder einfällt und ich es dann nicht nachträglich dazwischenquetschen kann. Meine Erinnerung bewegt sich in Kreisen, Spiralen und waghalsigen Sprüngen.
Ich bin Maya Vidal, neunzehn Jahre alt, weiblich, ledig, ohne festen Freund, weil es mir an Gelegenheiten mangelt und nicht, weil ich zickig wäre, bin im kalifornischen Berkeley geboren, besitze einen US-amerikanischen Pass und bin vorübergehend auf eine Insel im Süden der Welt geflohen. Maya heiße ich, weil meine Nini eine Schwäche für Indien hat und meinen Eltern kein anderer Name eingefallen ist, obwohl sie neun Monate Zeit gehabt hätten, darüber nachzudenken. Auf Hindi bedeutet Maya »Zauber, Illusion, Traum«. Was mit mir nicht mal entfernt zu tun hat. »Attila« würde besser passen, jedenfalls wächst, wo ich hintrete, kein Gras mehr. Meine Geschichte beginnt mit meiner Großmutter, meiner Nini, in Chile, lange vor meiner Geburt, denn wäre sie nicht ausgewandert, dann hätte sie sich nicht in meinen Pop verliebt, sie wäre nicht nach Kalifornien gezogen, mein Vater hätte meine Mutter nicht kennengelernt, und ich wäre nicht ich, sondern eine junge Chilenin und völlig anders. Wie bin ich? Eins achtzig groß, achtundfünfzig Kilo, wenn ich Fußball spiele, und etliche mehr, wenn ich bloß rumhänge, muskulöse Beine, ungeschickte Hände, blaue oder graue Augen, kommt auf die Tageszeit an, und wahrscheinlich bin ich blond, habe allerdings meine natürliche Haarfarbe seit Jahren nicht gesehen. Ich habe nichts von der Exotik meiner Großmutter geerbt, nicht ihren olivgrün angehauchten Teint oder die dunklen Augenringe, die ihr etwas Verruchtes geben, auch nichts von meinem Vater, der gutaussehend ist wie ein Torero und genauso eitel; meinem wunderbaren Pop sehe ich ebenfalls nicht ähnlich, weil der Ninis zweiter Ehemann war und leider gar nicht mein leiblicher Großvater.
Ich komme nach meiner Mutter, jedenfalls in Größe und Farbton. Sie war keine Prinzessin aus Lappland, wie ich glaubte, bevor ich denken konnte, sondern eine dänische Flugbegleiterin, in die sich mein Vater, Pilot bei einer Frachtfluggesellschaft, in der Luft verliebte. Er war zu jung zum Heiraten, hatte aber die fixe Idee, sie sei die Frau seines Lebens, und verfolgte sie beharrlich, bis sie vor Erschöpfung nachgab. Oder vielleicht, weil sie schwanger wurde. Jedenfalls heirateten die beiden, bereuten es vor Ablauf einer Woche, blieben jedoch zusammen, bis ich zur Welt kam. Wenige Tage nach meiner Geburt packte meine Mutter, während ihr Mann in der Luft war, die Koffer, wickelte mich in eine Kinderdecke und fuhr im Taxi zu ihren Schwiegereltern. Meine Nini demonstrierte gerade in San Francisco gegen den Golfkrieg, aber mein Pop war zu Hause und nahm das Bündel entgegen, das sie ihm ohne große Erklärung reichte, bevor sie zu dem wartenden Taxi zurücklief. Die Enkelin war federleicht und passte in eine Hand des Großvaters. Kurz darauf schickte die Dänin die Scheidungsunterlagen und als Dreingabe den Verzicht auf das Sorgerecht für ihre Tochter. Meine Mutter heißt Marta Otter, und ich habe sie in dem Sommer kennengelernt, als ich acht war und meine Großeltern mit mir nach Dänemark reisten.
Jetzt bin ich in Chile, dem Land meiner Großmutter Nidia Vidal, wo der Ozean Stücke aus dem Festland beißt und der südamerikanische Kontinent in Inselchen ausperlt. Genauer gesagt bin ich in Chiloé, was zum Seengebiet gehört, zwischen dem 41. und 43. südlichen Breitengrad liegt, etwa neuntausend Quadratkilometer umfasst und von zweihunderttausend Menschen bewohnt wird, die alle kleiner sind als ich. »Chiloé« bedeutet in der Sprache der Ureinwohner, dem Mapudungun, »Land der Cáhuiles«, das ist eine kreischende Möwe mit schwarzem Kopf, aber »Land des Holzes und der Kartoffeln« wäre passender. Neben der Isla Grande, auf der es ein paar größere Ansiedlungen gibt, gehören jede Menge kleinere Inseln zu Chiloé, viele davon unbewohnt. Manchmal liegen drei, vier davon so dicht beieinander, dass sie bei Ebbe zusammenwachsen, aber ich hatte nicht das Glück, auf so einer zu landen: Von hier braucht man bei ruhiger See fünfundvierzig Minuten mit dem Boot bis zur nächsten Siedlung.
Meine Reise aus dem Norden Kaliforniens nach Chiloé begann im treuen gelben VW meiner Großmutter, der seit dem Jahr 1999 siebzehn Unfälle überstehen musste, aber nach wie vor tuckert wie ein Ferrari. Aufgebrochen bin ich im tiefsten Winter, an einem dieser windigen, regnerischen Tage, wenn die Bucht von San Francisco alle Farbe verliert und aussieht wie eine grauschattierte Tuschezeichnung. Meine Großmutter fuhr wie üblich mit röhrendem Motor, hielt das Lenkrad umklammert wie einen Rettungsring und den Blick mehr auf mich als auf die Fahrbahn gerichtet, weil sie mir letzte Anweisungen geben musste. Sie hatte mir noch nicht erklärt, wo genau sie mich hinschickte; »Chile«, mehr hatte sie über ihren Plan, mich verschwinden zu lassen, bisher nicht gesagt. Im Auto eröffnete sie mir jetzt Genaueres und drückte mir einen billigen kleinen Reiseführer in die Hand.
»Chiloé? Wie ist es da?«, wollte ich wissen.
»Alles, was du wissen musst, steht da drin.« Sie zeigte auf das Buch.
»Ziemlich weit weg …«
»Je weiter, desto besser. In Chiloé habe ich einen Freund, Manuel Arias, und abgesehen von Mike O’Kelly, ist er der einzige Mensch auf der Welt, bei dem ich mich traue zu fragen, ob er dich für ein, zwei Jahre versteckt.«
»Ein, zwei Jahre! Bist du noch bei Trost, Nini!«
»Hör zu, Kleine, es gibt Momente im Leben, da hat man keine Macht über das, was mit einem geschieht, es geschieht einfach. Das hier ist so ein Moment.« Und während sie das sagte, hing sie mit der Nase an der Windschutzscheibe und versuchte planlos, im Gewirr der Autobahnen einen Weg zum Flughafen zu finden.
Wir kamen gerade noch rechtzeitig und verabschiedeten uns ohne rührseliges Tamtam; ich habe dieses letzte Bild von ihr vor Augen: ihr VW, der sich röhrend im Regen verliert.
Ich flog einige Stunden nach Dallas, wurde von einer dicken, nach gerösteten Erdnüssen riechenden Frau ans Fenster gedrückt und saß danach noch einmal zehn Stunden in einer anderen Maschine nach Santiago, wach und hungrig, hing meinen Erinnerungen und Gedanken nach und las in dem Buch über Chiloé, das die Lieblichkeit der Landschaft, die Holzkirchen und das ländliche Leben pries. Mir ging der Arsch auf Grundeis. Der 2. Januar 2009 brach an, ein orangefarbener Himmel über den violetten Gipfeln der unverrückbaren, ewigen, gewaltigen...
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