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Wer hat Macht und aufgrund welcher institutionellen Strukturen, Ressourcen und Möglichkeiten? Kann es sein, dass wir in den letzten Jahrzehnten im Schatten eines abstrakten liberalen Gleichheitsideals verlernt haben, die konkreten Machtverhältnisse und Ungleichheiten unserer Gesellschaften zu sehen - und uns die neuen ökonomischen Verwerfungen und rechtspopulistischen Mobilisierungen deshalb relativ unvorbereitet trafen? Ja, sagt Danielle Allen und entwickelt in ihrem Buch ein neues Verständnis politischer Gleichheit für Gesellschaften großer sozialer und kultureller Vielfalt. Eine Theorie für das 21. Jahrhundert.
Wenn man vorschlägt, eine Theorie der Gerechtigkeit solle nicht Fragen der Verteilungsgerechtigkeit, sondern eher das Erreichen von politischer Gleichheit in den Vordergrund stellen, wie ich es in der Einleitung getan habe, kommt das der Behauptung gleich, dass wir Gerechtigkeit mit demokratischen Mitteln erlangen können. Diese Sichtweise bedarf einer Erklärung und Verteidigung. Dafür müssen wir auf die Fragen zurückkommen, was Demokratie ist, worin ihr Wert besteht und wie wir die Prinzipien ermitteln, die am wahrscheinlichsten dazu beitragen, ihren Wert sicherzustellen. Darin besteht die Aufgabe dieses Kapitels.
Das moderne Experiment einer demokratischen Regierungsform währt seit beinahe 250 Jahren und dennoch tun wir uns noch heute mit dem Verständnis der Ideale schwer, die ihre Grundlage bilden, mit den institutionellen Strukturen, die am ehesten zur weitestmöglichen Annäherung an jene Ideale beitragen, und mit den ethischen Pflichten, die Bürgerinnen und Bürgern aufgrund ihrer Rolle in einer Demokratie zukommen. Bis zu einem gewissen Grad schlägt sich in diesen Schwierigkeiten die Tatsache nieder, dass der Grund unter unseren Füßen unablässig schwankt, weil die demografischen Gegebenheiten sich wandeln.
In der Antike hat der griechische Philosoph Aristoteles erkannt, dass die Frage, welche Institutionen und Normen 45eine Definition von Gerechtigkeit umsetzen oder die weitestmögliche Annäherung an sie erreichen können, von den zugrunde liegenden demografischen Faktoren abhängt: von einem ausgeglichenen Verhältnis von Arm und Reich in einer Stadt; vom prozentualen Anteil der Landwirte, Händler und feinen Leute; vom Bildungsgrad der Bürgerschaft und so weiter. Seine Sicht- und Herangehensweise stehen mit anderen Worten im Gegensatz zu einem Großteil der politischen Philosophie der Gegenwart, die sich bemüht, Gerechtigkeitstheorien zu konstruieren, die häufig von allen konkreten demografischen Mustern oder Gegebenheiten abstrahieren. Aristoteles tritt für zwei zentrale, nicht-kontextspezifische Gerechtigkeitsprinzipien ein: für ein Prinzip proportionaler Gleichheit (wie zum Beispiel die Regel, dass der Fähigste das höchste Amt bekleiden soll) und für ein Prinzip arithmetischer Gleichheit (wie zum Beispiel die Regel der Wahlgleichheit, die eine Stimme pro Kopf vorsieht). Trotzdem lernen seine Leser auch, die Vielfalt der für die Verwirklichung dieser Prinzipien oder einer Kombination aus ihnen unter unterschiedlichen demografischen Rahmenbedingungen zur Verfügung stehenden institutionellen Mechanismen mit zu bedenken.
Heute lohnt es sich, sowohl die grundlegenden demokratischen Ideale zu überprüfen als auch unsere Fähigkeit wiederherzustellen, das vielfältige Spektrum an institutionellen Formen zu erkennen, die zu ihrer Verwirklichung angesichts spezifischer demografischer Faktoren vor Ort verwendet werden können. Letzteres Projekt institutionellen Erfindungsreichtums greife ich in Kapitel 3 (»Auf dem Weg zu einer vernetzten Gesellschaft«) sowie in weiteren Aufsätzen[17] wieder auf. In diesem Kapitel möchte ich aber 46das erste Projekt eines Überprüfens der grundlegenden demokratischen Ideale weiterverfolgen. Dieses Kapitel nennt Gründe für den Vorrang politischer Gleichheit in allen umsetzbaren Auffassungen von Gerechtigkeit und bildet so die Grundlage für jene anderen Überlegungen. Der wichtigste Beitrag dieses Kapitels wird in der Artikulation eines Prinzips - nämlich einer Differenz ohne Herrschaft - bestehen, das meiner Meinung nach einen Platz neben den anderen Prinzipien finden sollte, die seit John Rawls gewöhnlich zur Definition des demokratischen Liberalismus herangezogen worden sind: gleiche Grundrechte und -freiheiten, faire Chancengleichheit, fairer Wert politischer Freiheit und das Differenzprinzip, das verlangt, dass ökonomische Ungleichheiten »zum größtmöglichen Vorteil der am wenigsten begünstigten Gesellschaftsmitglieder wirken«. Rawls meinte, das Differenzprinzip gelte sowohl auf sozialem als auch auf ökonomischem Gebiet. In diesem Kapitel trete ich dafür ein, dass »Differenz ohne Herrschaft« in der Welt des Sozialen an die Stelle des »Differenzprinzips« treten sollte und es in der Welt der Wirtschaft wenn nicht ersetzen, so doch zumindest ergänzen sollte. »Differenz ohne Herrschaft« ist ein nachdrücklicheres egalitäres Prinzip als das rawlsianische »Differenzprinzip«.
Warum fängt man einen Streit über die Bedeutung von Gerechtigkeit mit der Erklärung an, Gerechtigkeit müsse politische Gleichheit oder Demokratie mit enthalten? Darauf gibt es zwei mögliche Antworten. Entweder ist man der Ansicht, demokratische Teilhabe sei für sich genommen gut für Menschen oder aber man meint, nur durch demokratische Teilhabe können Menschen sich der Bestandteile von Gerechtigkeit versichern. Der Wert der Demokratie kann sich mit anderen Worten intrinsisch aus ihr selbst ableiten oder instrumentell aus den Ergebnissen, die sie gewährleistet, abgeleitet werden.[18] Als Beispiel für Letzteres hat Amartya Sen bekanntlich angeführt, dass die Einführung von demokratischen politischen Institutionen garantiert, dass eine Gesellschaft keinen Hunger leidet.[19]
In den letzten beiden Jahrhunderten haben politische Philosophen im Westen (im scharfen Gegensatz zum Bei48spiel zu den Wissenschaftlern, die über die chinesischen Meritokratie-Traditionen arbeiten) geltend gemacht, dass Demokratie unbestreitbar instrumentellen Wert besitze: Sie stelle die Bedingungen für die Ausübung persönlicher Autonomie und möglicherweise auch verschiedene Aspekte des materiellen Wohls sicher. Sie haben außerdem geltend gemacht, dass sie intrinsischen Wert besitze und unverzichtbar für volles menschliches Wohlergehen sein könnte.
In den Augen von John Rawls zum Beispiel ist liberale Demokratie ein Gut, weil sie die Autonomie gewährleistet, die Individuen benötigen, wenn sie sich für eine eigene Gesamtkonzeption des Guten entscheiden und in der Lage sein sollen, aus möglichen Lebensweisen diejenige auszuwählen, die ihnen am besten erscheint.[20] Diese Konzeption ist instrumentell. Aber Rawls hat politischer Gleichheit außerdem Komponenten von intrinsischem Wert zugeschrieben. Sie sei, behauptete er, Teil unserer Selbstachtung, weil unsere Selbstachtung auf dem Respekt beruhe, den andere uns entgegenbringen. Politische Gleichheit mit anderen bedeutet, dass diese uns angemessen wertschätzen, sodass die Bedingungen für Selbstachtung gegeben sind.[21] Man kann zwar Einwände gegen eine solche 49bescheidene, von anderen abhängige Konzeption von Selbstachtung erheben, doch dient sie dazu, kenntlich zu machen, dass politische Gleichheit zumindest etwas intrinsischen Wert besitzt.[22]
Auf der anderen Seite vertrat Rawls eine minimalistische Konzeption des mit politischer Gleichheit einhergehenden intrinsischen menschlichen Guts. Wie an seinem Streit mit Jürgen Habermas deutlich wird, erkennt er nicht alle möglichen Komponenten dieses menschlichen Guts an.[23] Im Allgemeinen hat Rawls zu zeigen versucht, dass 50sein Liberalismus vermeidet, den Bürgerinnen und Bürgern eines liberalen Regierungssystems eine bestimmte Konzeption des Guten aufzudrängen, aber an diesem Punkt gab er sich zurückhaltend. Seine Gerechtigkeitstheorie beruhte durchaus auf dem Gedanken, dass Autonomie für sich genommen gut für die Menschen ist und dass diesen genug Raum für deren Ausübung gelassen werden sollte. Sie enthielt auch einen knappen Ausblick auf das demokratischer Gleichheit innewohnende menschliche Gut. Doch...
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