Vorwort
Wir, die wir das Arabien der vierziger und der fünfziger Jahre erlebt haben, blicken heute mit ungläubigem Staunen auf das moderne Saudi-Arabien. Niemand hätte damals auch nur im Traum für möglich gehalten, dass dieses Land, das in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts fast völlig vom Rest der Welt abgeschnitten war und dessen Bevölkerung kaum einen Grund hatte, an den seit Jahrhunderten überlieferten Lebensformen irgendetwas zu ändern, einen so tiefgreifenden Wandel durchmachen würde.
Ob in den Sandwüsten, Küstenregionen oder im Hochland des Landesinneren, überall sind moderne Städte aus dem Boden geschossen. Wo das riesige Land seit Jahrtausenden nur durch Karawanenwege verbunden war, sind in unseren Tagen alle größeren Städte durch ein gut ausgebautes Straßennetz verbunden. Die Menschen, die vor noch nicht allzu langer Zeit kaum etwas über die Welt jenseits ihres Horizontes wussten, fliegen heute mit der nationalen Fluggesellschaft in alle Welt und besteigen für Inlandflüge das Flugzeug so selbstverständlich, als benutzten sie einen Zubringerbus. Erst auf diese Weise hat sich ihnen ihr eigenes Land erschlossen. Zu meiner Zeit hatten wir so gut wie keine Vorstellung davon, wie der Rest des Königreichs aussah, eben weil es für uns unerreichbar war. Während die modernen Saudis sich als wirkliche Nation empfinden, war unsere Identität noch regional bestimmt.
Der Wandel wurde schlagartig durch die Erträge der reichen Ölschätze eingeleitet, die man in den späten dreißiger Jahren unter Arabiens Sand entdeckt hatte. Damals reichte das, was das Land erwirtschaftete, gerade zum Überleben; Haupteinnahmequellen waren der Handel mit Datteln und Tierhäuten sowie eine Pro-Kopf-Steuer, welche Pilger auf ihrem Weg nach Mekka und Medina entrichten mussten - die arabischen Städte, die zusammen mit Jerusalem für den Islam die drei heiligsten Orte sind.
In den fünfziger Jahren begann das Ölgeld die königlichen Schatullen zu füllen, und das schon bald in solchen Mengen, dass Saudi-Arabien eine Sonderstellung unter allen Ländern zufiel, die von diesem Entwicklungsboom erfasst wurden: Es kam ohne Kredite aus, ohne Steuereinnahmen von seinen Untertanen. Allerdings benötigte es Arbeitskräfte, vom Hilfsarbeiter bis zur hochqualifizierten Führungskraft. In den ersten Jahren des Umbruchs war der Prozentsatz an Analphabeten noch sehr hoch, ein Großteil der Bevölkerung bestand aus Nomaden, und es gab nicht genug saudische Fachleute. Daher mussten Arbeitskräfte importiert werden. In den siebziger und achtziger Jahren erreichte der Zustrom von Ausländern im Zuge des enormen Booms von Entwicklungs-?, Modernisierungs- und Industrialisierungsprojekten seinen Höhepunkt. Erstmals näherte sich ihr Anteil der Zweimillionengrenze.
So fand innerhalb weniger Jahrzehnte eine wahrhaft unglaubliche Umwälzung statt - in einem Zeitraum, der in der Geschichte ohne Beispiel ist. Noch bemerkenswerter ist dabei, dass Saudi-Arabien nicht nur diesen Umbruch bewältigte, sondern zugleich für seine Bevölkerung ein modernes Schulwesen schuf. Mittlerweile gibt es bereits eine oder zwei Generationen von Saudis, Männer wie Frauen, die ihre Nation »saudisieren« und so gut ausgebildet sind, dass sie die Positionen und Aufgaben übernehmen, die zuvor Fachleute aus anderen Ländern innehatten. Für einige hingegen blieb der Grad der Veränderung gering. Bestimmte Aspekte des Lebens in ländlichen Gebieten, der Lebensformen der Beduinen sowie einiger anderer Bestandteile der Gesellschaft bleiben von der heutigen Dynamik entweder unangetastet oder unbeeindruckt.
Auch soziokulturelle Veränderungen haben stattgefunden, jedoch eher graduell. In diesem weiterhin fortschreitenden Prozess werden neue Wege nur so weit akzeptiert, wie sie nicht den vom Islam vorgegebenen Rahmen sprengen. Saudi-Arabien kennt keine Trennung von Staat und Religion, und der Koran schreibt nicht nur Gottes Wort fest, sondern auch moralische und gesellschaftliche Verhaltensregeln, die ein integrierter Bestandteil im alltäglichen Leben eines jeden Moslems sind. Man kann also keineswegs von einer Religion sprechen, die sich im Moscheebesuch am Freitag erschöpft. Sicher, bei allen Veränderungen von Status und Rolle der Frau hat sowohl im öffentlichen Leben als auch innerhalb der Familie immer noch der Mann das letzte Wort. Doch jeder, der hier von außen urteilt, sollte genau zu unterscheiden verstehen zwischen dem, was als für Frauen erlaubt oder verboten eindeutig festgelegt ist, und dem, was bloße Tradition ist oder von Männern durchgesetzter Wille, der durch die Männerherrschaft als religiöses Gebot maskiert überliefert wurde. Hierzu nur eine Anmerkung: Der Islam des siebten Jahrhunderts erkannte seiner weiblichen Gefolgschaft einen relativ fairen und gleichberechtigten Status zu, und das lange vor irgendeinem anderen Kulturkreis. Heutzutage sind gebildete mohammedanische Mädchen und Frauen durchaus in der Lage, ihren Koran selbst zu lesen.
Anders als die Menschen heute kannten wir zu der Zeit, als ich in Arabien lebte, keine schwankenden Wertvorstellungen wie die Menschen unserer Tage. Wir hatten eine statische Weitsicht, unsere Gebräuche waren fest verankert, und Traditionen wurden fraglos befolgt. Von den offenen Lebensformen, vom anderen Rollenverhalten der Frauen in der Welt um uns herum, hatten wir keine Kenntnis. Wir verhielten uns so, wie es schon immer gewesen war. Selbst unsere Sprache war von erstarrten Grußformeln und Erwiderungen, von festen Regeln im sozialen Umgang bestimmt. Diese Floskeln und Rituale betrafen im Wesentlichen Höflichkeiten, die strikt zu beachten waren und an denen seit Generationen festgehalten wurde, doch meinen Enkeln heute sind sie vollkommen fremd.
Es gab nur wenige Möglichkeiten, überhaupt hinauszukommen, und so gingen wir nie aus und taten überhaupt kaum etwas von all dem, was in Amerika normal ist. Wenn mich jemand danach fragt, sage ich immer, dass es erstens nichts gab, wo man hätte hingehen können, und dass wir zweitens etwas viel Wesentlicheres taten: Wir lebten miteinander. Darin waren die Araber wahre Meister, und das musste ich von ihnen lernen.
In der Monotonie dieses Lebens musste ich immer wieder über die heitere Gelassenheit, über die vielschichtige Persönlichkeit der Frauen staunen, die ich kennenlernte, und stets habe ich mich dabei gefragt: »Wenn sie ohne jede Schulbildung schon so sind, wie könnten sie erst sein, wenn sie etwas hätten lernen dürfen?« Nun, inzwischen weiß ich es, und immer noch staune ich. Die Veränderungen in ihrem Leben waren gewaltig, doch ihre ureigenen Qualitäten haben sich diese Frauen bewahrt, bestärkt durch den Glauben und vielleicht auch durch die Jahrhunderte von Duldung und Überlebensfähigkeit.
Ich genieße es ungemein, dass ich, vor so langer Zeit einer der Jüngsten im Familienverband, nun als älteres Mitglied einer großen, edlen arabischen Familie geachtet werde, die über all die Jahre hinweg zu mir gestanden hat, ja mich stets zu den Ihren zählte, und das trotz all der Dinge, die sich ereignet haben. Regelmäßig verbringe ich zwei bis drei Monate pro Jahr im Königreich: Mein Stadthaus in Jeddah haben mir meine Kinder geschenkt, die heute fast alle in Saudi-Arabien leben und arbeiten. Nur mein jüngster Sohn lebt mit seiner Familie in Kalifornien.
Inzwischen habe ich fünfzehn Enkel und zwei Urenkel. Wenn ich bedenke, mit welchem Blut ich diese Sippe aufgefrischt habe, kann ich mich eines Schmunzelns nicht erwehren. Meine Großeltern auf der einen Seite waren englisch-irisch-schottischer Herkunft, die andere Seite stammte von Polen und reinrassigen nordamerikanischen Indianern ab. Als wäre das noch nicht kurios genug, habe ich es fertiggebracht, meine Kinder - Hamida, Faisal, Tarik, Nadja und Chassan - in die Stammesrollen der Nation der Creek-Indianer von Oklahoma eintragen zu lassen. Das Beste daran ist, dass sie darauf genauso stolz sind wie auf alle anderen Elemente ihrer kunterbunten Herkunft. Ich habe gehört, dass sie sich einen Spaß daraus machen, ihre Ausweise des Büros für Indianer-Angelegenheiten zu zücken und dann die Reaktion zu beobachten - sie sind vermutlich die einzigen saudi-amerikanischen Indianer der Welt.
Dass ich die Erfahrung des traditionellen Lebensstiles machen durfte und dann beobachten konnte, wie Saudi-Arabien seine gegenwärtige Position in der Weltgemeinschaft aufbaute, war ein Glücksfall, an dem ich mich gar nicht genug erfreuen kann. Wer heute so nach Saudi-Arabien ginge, würde alles ganz anders antreffen als ich zu meiner Zeit. Die Leute meinen, es sei schon bemerkenswert, dass ich mich an das Leben im alten Saudi-Arabien habe gewöhnen können. Doch ich sehe das anders. Wirklich bemerkenswert ist, dass die Menschen in meiner Umgebung mir damals halfen, mich einzuleben und meinen Frieden zu finden. Ich war die Einzige, die in der homogenen Gesellschaft jener Zeit anders war - ein christlich-abendländisches Mitglied einer im wahrsten Sinne des Wortes weitverzweigten Familie. Zu Anfang erschien mir alles so altmodisch, so ungewohnt, so fremd, dass ich es wohl niemals geschafft hätte, wenn die Menschen mir anders begegnet wären. Gerade in den schwersten Augenblicken halfen sie mir am meisten, und dann...