Schweitzer Fachinformationen
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Auf dem Deck des Fährschiffes, das um elf Uhr von Kadıköy abgelegt hatte und jetzt auf die Galata-Brücke Kurs nahm, saßen zwei junge Männer nebeneinander und unterhielten sich. Der an der Reling Sitzende war hellhäutig, dunkelblond und neigte zur Fülle. Er war kurzsichtig, seine braunen Augen, die hinter den dicken Gläsern der Hornbrille stets halb geschlossen wirkten, glitten träge über die Dinge hin. Abwechselnd ließ er seinen Blick mal auf seinem Freund und dann wieder auf dem Meer ruhen, das sich linker Hand im Sonnenlicht vor ihnen ausbreitete. Seinen Hut hatte er nach hinten geschoben, seine glatten und etwas zu langen Haare quollen darunter hervor und hingen ihm halb über das rechte Auge. Er sprach schnell und schürzte dabei leicht die Lippen, wodurch sein Mund hübsch und anziehend wirkte.
Sein Freund war schmächtig und bleichwangig; seine Arme waren ständig in nervöser Bewegung, und scharf musterte er seine Umgebung.
Beide waren von mittlerer Größe, und man gab ihnen höchstens fünfundzwanzig Jahre.
Ohne seine Augen vom Meer abzuwenden, erzählte der Fülligere: »Ich musste mich zusammenreißen, um nicht loszulachen. Während der Geschichtsprofessor eine Frage nach der anderen stellte, stand das Mädchen da und drehte Hilfe suchend den Kopf in alle Richtungen. Ich wusste ja, dass sie ihre Notizen nicht ein einziges Mal angesehen hatte, deshalb dachte ich, die fällt glatt durch. Doch was sehe ich da plötzlich? Ümit, die hinter ihr saß, warf dem Dozenten vielsagende Blicke zu. Und ich sage dir, sie hat es geschafft; der Kerl stellte noch ein, zwei simple Fragen, die er gleich selbst beantwortete, und ließ das Mädchen bestehen.«
»Der ist wohl schwer in Ümit verschossen?«
»Der ist doch in jede verknallt, wenn sie nur einigermaßen nach was aussieht .« Dann schlug er seinem Freund mit der Hand aufs Knie und sprach im gleichen Tonfall weiter, als ob er die eben erzählte Geschichte wieder aufnähme: »Das Leben langweilt mich, alles ödet mich an: die Uni, die Professoren, die Vorlesungen, die Freunde und diese Mädchen erst. Sie öden mich an, bis zum Erbrechen .«
Er schwieg kurz, rückte seine Brille zurecht und fuhr dann fort: »Zu nichts habe ich Lust, und eigentlich will ich auch gar nichts mehr. Ich merke, wie ich von Tag zu Tag gleichgültiger werde, und mir ist sogar wohl dabei. Vielleicht falle ich ja demnächst in eine solche Apathie, dass ich den Überdruss gar nicht mehr spüre. Etwas tun müsste man, etwas Bedeutendes . Oder doch eher alles sein lassen. Was können wir denn schon tun? Gar nichts! Das Älteste, was es auf dieser Millionen Jahre alten Welt gibt, ist gerade mal zwanzigtausend Jahre alt, und selbst diese Zahl ist aus der Luft gegriffen. Neulich unterhielt ich mich mit unserem Philosophieprofessor. Ich wollte es genau wissen und fragte ihn nach unserer >Daseinsberechtigung<. Was zum Teufel haben wir auf der Welt verloren? Er konnte mir auch keine Antwort geben. Er brabbelte etwas von Schaffensdrang und der Tatsache, dass das Leben in sich selbst seine Berechtigung finde, lauter so ungereimtes Zeug. Wie können wir denn schöpferisch tätig sein? Das heißt doch etwas aus dem Nichts hervorbringen. Dabei ist selbst der klügste Kopf nichts als ein Depot, in dem das Wissen und die Erfahrungen unserer Vorfahren gespeichert werden. Für uns bedeutet >erschaffen< doch nur, dieses Gedankengut in eine neue Form zu bringen und es dann meistbietend auf den Markt zu werfen. Ich kann einfach nicht begreifen, wie Menschen sich mit dieser lächerlichen Aufgabe zufrieden geben können. Wenn es doch Himmelskörper gibt, deren Licht erst in fünftausend Jahren bei uns eintrifft, scheint es mir kein Zeichen von Intelligenz, wenn ein Prahlhans mit Werken unsterblich werden möchte, die bereits fünfzig Jahre später in den Bibliotheken vergammeln und die nach fünfhundert Jahren ganz vergessen sind; oder indem er sein Leben damit verbringt, Marmor zu meißeln und Ton zu kneten, damit sein Werk dreitausend Jahre später als Torso in einem Museum ausgestellt wird.«
Seine Stimme klang auf einmal bedeutungsvoll, als er ganz langsam sagte: »Ich glaube, das Einzige, was wir wirklich hinbekommen, ist, unserem Leben ein Ende zu setzen. Ja, dazu sind wir in der Lage, und nur in diesem Fall haben wir unsere eigene Willenskraft eingesetzt. Du wirst jetzt fragen, warum ich das dann nicht tue! Ich sagte es ja bereits, ich bin einfach zu apathisch. Alles ist mir zu viel, lediglich das Trägheitsgesetz zwingt mich zum Weiterleben.«
Er riss seinen Mund weit auf und gähnte, während er seine Füße von sich streckte. Ein älterer Herr, der ihm gegenübersaß und in eine armenische Zeitung vertieft war, zog angesichts dieser raumgreifenden Geste hastig seine Füße ein und warf dem sich räkelnden jungen Mann einen verdrießlichen Blick zu.
Sein Freund hatte jedoch diesen Ausführungen, die er nicht zum ersten Mal zu hören bekam, keine weitere Beachtung geschenkt. Stattdessen hatte er seine Augen umherschweifen lassen und mit hochgezogenen Augenbrauen - als sammle er dahinter wichtige Gedanken - dauernd vor sich hin gemurmelt.
Doch als die Ansprache zu Ende war, lächelte er plötzlich vielsagend: »Ömer! Hast du Geld? Wollen wir heute Abend Rakı trinken gehen?«
Ömer antwortete mit einem schlauen Grinsen, das zu seinen vorigen tiefsinnigen Worten so gar nicht passen wollte: »Nein, hab ich nicht. Aber wir werden es schon jemandem abluchsen. Am einfachsten wäre es, bei meiner Dienststelle vorbeizugehen, aber danach ist mir nun wirklich nicht zu Mute.«
Der hagere junge Mann schüttelte den Kopf: »Die werden dich demnächst rausschmeißen, wenn du nie auftauchst und dich so hängen lässt. Die staatlichen Büros suchen doch sowieso dauernd einen Vorwand, die Studenten unter ihren Angestellten loszuwerden. Und ihr auf der Post, wo die Zeit doch besonders kostbar sein sollte, seid da sicher als Erste dran.« Lachend fügte er kurz darauf hinzu: »Und dass ein Brief von Beyazıt nach Eminönü achtundvierzig Stunden braucht, ist bei so einem diensteifrigen Personal ja auch kein Wunder!«
Ömer antwortete seelenruhig: »Mit dem Briefversand hab ich nichts zu tun. Ich bin in der Buchhaltung, da schreibe ich von morgens bis abends Hefte voll. Manchmal helfe ich abends auch dem Kassierer. Geldzählen kann richtig Spaß machen, mein guter Nihat.«
Der andere lebte plötzlich auf: »Interessant, Geld ist immer interessant. Oft nehme ich einen Liraschein aus der Tasche, lege ihn vor mich hin und schaue ihn stundenlang an. Eigentlich ist da gar nichts Besonderes dran. Ein paar schwungvolle Schriftzüge, gerade wie bei den Kalligraphieübungen in der Schule. Na ja, vielleicht ein bisschen feiner und verschnörkelter . Dann eine Abbildung, etwas Kleingedrucktes und ein, zwei Unterschriften . Und wenn man sich noch etwas tiefer darüber beugt, steigt einem ein penetranter, ranziger Geruch in die Nase. Wie kann so ein dreckiges Stück Papier nur so mächtig sein!«
Er schloss für einen Moment die Augen. »Nimm beispielsweise mal einen Tag, an dem du vor innerer Leere fast erstickst. Das Leben scheint dir düster und sinnlos. An solchen Tagen erliegt der Mensch dann meistens, so wie du eben gerade, dem Hang zu philosophieren. Irgendwann ist dir sogar das zu viel, und du möchtest den Mund am liebsten gar nicht mehr aufmachen. Du bist sicher, dass niemand und nichts dich mehr retten kann. Auch das Wetter ist öde und erdrückt einen, ist entweder zu heiß oder zu kalt oder zu verregnet. Die Passanten schauen dich dumm an, und wie die Ziegen mit heraushängender Zunge hinter einem Büschel Gras herrennen, laufen auch sie irgendwelchen unsinnigen Dingen nach. Du versuchst dich zusammenzunehmen und diesen scheußlichen Zustand deiner Psyche zu analysieren. Die unentwirrbaren Knoten der menschlichen Seele liegen wie ein großes Rätsel vor dir. Und wie an einen Rettungsring klammerst du dich an das Wort >Depression<, das du aus irgendwelchen Büchern kennst. Denn aus unerfindlichen Gründen brauchen wir alle für unsere Sorgen, seien sie materieller oder seelischer Art, eine genaue Bezeichnung. Wenn wir etwas nicht benennen können, werden wir verrückt. Na ja, sonst würden die Ärzte ja am Hungertuch nagen . Du bist also kurz vor dem Ertrinken in diesem unendlichen Meer aus Langeweile und greifst nach dem Strohhalm Depression, da triffst du unerwartet einen alten Freund, den du schon lange nicht mehr gesehen hast. Seine gepflegte Erscheinung macht dir augenblicklich deine eigenen leeren Taschen bewusst; und wenn du Glück hast, kannst du den überrumpelten Freund um ein paar Lira erleichtern . Und dann reißt wie ein Wunder ein starker Windstoß eine dicke Nebelschicht von deiner Seele, dein Inneres hellt sich auf, und du verspürst eine Leichtigkeit und Weite. Die Schwermut ist wie weggeblasen, du schaust zufrieden in die Welt und suchst einen Bekannten, mit dem du plaudern kannst. So ist das, mein Lieber; was Bücherstapel und stundenlanges Brüten nicht zu Stande bringen, das schaffen zwei speckige Geldscheine. Vielleicht willst du es dir nicht eingestehen, dass unsere Seele sich so billig kaufen lässt, und du suchst nach edleren Gründen für diesen Sinneswandel, nach einer Wolke vielleicht, die hoch oben am Himmel schwebt, oder einer frischen Brise in deinem Nacken oder einem klugen Gedanken, der dir gerade in den Sinn gekommen ist. Doch eines sag ich dir: Es funktioniert genau umgekehrt! Nur wegen zweier Lirascheine, die den Weg in unsere Tasche gefunden...
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