Schweitzer Fachinformationen
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Es ist Nacht, wahrscheinlich nach zwei. Der Mond erhellt die Insel und macht mir Licht, sie strahlt wie ein goldverzaubertes Schiff. Es sieht aus, als würde es den Fluss hinauffahren, umspielt vom dunklen, glitzernden Wasser.
Die Ampeln funktionieren nicht, doch vielleicht irre ich mich auch, meine Sicht wird schlechter. Ich überquere die Gleise, zu dieser Uhrzeit fährt keine Straßenbahn. Plötzlich eine Sirene, sie wird lauter. Aber sie kommen nicht wegen mir, sie wissen nichts, glaube ich, niemand hat mich gesehen.
Ich gehe zügig, es ist vollkommen windstill. Die Luft ist schwer, eine Maus huscht in einen Gully. Kurz vor mir hält ein Müllwagen mit seiner unverkennbaren Melodie. Ein Container wird angehoben, ausgekippt, dann setzt sich die Presse in Bewegung.
Platanen säumen das Ufer, zu Hunderten, bei jedem meiner Schritte tauchen welche auf, wie nebelhafte Geister winden sie sich um mich. Ich kann nur noch mit dem linken Auge sehen, meine rechte Hand ist feucht. Mit dem Zeigefinger fahre ich über mein rechtes Lid und spüre etwas Weiches. Ich sehe das Blut an meiner Hand, es läuft meinen Unterarm hinunter, aber ich kann nichts tun.
Der Granita-Stand an der Brücke ist zu. Sonst hätte ich nach etwas Eis gefragt. Kann es sein, dass der ganze Block geschmolzen ist? Egal, ich bin fast da. Auch mein anderes Auge versagt - die Bude, die gelb blinkenden Ampeln, das verzauberte Schiff, die Bäume, alles wird schwarz.
Unten kräuselt sich der Fluss in seinen Strudeln, er fließt in die Stadt und durchschlängelt sie. Mit beiden Händen halte ich mich fest, der Marmor der Brüstung ist kühl, ich kann mich abstützen. Unweit sehe ich Stühle aus Eisen, angeschlossen mit einer Kette, aber ich muss widerstehen.
Das Blut ist überall, im Gesicht, auf dem T-Shirt, mit jedem Schritt verliere ich einen Tropfen. Ich komme mir vor wie Hänsel und Gretel mit ihren Brotkrumen, die sie wieder nach Hause führen sollten. Arme Dummerchen, wenn ein Vater beschließt, dich zu verlassen, wozu dann zurückkehren?
Ich beginne zu zittern, sinke zu Boden. Ich stelle mir die Möwen vor, wie sie sich auf der Tiberinsel drängen. Du musst es schaffen, sage ich mir, nur noch ein Stückchen. Ich bin schon auf der Brücke, wenige Schritte vom Fatebenefratelli entfernt. Von Pinien umsäumt sieht es gar nicht aus wie ein Krankenhaus. Mit seinen blühenden Terrassen, der orangen Fassade und den eleganten gusseisernen Laternen ähnelt es eher einem Hotel. Und darüber der Himmel, ein leuchtendes Sternenbett.
Hoffentlich regnet es heute Nacht, ich möchte alles wegwischen, keine Spuren hinterlassen. Ich höre die Möwen kreischen, die Stromschnellen rauschen und wie der Fluss die Insel bedrängt.
Auch ich bin jetzt auf dem Schiff. Das Heck, das Richtung Meer zeigt, schwankt leicht. Der Mond wird immer größer, bis er den Himmel ausfüllt.
Über mir kreist eine Möwe. Die weißen Flügel werden immer heller, sie kommt näher, wird riesengroß.
Ein Licht, und das Gesicht einer Frau, ganz nah. Ziegelrote Lippen, schwarze Brille, die Haare unter einer Haube verborgen. Eine Ärztin, sie trägt einen weißen Kittel. Ich befinde mich auf einer Liege, das Kopfteil ist leicht aufgestellt.
»Er kommt zu sich.«
Ich will mich aufsetzen.
»Bleib liegen.«
Ich hänge am Tropf.
Die Frau geht ein Stück zurück. »Ich bin gleich fertig.«
Mit Nadel und gespanntem Faden näht sie die Wunde an der Augenbraue.
»Was ist passiert?«, sie schaut mich forschend an.
Ich antworte nicht.
»Man hat dich hier draußen gefunden.«
»Ich bin hingefallen.«
»Wo?«
»Weiß ich nicht mehr.«
Sie seufzt und sagt einer Krankenpflegerin, dass sie mich verbinden und meine Daten aufnehmen soll.
»Vielleicht fällt es dir ja später ein, hm?!«
».«
»Ist dir kalt?« Blöde Frage, hier sind bestimmt vierzig Grad.
»Wir stellen dich vorerst in den Gang, später kommst du in ein Zimmer.«
»Kann ich nicht nach Hause?«
»Kommt gar nicht infrage«, und zur Pflegerin: »Hast du gehört? Diese Kerle merken wohl gar nichts mehr.«
Die Pflegerin, die mich nach draußen schiebt, ist klein, hat kräftige Finger und ein kleines Schlangentattoo auf dem Arm.
»Kann ich aufstehen?«, versuche ich es noch einmal. Sie antwortet nicht, stellt mich an einer Wand ab und pustet sich die Haare aus dem Gesicht. Ich will mich aufsetzen und beuge den rechten Arm.
»Pass mit dem Tropf auf!« Die Nadel bohrt sich bis zum Anschlag hinein, kalter Schweiß, mir wird wieder schwarz vor Augen.
»Versuch zu schlafen.«
Die Pflegerin verschwindet hinter einer Tür. Ich sehe nur einen hellen Spalt. Vom Gang gehen weitere Zimmer ab, und wer weiß, wer dort liegt. Ich habe Angst, stelle mir alte Leute an Atemgeräten und übersät mit Hämatomen vor.
Ich rede mir gut zu. In ein paar Stunden bist du wieder fit, sage ich mir.
Das Blut ist getrocknet, und das T-Shirt liegt steif auf meiner Brust. Ja, bald werde ich aufstehen und nach Hause gehen, schön lange duschen und versuchen, die Sachen zu waschen, oder ich werfe sie weg, bevor Mama nach Hause kommt. Sie weiß noch nicht, dass ich zurückgekommen bin, oder vielleicht doch, vielleicht hat meine Tante sie angerufen.
»Dein Sohn hat es nicht mal für nötig gehalten, sich von uns zu verabschieden.« Bei dem Gedanken muss ich lachen, was für eine Genugtuung! Der Schmerz hat etwas nachgelassen, das liegt wahrscheinlich am Tropf.
Ich stelle mir ihre Gesichter vor, »er hat sein ganzes Zeug hiergelassen!« Wie meine Cousins mit Fragen bombardiert werden: »Wusstet ihr, dass er abreisen wollte? Wann hat er das Haus verlassen? Was hat er euch gesagt?« Und die Kommentare über meine Mutter, »genauso verkommen wie sie«.
Ich höre den Fluss um die Insel strömen und träume, ich bin auf einem Holzboot, aber kann das Ruder nicht finden. Es ist dunkelste Nacht, wie sie nur auf dem offenen Meer herrscht. Ich habe mich an das eine Ende gekauert und versuche, das Boot mit Beckenbewegungen vorwärtszutreiben, aber es kommt nicht vom Fleck. Das Meer liegt flach da, meine Arme stochern ins Leere, sie erreichen das Wasser nicht.
Die Tür öffnet sich, ich habe wohl geschrien.
»Was ist mit dir?«, fragt die Pflegerin, kommt näher und fühlt meinen Puls, fasst mir an die Stirn. Ich habe Herzrasen, ein Herz, das fällt.
»Ich hatte einen Albtraum.«
»Keine Sorge, es ist alles gut.«
Nein, nichts ist gut, ich bin immer noch im Krankenhaus. Ich hatte gehofft, ich wache auf und das Ganze wäre nur ein Traum.
Das ist schon oft passiert. Mama machte das Licht an, ich saß im Bett und griff mit den Händen in die Dunkelheit. Ihre Stimme reichte, um mich zu beruhigen. Sie brachte mir ein Glas Wasser: »Wieder der gleiche Traum?«, fragte sie, aber den einen Traum gab es nicht. Ich tastete keuchend um mich und traf überall nur auf Wände. Oder ich fühlte mich beengt, wie eingeschlossen in einer Truhe. Solche Dinge.
»Entschuldigung«, rufe ich der Pflegerin hinterher, die gerade weggeht.
»Ja?«
»Entschuldigen Sie, ich wollte nur wissen, ob mein Rucksack noch bei mir war, als man mich gefunden hat.«
»Ich habe ihn dort unten verstaut. Was brauchst du?«
»Mein Handy, um Bescheid zu sagen.«
»Möchtest du zu Hause anrufen?«
»Noch nicht, ich möchte niemanden beunruhigen.«
»Wie du meinst. Du hast später einen Termin beim Augenarzt. Dann wissen wir, ob alles in Ordnung ist.«
Ich denke nicht daran, meine Mutter anzurufen, das fehlte noch. Die Zeit vergeht hier einfach nicht.
»Wann genau?«
»Sobald er kommt, bringe ich dich hin, in Ordnung? Es ist ja noch nicht mal sechs.«
»Meinen Sie, es ist schlimm?«
»Das weiß ich nicht. Das wird dir der Augenarzt bei der Untersuchung sagen. Vielleicht erzählst du ihm ja, was passiert ist.«
»Sehe ich schlimm aus?«
»Also gut jedenfalls nicht.«
»Wirklich?«
»Ja, wirklich. Ich habe zu tun, wir sehen uns später.«
Die Frau geht. Zum Glück ist es nicht mehr so dunkel, es dämmert allmählich.
Als man mich abholt, kommt es mir vor, als sei eine Ewigkeit vergangen. Diesmal ist es eine andere Krankenschwester. Auch sie ist klein, aber ihre Haare sind blondiert und raspelkurz.
»Wo ist Ihre Kollegin?«
»Die hat Feierabend.«
»Sie hat sich nicht verabschiedet.«
»Glaubst du, wir haben Zeit, uns von den Patienten zu verabschieden?«
»Sie hat gesagt, sie bringt mich zum Augenarzt.«
»Da bringe ich dich jetzt hin. Setz dich hier rein.« Sie schiebt einen Rollstuhl neben die Liege und schaut mich auffordernd an.
»Da setz ich mich nicht rein. Ich bin doch kein Opa. Ich kann laufen.«
»Das ist Krankenhausvorschrift. Komm schon, jeder bekommt seinen Ausflug im Rollstuhl.«
Ich fühle mich unwohl. Verdreckt und mit Augenbinde werde ich wie ein Querschnittsgelähmter geschoben von einer, die meine Mutter sein könnte. Ich sitze zusammengekrümmt und schaue nach unten. Es ist fast acht und das Krankenhaus voller Menschen. In dem großen, glasüberdachten Innenhof erkundigt sich eine Frau am Kiosk nach dem Preis einer...
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