Schweitzer Fachinformationen
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Mitten im Nil, an der Spitze der Insel Zamalek in Kairo, lag das Café Left Bank oder «das linke Ufer», wie ich es auf Arabisch nannte. Ich spielte damit auf die politische Linke an, nicht auf die Seitenbezeichnung. Obwohl meine linken Freunde aus Ägypten mich darauf hingewiesen hatten, dass das Left Bank kein Stella-Bier im Angebot hätte wie das gleichnamige Linken-Café in Kairos Stadtzentrum, empfand ich das Lokal als angenehm und locker. Die Stühle waren so bequem, dass man stundenlang dort sitzen und schreiben konnte. Ich ging zu meinem üblichen Tisch, einem kleinen Quadrat mit nur zwei Stühlen weit hinten bei den Bücherregalen, nahm Heft und Stift aus meiner Stofftasche und legte beides auf den der Bar zugewandten Stuhl. Wie immer wählte ich für mich selbst den Stuhl, von dem aus man auf den Nil blickte. Das Wasser war dunkelblau, es reflektierte die Farbe des Himmels, den die Sonne soeben verlassen hatte. Ich setzte mich und stellte die Füße auf den Balken, der die vier Tischbeine miteinander verband. Bevor ich das Heft aufschlagen und meinen Stift zwischen den Seiten herausziehen konnte, kam schon der Kellner. Diesen Kellner, einen jungen Typen in den Zwanzigern, mochte ich sehr, ich nannte ihn Sphinx. Ihm selbst gefiel dieser Name allerdings gar nicht, er erinnerte ihn an die ausländischen Touristinnen aus der Zeit, in der er in einem Hotel am Roten Meer gearbeitet hatte. Wie auch immer, die Touristinnen und ich nannten ihn nicht ohne Grund so, seine hohen Wangenknochen, die Form seiner Augen und die Zeichnung seiner Lippen machten ihn zu einem Ebenbild der Sphinx. Ich respektierte jedoch seine Abneigung und benutzte den Namen fortan nur noch in meinen Aufzeichnungen.
Sphinx blickte auf den Nil und fragte:
«Guavensaft, mein Herr, wie immer?»
Ich sah auf das Nilwasser, das sich in seinen Augen spiegelte, und antwortete: «Ja, es sei denn, Sie hätten in der Zwischenzeit ein billigeres Getränk auf die Speisekarte gesetzt.»
Er lächelte den Nil an und ging.
«Donnerstag, 15. November 2012 - erstes Interview mit Abdul aus dem Jemen», stand ganz oben auf der Seite, als ich mein Heft aufschlug. Das Wort Jemen war zweimal unterstrichen. Es war mein erstes Interview mit einem Mann aus dem «glücklichen Jemen», wie er in den syrischen Geografie-Lehrbüchern hieß.
Abdul kam noch vor dem Guavensaft. Er blieb zunächst am Eingang stehen und drehte den Kopf nach rechts und links. Mit seinem runden Kindergesicht und der rötlichbraunen Haut sah er genauso aus wie auf den Bildern, die er mir geschickt hatte. Die kleinen Augen. Das gleichbleibende, Vertrauen einflößende Lächeln. Aber in seinem dunkelblauen Jackett aus dünnem Kaschmir wirkte er klein und stämmig. Oder, um deutlicher zu werden: Angesichts der Bilder, die er mir über Whatsapp geschickt hatte, hatte ich ihn mir groß und breit vorgestellt. Ich winkte ihm von meinem Platz aus. Offenbar konnte er zwischen den Fotos, die ich ihm hatte zukommen lassen, und meinem bärtigen Gesicht eine Verbindung herstellen, denn er lächelte mich mit weißen, ebenmäßigen Zähnen an und kam dann schnell in meine Richtung gelaufen, sehr schnell sogar, er rannte fast.
«Entschuldige die Verspätung!», schnaufte er, obwohl es erst Viertel vor war, fünfzehn Minuten vor unserem Termin. Sein Atem roch nach Pfefferminze. Er gab mir seine verschwitzte Hand, schüttelte die meine einmal und noch ein zweites Mal und umarmte mich dann so herzlich, als wären wir alte Bekannte. Er roch gut, ich glaube, nach Rosen.
Mit einem Mal gesellte sich Sphinx als Dritter zu uns. Ein Messingtablett mit dem Guavensaft und einem Glas Wasser in der Hand, bat er uns, an einen größeren Tisch umzuziehen. Ich nahm meine Tasche, und wir setzten uns auf ein bequemes graues Sofa mit Blick auf den Nil. Dieser war inzwischen zu einem schwarzen Spiegel geworden, der die Lichter der Imbaba-Brücke zurückwarf. Vor uns stand ein Kaffeetisch.
«Einen Mokka ohne Zucker, bitte!», sagte Abdul höflich zu Sphinx, zog sich sein Jackett aus und warf es über die Rückenlehne des Sofas. In seinem weißen T-Shirt, die rundlichen braunen Unterarme unbedeckt, wirkte er jünger.
Ich setzte mich auf die andere Seite des Sofas, bat Abdul, das Aufnahmegerät einschalten zu dürfen, und platzierte es auf dem Tisch neben dem Saft, dem Wasser und dem Teelicht. Währenddessen legte Abdul eine Schachtel Marlboro, ein Feuerzeug aus Messing und sein Handy dazu.
Ich heiße Abdul und bin dreiunddreißig Jahre alt. Geboren wurde ich im Jemen, in der kleinen Hafenstadt Mucha an der Küste des Roten Meeres. Als Kind habe ich davon geträumt, Kapitän zu werden. Kapitän eines Schiffes, das indische Seide und Gewürze transportiert. Aber mein Vater intervenierte in meinen Traum. Seinem Wunsch nach sollte ich Kapitän eines Kriegsschiffes werden, eines Schlachtschiffes. Als er mir zum Id al-Fitr eine Militäruniform kaufte, weinte ich zum ersten Mal im Leben. Ich war erst fünf. Weil ich die Uniform nicht anziehen wollte, verpasste mein Vater mir zuerst eine Kopfnuss, haute mir dann seine große schwielige Hand in mein Kindergesicht und nötigte mich so, meinen kleinen Körper in die Uniform zu zwängen. Sie war sehr schwer und roch komisch, vielleicht irgendwie muffig von der Lagerung. Ich erinnere mich noch gut, wie ich mir mit ihrem Ärmel die Tränen abtrocknete. Mit sechs stürzte ich mich in der Hoffnung, mich in einen Fisch zu verwandeln, ins Meer. Später, als ich erwachsen war, wurde mir klar, dass es sich dabei um nichts weiter handelte als einen Suizidversuch, der von ein paar am Strand spielenden Jungs vereitelt wurde. Sie zogen mich aus dem Wasser, trugen mich auf den Schultern nach Hause und erklärten meinem Vater, ich könne nicht gut schwimmen und wäre beinahe ertrunken. Mein Vater schämte sich vor ihnen für seinen schwachen Sohn. Er verpasste mir wieder eine Kopfnuss und drohte meiner Mutter, das sei jetzt das letzte Mal, sonst werde er eine jüngere, fruchtbare Zweitfrau nehmen, und sie wäre dann nur noch das Dienstmädchen. Ich verstand damals nicht, was er mit «letztes Mal» meinte, aber ich erinnere mich noch gut, wie er meiner Mutter verbot, mir trockene Kleider zu holen, wie er sie an der Hand ins Schlafzimmer zerrte und verprügelte. Und wie sie lautlos schrie.
Weißt du, was ich mit dem Ausdruck «lautlos schreien» meine? Wenn mein Vater meine Mutter schlug, biss sie meist auf das Laken, auf einen Zipfel ihres Gewands, ein Handtuch oder irgendein Stück Stoff, um ihn im Viertel nicht zu entehren. Die Stimme einer Frau ist tabu, hatte er ihr gesagt. Ich machte es ihr nach und unterdrückte ebenfalls meine Schreie, wenn mein Vater mich verprügelte, weil er mein Schreien und Schluchzen weibisch nannte und ich mich immer nach meiner Mutter richtete. Und da die Stimme einer Frau tabu war - unterdrückte auch ich jedes Mal, wenn mein Vater mich schlug, meine Schreie.
An dieser Stelle wurde Abdul von Sphinx unterbrochen, der den Mokka brachte und ihn fragte: «Möchten Sie noch etwas bestellen, mein Herr?»
Ehrlich gesagt war Sphinx im richtigen Moment gekommen. Ich zitterte und bebte bereits unter dem Eindruck von Abduls Worten, die so beharrlich auf mich niederprasselten, dass ich fast an ihnen erstickte. Auf diesen Anfang war ich nicht gefasst gewesen. Ohne sich dessen bewusst zu sein, hatte Abdul wie ein Seemann allen Ballast über Bord geworfen, damit sein Schiff nicht unterging. Ich forderte ihn auf, seinen Kaffee zu probieren, und trank selbst ein paar Schlucke Wasser. Dann ergriff ich das Wort. Ich ließe das Aufnahmegerät nur laufen, sagte ich Abdul, um unser Interview von Anfang an zu protokollieren. Dieses Protokollieren müsse ich ihm erläutern: Wenn ich eine Tonaufnahme machte, übernähme ich die volle Verantwortung für die Vertraulichkeit sämtlicher Informationen.
Ich hätte Syrien verlassen, erklärte ich ihm, als die friedliche Revolution sich in einen bewaffneten Kampf verwandelte. Weil ich wie Abdul die Militäruniform und die Gründe, sie zu tragen, hasste, hatte ich beschlossen, mich keiner der Kampfparteien anzuschließen. Stattdessen wollte ich auf der Seite des Rechts stehen und meine Sache von irgendeinem friedlichen Ort in der Welt aus verteidigen. Meine Forderung war Freiheit und Demokratie, vor allem aber Gleichheit. Es möglich zu machen, dass man in der Arabischen Welt frei über Homosexualität reden konnte, hatte dabei für mich oberste Priorität. Deshalb hatte ich daran gedacht, einen Blog namens ArabToGay zu gründen. Darin würde ich meinen Roman kapitelweise in arabischer Sprache veröffentlichen und Interviews mit homosexuellen arabischen Männern führen, die ihre Identität nicht preiszugeben brauchten, es sei denn, sie wollten es. Um Homosexuelle zu erreichen, gab es keinen anderen Weg, als die arabischen Dating-Portale im Internet zu besuchen und ihnen dort zu schreiben. Auf diese Weise war nach zwei Wochen Chatten aus dem avisierten Treffen mit Abdul ein Interview für meinen Blog geworden. Mein Ziel bei diesen Interviews war es, unsere Existenz und das Leid, das jeder Einzelne von uns jeden Tag erfuhr, egal woher er kam und welche Sprache er sprach, öffentlich zu machen. Ich wollte meine Wirklichkeit verändern. Ich wollte in dieser Welt akzeptiert sein, nicht toleriert.
«Ich auch», antwortete Abdul. «Aber nicht auf Kosten meiner Familie. Ich bin nämlich verheiratet, meine Tochter ist vier. Meine Familie ist in Schweden, in Göteborg.»
«Bist du in Schweden mit einem Mann verheiratet?», unterbrach ich ihn irritiert.
«Nein, mit einer Frau», sagte er und fuhr dann fort, ohne meine Verblüffung zu beachten:
«Ich bin mir sicher, dass du schon viele arabische und nichtarabische Homosexuelle getroffen hast, die ein Doppelleben führen....
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