Schweitzer Fachinformationen
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Prolog
Der 19. Juni 2020 war zunächst ein ganz normaler Freitag und ich erreichte am Abend mit dem Zug den Münchner Hauptbahnhof, um am nächsten Tag gemeinsam mit meinem Orchester unsere bevorstehenden Proben zu beginnen. Doch nachdem ich den Zug verlassen und meinen Blick auf das Display meines Handys gerichtet hatte, blieb ich wie hypnotisiert bis weit nach Mitternacht auf dem Bürgersteig inmitten von München stehen und verfolgte die Livestreams. Mein Koffer stand wie ein stummer Begleiter neben mir, und wahrscheinlich wäre es mir nicht aufgefallen, wenn ihn jemand mitgenommen hätte. Meine Unterkunft, die nur wenige Stationen entfernt liegt, fühlte sich für mich unerreichbar an.
Ich lebte bereits seit einigen Jahren in Deutschland, als die politischen Ereignisse in meinem Heimatland die Aufmerksamkeit der internationalen Presse erreichten. In den Monaten vor jenem Abend verfolgte ich die zahlreichen Meldungen mit großem Interesse. Jedoch begleitete mich immer auch das Gefühl einer gewissen Distanz, die vielleicht daher rührte, dass ich Belarus verlassen hatte, um in einem anderen Land zu leben. Doch die Gewaltausschreitungen bei den Protesten an jenem Juniabend in Minsk trafen mich mit voller Wucht und ließen mich von zahlreichen Gefühlen zerrissen zurück - ich schwankte zwischen Wut, Entrüstung und Hilflosigkeit. Der unablässige Strom an Informationen, die die Livestreams der Sozialen Medien auf mein Handy sendeten, ließ mich nicht mehr los, und ich saugte alles in mich auf. Die maßlose Ungerechtigkeit und skrupellose Gesetzlosigkeit erschütterten mich, und ich bedauerte es mehr als alles andere, an diesem Abend nicht in Minsk sein zu können, um für Gerechtigkeit eintreten zu können. Verzweifelt zerbrach ich mir den Kopf darüber, was ich in Deutschland unternehmen kann, um den Mitmenschen in meiner Heimat helfen zu können.
Erst als der Protestabend in Minsk langsam ein Ende fand und die Nachrichten auf meinem Handy weniger wurden, griff ich nach meinem Koffer und erreichte wenige Zeit später erschöpft und aufgewühlt meine Unterkunft.
In den folgenden Tagen begann ich damit, nach Wegen zu suchen, wie ich etwas unternehmen könnte. Eins stand für mich fest - tatenlos in meiner Wohnung sitzen konnte ich nicht.
Ich lebte bereits seit vier Jahren in Deutschland, kannte hier jedoch nur wenige Menschen aus meinem Heimatland. Belarus_innen hatten in Deutschland keine organisierte Diaspora, sie bevorzugten es in der Regel, sich schnellstmöglich in das neue System der Gesellschaft zu integrieren, in der sie lebten. Nach einer langen Recherche im Internet stieß ich auf eine Facebook-Gruppe von Belarus_innen in Deutschland. Es war leider eine mehr oder weniger inaktive Gruppe. In den letzten Beiträgen wurde sich über Fragen bezüglich Visa oder der Suche nach einer Wohnung ausgetauscht. Auf meine Frage nach regionalen Chats erhielt ich ein paar Einladungslinks zu Gruppen auf Telegram - dem wegen seiner angeblichen Sicherheit beliebtesten Messenger in Belarus.
Während ich in München nach dem besagten Abend das ganze Wochenende mit meinem Orchester arbeitete und im Internet nach Kontakten zu in Deutschland lebenden Belarus_innen suchte, organisierten in Berlin zahlreiche Belarus_innen ihre allererste Demonstration. Diese öffentliche Reaktion auf die unfassbare Gewalt in unserem Heimatland fand unmittelbar neben der belarusischen Botschaft am Treptower Park statt. Der Ort wurde gewählt, um den Mitarbeiter_innen der Botschaft deutlich zu zeigen, was die Belarus_innen in Deutschland über die Situation in ihrem Land denken.
Wenige Tage nach der ersten Demonstration musste ich für ein Musikprojekt nach Potsdam reisen. Noch in München versuchte ich über den Berliner Chat auf Telegram zu erfahren, ob für die folgenden Tage weitere Veranstaltungen geplant seien. Dabei erfuhr ich, dass tatsächlich eine weitere Demo für Samstag, den 27. Juni 2020, geplant sei. Sie sollte um 12 Uhr beginnen und wieder neben dem Botschaftsgebäude stattfinden. Ich fragte vorsichtig nach dem Grund, warum die Demo wieder dort stattfinden sollte und auch die Wahl der Uhrzeit leuchtete mir nicht ein. Aus eigener Erfahrung wusste ich, dass die Mitarbeiter_innen von Botschaften und Konsulaten oftmals sehr kompetente und hochgebildete Menschen sind, die die ihnen vorliegenden Situationen aus verschiedenen Perspektiven betrachten und häufig sogar auf der Seite der friedlichen Zivilbevölkerung stehen. Warum also sollte die Demonstration vor möglichen Mitstreitern stattfinden?
Aus meinen Argumenten entstand im Chat schnell eine lebhafte Diskussion, in der mir die meisten Teilnehmer_innen zustimmten. Der Zuspruch der Belarus_innen aus Berlin kam für mich unerwartet, da ich zuvor befürchtete, dass sie Gegenargumente eines bis dahin Unbeteiligten aus einer anderen Stadt abwehren würden. Doch nach einigen Stunden des Austauschs wurde ich von ihnen damit beauftragt, eine Demonstration mit einem neuen Konzept für den 27. Juni zu organisieren.
Und so fing es für mich an .
In der folgenden Woche schlief ich insgesamt nur vier bis fünf Stunden und konzentrierte mich vollkommen auf diese neue Aufgabe. Im Kopf hatte ich immer den Gedanken, dass mir wenige Tage bleiben, um etwas auf die Beine stellen und bewegen zu können. Im Chat lernte ich zum Glück ein paar aktive Menschen kennen, mit denen ich mich über ihre Erfahrungen austauschen konnte und die mir bei meiner Vorbereitung eine große Hilfe waren.
Im Rückblick kann ich sagen, dass die Form der Vorbereitung im Grunde der meiner Konzertorganisationen ähnelte. Nur die Inhalte haben sich stark verändert: Statt mit Konzertveranstaltern telefonierte ich nun mit der Polizei und der Presse, statt Musikstücke besprachen wir Texte für die Protestplakate und den Inhalt für unsere Reden. Genauso wie bei den Konzertveranstaltungen mussten wir auch für unsere Demonstration unter den Pandemiebedingungen strikte Hygienekonzepte entwickeln, die jedoch den Ausdruck unserer Botschaft nicht mindern sollten - im übertragenen Sinn wollten wir zusammenstehen und uns für eine gemeinsame Sache einsetzen.
Die Demonstration am 27. Juni fand auf der Bernauer Straße, neben der Gedenkstätte Berliner Mauer statt. Wir wählten absichtlich diesen Ort aus, denn wir wollten der Öffentlichkeit zeigen, dass es bei der belarusischen Realität durchaus Parallelen zu der jüngsten deutsch-deutschen Geschichte und dem Kampf um Freiheit, gegen Unterdrückung und Gewalt gibt. Die Bernauer Straße war ein Ort, an dem eine ganze Reihe von Fluchten und Fluchtversuchen nach Westberlin stattfanden - dieser Ort passte meiner Meinung nach besser zu unserer Demonstration als die Straße vor der Botschaft. Hinzu kam, dass wir uns entlang der Mauer mit dem vorgegebenen Mindestabstand aufstellen konnten.
Da ich bislang keine Erfahrungen in der Organisation von Demos hatte und zuvor an noch keiner teilgenommen hatte, war ich am Morgen des 27. Juni unvorstellbar aufgeregt. In einem autokratischen Land wie Belarus gab es kaum Möglichkeiten, solche Veranstaltungen offiziell zu organisieren. Die Möglichkeiten der deutschen Demokratie - das Recht auf freie Meinungsäußerung durch Kundgebungen, nach welchen man nicht von der Polizei festgenommen und ins Gefängnis eingesperrt wird - waren nicht nur mir, sondern vielen von uns vollkommen neu.
Wir erwarteten ungefähr siebzig bis achtzig Personen, denn so viele hatten sich im Vorfeld auf unsere Nachrichten zurückgemeldet. Am Ende waren wir überwältigt - unsere kurze Vorbereitungszeit hatte rund hundertachtzig Menschen dazu bewogen, mit uns in der Bernauer Straße zu demonstrieren. Sie kamen mit selbstgemachten Plakaten und Symbolen und stellten sich sehr diszipliniert in einer Reihe auf, die über 300 Meter lang wurde. Auch einige Bundestagsabgeordnete waren dabei. Im Vergleich zu den Demonstrationen, die in Minsk und andernorts noch folgen sollten, war diese hier vielleicht klein - aber für uns war es ein wichtiger erster Schritt.
An diesem Tag habe ich meine erste politische Rede gehalten, was ich mir wenige Tage zuvor noch gar nicht zugetraut hätte. Während ich vor den Menschen in der Bernauer Straße sprach, dachte ich daran, dass ich noch nie so viele Belarus_innen im Ausland an einem Ort zusammen gesehen habe. Sie waren plötzlich da, um die Solidarität mit ihren Mitmenschen in Belarus auszudrücken. Dieser Zusammenhalt bewegt mich noch heute sehr.
In den nächsten eineinhalb Monaten habe ich mich komplett auf die Arbeit für Belarus konzentriert. Ich war beinahe froh darüber, dass mir durch die Auflagen bezüglich der Corona-Pandemie fast alle musikalischen Projekte abgesagt worden waren - sonst hätte ich nicht meine volle Kraft für mein Heimatland gehabt und das hätte mich innerlich zerrissen. Unter den vielen Kundgebungen in ganz Deutschland konnte ich an der Organisation von Aktionen in Berlin, München und Frankfurt teilnehmen. Als wir in Berlin einen Marsch vom Brandenburger Tor bis zum Alexanderplatz organisierten, waren wir sehr überrascht und dankbar, dass deutsche Behörden für uns die zentralen Straßen sperrten und uns vor möglichen Provokationen schützten - statt unsere Meinung zu unterdrücken und uns zu verhaften, wie es in Belarus geschehen wäre. Dazu kamen Gespräche mit der Presse, mit deutschen und internationalen Organisationen und Treffen mit Mitgliedern des...
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