Kapitel 01
Teil 2
ERSCHEINUNGSFORMEN DER ADHS
Wusstest du, dass keine ADHS der anderen gleicht? Kennst du einen Menschen mit ADHS, dann kennst du eben einen - aber pauschalisieren ist nicht möglich. Die ADHS-Symptomatiken können sich auf unzählige Arten und Weisen zeigen, abhängig von der Person, den Umständen und sogar dem jeweiligen Moment. ADHS ist eine facettenreiche und komplexe neurologische Besonderheit, die sich durch eine Vielzahl von Verhaltensweisen und kognitiven Mustern äußern kann.
ADHS HAT VIELE GESICHTER
ADHS kann, wie z. B. Autismus auch, als eine Spektrumstörung betrachtet werden, so können Symptome je nach Altersgruppe, Geschlecht und individuellem Umfeld unterschiedlich ausgeprägt sein. Manche Menschen zeigen hauptsächlich Symptome von Unaufmerksamkeit, während bei anderen Hyperaktivität oder Impulsivität im Vordergrund steht. Es gibt sogar Personen, bei denen eine Mischung aus beiden Symptomen vorherrscht. Hinzu kommt, dass die Ausprägung der ADHS stark unterschiedlich sein kann, je nachdem, wie sich äußere Einflüsse wie Stress, Schlafmangel oder die Lebensphase auf die Symptome auswirken.
Trotz dieser individuellen Unterschiede werden die Symptome sowohl im DSM-5 (Klassifikationssystem für psychische Störungen) als auch im ICD-11 (Klassifikationssystem der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme der WHO) grob in drei Erscheinungsformen unterteilt. Die Klassifizierung bietet eine wertvolle Orientierungshilfe, um zu verstehen, wie sich ADHS bei verschiedenen Personen zeigt, aber es ist wichtig zu betonen, dass diese Einteilung nur eine grobe Vereinfachung der vielschichtigen Realität des ADHS-Spektrums darstellen. Schauen wir uns die drei Erscheinungsformen nun genauer an:
DIE HYPERAKTIV-IMPULSIVE ERSCHEINUNGSFORM
Die hyperaktiv-impulsive Erscheinungsform ist gekennzeichnet durch eine starke motorische Unruhe. Menschen mit dieser Form der ADHS sind ständig in Bewegung, ob durch Zappeln, Herumlaufen oder Klettern in unpassenden Situationen. Besonders Kinder scheinen oft nicht in der Lage zu sein, still zu sitzen oder sich angemessen ruhig zu verhalten. Dabei handelt es sich jedoch nicht um mangelnde Disziplin oder Ungehorsam, sondern um eine ausgeprägte innere Unruhe, die sich in körperlicher Aktivität entlädt. Auch Erwachsene mit dieser Form der ADHS erleben häufig das Gefühl, unter Strom zu stehen.
Zu den auffälligsten Merkmalen dieser Erscheinungsform gehört auch ein stark impulsives Verhalten. Das zeigt sich z. B. darin, dass Betroffene häufig andere in Gesprächen unterbrechen, bevor diese fertig gesprochen haben, oder Antworten heraussprudeln, bevor eine Frage vollständig gestellt wurde. Sie reden oft übermäßig viel und es fällt ihnen schwer, zu warten, bis sie in Gesprächen an der Reihe sind. Sie neigen dazu, Regeln zu ignorieren oder zu stören, was nicht selten zu Konflikten mit anderen Kindern oder Erwachsenen führt. Dieses Verhalten kann in sozialen Situationen problematisch sein, da es als unhöflich oder rücksichtslos wahrgenommen wird.
Menschen mit ADHS der hyperaktiv-impulsiven Erscheinungsform neigen zu unüberlegten Handlungen, die häufig zu Missgeschicken führen. Oftmals gehen sie Risiken ein, ohne vorher über die Konsequenzen nachzudenken, was sie in gefährliche oder unangenehme Situationen bringen kann. Neben der Impulsivität erleben Menschen mit dieser Erscheinungsform häufig starke Stimmungsschwankungen. Sie reagieren emotional sehr intensiv und können schnell frustriert, verärgert oder aufgeregt sein. Diese schnellen Wechsel von Emotionen können für ihr Umfeld verwirrend oder sogar belastend sein.
Da die hyperaktiv-impulsive Erscheinungsform sehr nach außen gerichtet ist, wird sie häufig bereits in der Kindheit erkannt und diagnostiziert. Eltern, Lehrer und andere Betreuungspersonen bemerken oft frühzeitig das auffällige Verhalten des Kindes. Allerdings wird diese Erscheinungsform auch genau wegen ihrer nach außen sehr starken Ausprägung häufig als "schlechtes Benehmen" oder fehlende Disziplin missverstanden. Erwachsene mit dieser Form der ADHS berichten oft, dass sie als Kinder als "störend" oder "rebellisch" abgestempelt wurden, obwohl sie schlicht und ergreifend mit ihrer inneren Unruhe und Impulsivität zu kämpfen hatten.
DIE VORWIEGEND UNAUFMERKSAME ERSCHEINUNGSFORM
Die vorwiegend unaufmerksame Erscheinungsform zeigt sich in einer anderen Art von Herausforderung. Während die hyperaktive Variante sehr nach außen sichtbar ist, kann die unaufmerksame Erscheinungsform leicht übersehen oder falsch interpretiert werden, da die Symptome häufig nach innen gerichtet sind. Menschen mit dieser Erscheinungsform fällt es schwer, ihre Aufmerksamkeit auf Details zu richten. Flüchtigkeitsfehler sind ein ständiger Begleiter, sei es bei Hausaufgaben, in der Arbeit oder sogar bei alltäglichen Aufgaben wie Kochen oder Einkaufen.
Ein weiteres Merkmal ist die Unfähigkeit, die Aufmerksamkeit über einen längeren Zeitraum aufrechtzuerhalten. Lange Vorträge, umfangreiche Texte oder monotone Aufgaben sind eine Herausforderung, da Betroffene schnell gedanklich abschweifen. Es fällt ihnen schwer, Anweisungen vollständig zu befolgen oder Aufgaben und Aktivitäten zu organisieren und erfolgreich abzuschließen. Die mangelnde Struktur führt oft dazu, dass wichtige Aufgaben unvollständig bleiben oder überhaupt nicht erledigt werden.
Ein häufiges Problem bei dieser Erscheinungsform ist das ständige Verlieren von Gegenständen, die für Aufgaben benötigt werden. Schlüssel, Brillen, Stifte oder Dokumente verschwinden scheinbar spurlos, was den Alltag erschwert. Menschen mit der vorwiegend unaufmerksamen Erscheinungsform sind zudem besonders anfällig für Ablenkungen durch äußere Reize. Sei es ein Geräusch im Hintergrund oder ein visuelles Detail - sie verlieren schnell den Faden und tun sich schwer, zur ursprünglichen Aufgabe zurückzukehren. Diese ständige Ablenkbarkeit führt oft zu Frustration und einem Gefühl des Scheiterns.
Typische Verhaltensweisen bei der vorwiegend unaufmerksamen Erscheinungsform sind Tagträumerei und häufiges gedankliches Abschweifen. Betroffene scheinen oft in ihren eigenen Gedanken versunken zu sein, was sie in sozialen Situationen unbeteiligt oder desinteressiert wirken lässt. Diese "nach innen gerichtete" ADHS wird häufig als Schüchternheit missverstanden. Besonders bei Mädchen und Frauen wird diese Form der ADHS übersehen, da das Verhalten nicht so auffällig ist wie bei der hyperaktiven Variante. Leider führt das oft dazu, dass die Diagnose erst spät oder gar nicht gestellt wird, was den Betroffenen den Zugang zu frühzeitiger Unterstützung und Therapie verwehrt.
DIE KOMBINIERTE ERSCHEINUNGSFORM
Die kombinierte Erscheinungsform der ADHS kombiniert, wie der Name schon sagt, Symptome aus beiden zuvor genannten Formen. Menschen mit dieser Form der ADHS zeigen sowohl Merkmale von Unaufmerksamkeit als auch von Hyperaktivität und Impulsivität. Diese Kombination der Symptome ist oft sehr belastend, da sie verschiedene Aspekte des täglichen Lebens beeinträchtigt - von der Fähigkeit, sich auf Aufgaben zu konzentrieren, bis hin zur Kontrolle impulsiver Handlungen und Emotionen.
Eine typische Verhaltensweise ist hier ein sehr wechselhaftes Verhalten. Menschen mit dieser Form der ADHS können in einer Situation extrem aktiv und impulsiv sein und in einer anderen vollkommen still und unaufmerksam wirken. Diese Wechselhaftigkeit kann sowohl für die Menschen mit ADHS als auch für ihr Umfeld verwirrend sein, da sich das Verhalten scheinbar ohne Vorwarnung ändert. Das führt oft zu Missverständnissen in sozialen Interaktionen, weil Betroffene als unzuverlässig oder unbeständig wahrgenommen werden.
Die kombinierte Erscheinungsform ist die am häufigsten diagnostizierte Form der ADHS, da sie ein breites Spektrum an Symptomen abdeckt. Kinder und Erwachsene mit dieser Form der ADHS haben Schwierigkeiten in vielen Bereichen ihres Lebens, was oft zu schulischen oder beruflichen Problemen führt. Die Herausforderung, sowohl mit der Unaufmerksamkeit als auch mit der Hyperaktivität und Impulsivität umzugehen, erfordert in vielen Fällen eine individuell angepasste, sogenannte multimodale Behandlung ( siehe hier).
UNBESTÄNDIGKEIT DER SYMPTOME: ABHÄNGIG VON ALTER, GESCHLECHT UND UMFELD
Ein wichtiger Aspekt der ADHS, der oft übersehen wird, ist die Tatsache, dass die Symptome nicht statisch sind. Sie verändern sich mit dem Alter und der jeweiligen Lebensphase. Kinder zeigen oft stärker ausgeprägte Symptome von Hyperaktivität und Impulsivität, die sich im Erwachsenenalter oft abschwächen. Deswegen nahm man auch sehr lange an, dass ADHS eine Kinderkrankheit ist und Betroffene mit dem Älterwerden "herauswachsen". Erst seit wenigen Jahrzehnten weiß man, dass ADHS ein lebenslanger Begleiter ist ( siehe hier). Erwachsene mit ADHS berichten häufig über innere Unruhe und Konzentrationsschwierigkeiten, die weniger sichtbar, aber ebenso belastend sein können. Eine hyperaktiv-impulsive Form der ADHS in der Kindheit kann sich im Erwachsenenalter zu einer kombinierten Erscheinungsform entwickeln, bei der die Unaufmerksamkeit stärker in den Vordergrund tritt.
Neben den Unterschieden im Alter gibt es auch geschlechtsspezifische Unterschiede in der Ausprägung von ADHS. Studien zeigen, dass Jungen häufiger die hyperaktiv-impulsive Erscheinungsform zeigen, während Mädchen häufiger von der unaufmerksamen Form betroffen sind. Das hat dazu geführt, dass ADHS bei...