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Mittwoch, 30. August
Die letzten Zeilen des Stundenliedes verklangen, und Finn setzte sein Horn an die Lippen, um zusammen mit den anderen ein letztes Mal hineinzustoßen. Der Ton hallte weit durch die Nacht, durch die Straßen und Gassen von Obermarsberg. Ein Gruß an eine vergangene Zeit. An die Geschichte, die hier auf dem Eresberg so gegenwärtig war wie an keinem anderen Ort, den er kannte.
Die dreizehn Nachtwächter standen im Halbkreis um das Haus von Winfried Raschke, bekleidet mit schwarzen Mänteln, Leinenhemden, schwarzen Hosen und Hüten und leuchtend roten Strümpfen. Die Lichter ihrer Laternen erhellten die Straße. Als der Hörnerton verklungen war, trat Finns Vater Norbert vor. Es gab keinen Anführer unter den Zunftbrüdern, doch hätte es ihn gegeben, dann wäre er es gewesen. Wenn er sprach, lauschten alle. Wo er stand, gruppierten sich die anderen im Kreis um ihn.
Norbert gratulierte Winfried zum sechzigsten Geburtstag. In einer kurzen Rede sagte er den Zunftbrüdern, wie viel es ihm bedeutete, wenn sie zusammen waren und die Traditionen aufrechterhielten.
»Noch vor einigen Jahren kamen die Leute auf die Straße, um die Nachtwächter zu hören. Heute lassen sie die Rollläden herunter.« Er deutete auf ein Haus, dessen Fenster verrammelt waren, als erwarteten die Bewohner eine Heuschreckenplage.
»Manche sehen nicht ein, wie wichtig es ist, die eigene Geschichte am Leben zu erhalten. Sie ist es, was die Oberstadt einzigartig macht. Unsere Identität, unser Lebenselixier.«
Er erzählte noch einiges mehr, aber Finns Aufmerksamkeit ließ schlagartig nach, als sich die Haustür hinter Winfried öffnete und Kanea herauskam. Fast hätte er sie nicht wiedererkannt und starrte sprachlos auf den modernen Kurzhaarschnitt mit den einrasierten Mustern am Hinterkopf. Was zum Teufel hatte sie gemacht? Das letzte Mal, als er sie gesehen hatte, war sie noch blond gewesen. Ihre neue Frisur gefiel ihm nicht, nein, ganz und gar nicht.
Trotzdem klopfte sein Herz unvernünftig schnell, als sie mit einem Tablett vorbeikam.
»Magst du eine Cola trinken? Oder Bier? Das gibt's da hinten bei meinem Vater.«
»Eine Cola ist gut, danke.« Für einen kurzen Moment berührten sich ihre Fingerspitzen. Eine peinliche Pause entstand. Dann hob Winfried Raschke seine Bierflasche. »Auf euch, Zunftbrüder!«
Finn sah seinen Vater in einer fröhlichen Runde stehen und gesellte sich dazu. Norbert gab eine Anekdote zum Besten: »Damals suchten die Nachtwächter die Wohnungen von Frischverheirateten heim. Jede Stunde versammelten sie sich vor den Häusern, wenn möglich unter dem Schlafzimmerfenster. Dann tuteten sie, damit die neuen Eheleute in ihrer Hochzeitsnacht nicht einschliefen. Schließlich sollten in Obermarsberg Kinder geboren werden. Ich finde, wir sollten diese Tradition wiederaufleben lassen.«
Die anderen lachten, und Finn stimmte mit ein, obwohl er wusste, dass das Thema einen ernsten Hintergrund hatte. Norbert machte sich Sorgen, da viele junge Leute die Oberstadt verließen und wie überall in Deutschland zu wenig Kinder geboren wurden. Vor ein paar Jahren hatte die Grundschule deswegen schließen müssen.
Die Nachtwächter tranken aus und traten den Heimweg an. Nur Finn blieb zurück und half Kanea und ihrem Vater, die Gläser und Flaschen einzusammeln. Die ganze Zeit hoffte er, Winfried würde endlich ins Haus gehen. Aber als es so weit war, wusste er nicht, worüber er reden sollte.
»Du hast noch gar nichts zu meiner neuen Frisur gesagt.« Sie lächelte und drehte den Kopf. »Gefällt es dir?«
»Ist mal was anderes.«
Was sollte er sonst auch sagen? Es war passiert und nicht mehr zu ändern. Jetzt musste man zweimal hinsehen, um die Kanea zu erkennen, mit der er aufgewachsen war. Ein wildes Mädchen mit blonden Zöpfen wie kleine Rattenschwänze. Die Knie ständig aufgeschürft. Im Sommer hatte sie für sich und Finn Eis aus der gut gefüllten Kühltruhe ihrer Eltern geklaut. Eine gute Zeit, an die er sich gern erinnerte.
»Du kommst nicht mehr so oft ins Sauerland.«
»Das Studium«, seufzte Kanea.
»Ja, das verstehe ich«, sagte Finn, obwohl er nicht verstand, warum sie ihr Studium in Kassel davon abhielt, an den Wochenenden nach Hause zu kommen.
Er nahm seine Hellebarde und die Laterne, die er an der Hauswand abgestellt hatte. »Sehen wir uns morgen?«
»Bestimmt. Jessica und ich haben einen Stand auf dem Markt, und bisher steht noch nicht mal die Hütte. Vielleicht kannst du uns beim Aufbauen helfen?«
»Das mache ich«, versprach Finn und ging zurück zum Zunftraum, um sein Kostüm abzulegen. Die anderen Nachtwächter waren bereits nach Hause gegangen. Finn zog den Schlüssel ab, der im Schloss steckte, und machte sich auf den Heimweg.
Holzhütten und Zeltgerüste säumten die Eresburgstraße zu beiden Seiten und ließen bereits erahnen, wie die Oberstadt am Samstag, dem großen Markttag, aussehen würde, wenn alles fertig war. Noch fehlten Dekoration und Beleuchtung, und die Straße war menschenleer. Die Helfer, die jeden Tag bis spät in die Nacht arbeiteten, hatten sich vor einigen Stunden am Dorfbrunnen versammelt, um ein Feierabendbier zu trinken und die gemeinsame Vorfreude zu genießen. Der historische Markt, der alle drei Jahre in Obermarsberg stattfand, war der Höhepunkt aller Veranstaltungen in der Umgebung. Im Gegensatz zu anderen Mittelaltermärkten wurde dieser durch die Dorfgemeinschaft gestemmt, die sich selbst stolz die Oberstädter nannten. Hier in Obermarsberg, das auf der Spitze des Eresbergs thronte, verschmolz die Geschichte mit der Gegenwart. Und an keinem Tag im Jahr war das so spürbar wie zur Marktzeit.
Finn ging am Skelett eines großen Festzeltes vorüber, das nicht mehr zu Ende aufgebaut worden war. Daneben standen Bänke, Bierkästen und Bretter. Sie hatten heute schon viel geschafft, aber morgen würde ein weiterer arbeitsreicher Tag werden. Die Brandhütte musste noch errichtet werden, und für das große Ritterzelt brauchten sie ein Dutzend Helfer. Und dann Kaneas und Jessicas Hütte.
Finn war so in Gedanken versunken, dass er das Geräusch erst wahrnahm, als er es zum zweiten Mal hörte. Ein dumpfes Stöhnen und Knarren. Es kam von rechts aus einer Seitenstraße vom ehemaligen Rathaus. Wo der Schandpfahl stand.
Wie alle Obermarsberger war Finn an den Anblick des historischen Prangers gewöhnt, so dass er ihn kaum mehr als etwas Besonderes wahrnahm. Ein Eisenkäfig umschloss eine kreisförmige Plattform, die auf einer dicken Steinsäule ruhte. Im Mittelalter waren hier Verbrecher zur Schau gestellt worden. Der Pranger war eins der Wahrzeichen der Oberstadt, tausendmal fotografiert. Ein Highlight der Stadtführungen, zu dem es unzählige Geschichten gab.
Jetzt stand jemand oben auf der Plattform. Eine dunkle Gestalt.
Sie bewegte sich nicht. Aber Finn hörte wieder dieses dumpfe Geräusch, das ihm sagte, dass dies keine Einbildung war.
Die Wicke und ihr irres Gebrabbel kamen ihm in den Sinn. Er hatte die alte Frau heute Morgen im Dorf getroffen, als er beim Aufbauen des Marktes geholfen hatte. Sie hatte sich auf ihre Gehhilfe gestützt und war bei ihm stehen geblieben.
»Dieb, Dieb, Dieb«, hatte sie vor sich hin gemurmelt wie ein Mantra und ihn mit trüben Augen angestarrt.
Finn, der wusste, wie verwirrt Hannah Wicke war, ignorierte sie für gewöhnlich. Aber jetzt kamen ihm ihre Worte wieder in den Sinn: »Der Deibel wird dich holen, Theile. Der Deibel steht beim Kaak.«
Sie hatte Kaak gesagt und nicht Pranger, aber es bedeutete dasselbe. Ein altes Wort für den Schandpfahl.
Der Teufel steht am Pranger?
Finn hob den Blick. »Wer ist da?« Seine eigene Stimme klang fremd in seinen Ohren.
Die Gestalt auf dem Pranger antwortete nicht, aber Finn hatte das Gefühl, dass sie sich kaum merklich bewegte. Er fragte sich, ob das hier ein Scherz sein könnte. Ein Streich, den ihm seine Zunftbrüder spielen wollten. Doch ihm war nicht nach Lachen zumute. Dafür war die Situation zu eigenartig, und hinzu kam die Warnung der verrückten Alten.
Vielleicht sollte er einfach weitergehen. Doch was, wenn er dem Teufel den Rücken zukehrte? Würde er dann vom Pranger herunterkommen?
Finn wischte die Vorstellung ärgerlich beiseite. Das war Fantasterei und hatte nichts mit der Wirklichkeit zu tun. Wer oder was auch immer dort oben stand, war ganz sicher irdischen Ursprungs. Vielleicht eine der Puppen aus dem Heimatmuseum. Oder doch ein Mensch?
Finn griff kurz entschlossen nach den unteren Streben des Eisenkäfigs und kletterte an der Säule empor. Es gelang ihm, sich hochzuziehen, indem er den Fuß zwischen den Streben einhakte.
Die Gestalt bewegte sich nicht von der Stelle, als Finn sich über den Rand auf die Plattform hievte. Er näherte sich, berührte die dunklen Umrisse. Es war ein Mensch, und er war an den Handgelenken mit etwas Dünnem an den Eisenring gefesselt. Vielleicht Kabelbinder. Ein Sack bedeckte den Kopf. Es roch durchdringend nach Urin und etwas Süßlichem. Der Gefesselte stöhnte und atmete schnaufend durch die Nase.
»Halt still! Dann mache ich dich los.«
Finn griff den Sack und zog ihn herunter. Ein kalkweißes Gesicht kam zum Vorschein. Es war Grufti-Thomas, der Bäckergeselle. Ein Tuch war um seinen Mund gebunden, und er atmete hektisch durch die Nase.
Finn versuchte den Knebel zu lösen, der fest an Thomas' Hinterkopf verknotet war. Dabei stieß er gegen etwas Großes, Weiches, das vor der Brust des Gesellen hing.
Der Knoten...
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