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Mittwoch, 23 November
Pia summte die Melodie des Schneeflöckchenliedes vor sich hin, während sie mit Frau Gockel die Stühle hochstellte. Es war die Klavierversion von Edvard Griegs Morgenstimmung. Pia hatte sich für ihre Klasse dazu eine Tanzchoreographie ausgedacht und eben hatten sie das letzte Mal mit den Kindern für den Weihnachtsmarkt geprobt. Dieses Jahr würden sie in Marsberg auftreten. Obwohl im Sauerland beinahe jedes Dorf einen Weihnachtsmarkt veranstaltet, hatten sie dieses Jahr in Westheim keinen eigenen.
»Die Aufführung wird wunderbar«, bemerkte Frau Gockel, »Sie haben ein Händchen dafür. Ich könnte mir vorstellen, so etwas dauerhaft anzubieten. Eine kleine Theater-AG, klassenübergreifend. Was halten Sie davon?«
Pia spürte ein warmes Kribbeln im Bauch. Ein Lob von der Direktorin, die wegen ihrer Strenge und ihrer silbergrauen Haare auch gerne »Eiserne Lady« genannt wurde, war keine Kleinigkeit.
»Das hört sich gut an«, erwiderte sie. »Ich habe schon einige Ideen.«
»Bestimmt haben Sie das.« Frau Gockel stellte den letzten der Stühle hoch. Ihr schwarzer Bleistiftrock, die klobigen Schuhe und die dunkle Strumpfhose ließen sie wie eine Gouvernante aus dem 19 Jahrhundert erscheinen. Und nicht nur ihrer Kleidung nach kam sie aus einer anderen Zeit. Pia hatte Frau Gockel sich einige Male beklagen hören, dass die Disziplin bei den Kindern, aber auch beim Lehrkörper nachließ.
»Ein schönes Wochenende, Frau Berger. Ich sehe, dass Sie engagiert sind, und ich halte Sie für eine Bereicherung für diese Schule.« Die Direktorin reichte ihr die Hand und hielt sie fest. Der Blick ihrer eisblauen Augen war durchdringend. Pia kämpfte gegen den Impuls an, wegzusehen.
»Sie sollten versuchen, sich den Kollegen mehr zu öffnen.«
Pia spürte einen Kloß in ihrem Hals und wünschte sich, dass die Direktorin ihre Hand losließe. »Ich will versuchen, Ihren Rat zu beherzigen.«
»Sie sollten in den Pausen öfter ins Lehrerzimmer kommen. Natürlich nur, wenn Sie keine Pausenaufsicht haben. Sie sind jetzt seit einem halben Jahr hier und viele Kollegen kennen nicht mehr als Ihren Namen.«
Pia nickte nervös. Sie nutzte die Pausen oft, um auf die Fragen einzelner Schüler einzugehen oder um sich auf die nächste Stunde vorzubereiten. Und wenn sie ehrlich war, hatte sie das Lehrerzimmer gemieden, weil sie Small Talk hasste und auch nicht gut darin war.
Frau Gockel ging, und Pia zog sich eine Mütze über die dünnen, flachsblonden Haare und streifte ihren Wintermantel über. Dann trat sie auf den Pausenhof hinaus.
Heute war der Himmel grau und kein einziger Sonnenstrahl brach durch die dichte Wolkendecke. Reste des Herbstlaubes hingen nass von den Bäumen. Es war bereits winterlich kalt im Sauerland.
Dessen ungeachtet tollten die Schulkinder draußen herum. Einige hatten Laub zu einem Haufen aufgeschichtet und eine andere Gruppe spielte Kettenfangen.
Pia winkte zwei Jungen aus ihrer Klasse zum Abschied zu. Sie liebte die Arbeit hier, vor allem mit den jüngeren Klassen. Kinder nahmen einen so, wie man vor ihnen stand, und das jeden Tag aufs Neue.
»Frau Berger!« rief eine Mädchenstimme hinter ihr.
Pia musste lächeln, als sie Kristin sah, die ihr etwas mit behandschuhten Händen entgegenstreckte. Ihre Nase war ein leuchtend roter Punkt in ihrem Gesicht.
Pia nahm den Stern aus Transparentpapier entgegen. Als sie ihn in die Höhe hielt, funkelte er in verschiedenen Farben, obwohl kein einziger Sonnenstrahl hindurchschien. Grün, Rot und Violett.
»Toll. Habt ihr den Stern im Kunstunterricht gebastelt?«
Das Mädchen nickte eifrig. »Ich schenke ihn dir.«
Pia bedankte sich gerührt. Mit der Bastelei in der Hand verließ sie den Pausenhof der Katholischen Grundschule Westheim und bog in eine Seitenstraße ein, in der sie ihren Polo geparkt hatte.
Die Straße war menschenleer. Pia schritt rasch voran. Ihr Blick schweifte über die Fenster der angrenzenden Häuser und glitt über die parkenden Autos. Leider war der Lehrerparkplatz heute Morgen überfüllt gewesen und sie hatte hierher ausweichen müssen.
Immer, wenn sie das Schulgelände verließ, hatte sie das Gefühl, aus einer Art Schutzzone herauszutreten. Sie dachte an den weißen Lieferwagen, der vor einigen Wochen mehrmals an der Schule vorübergefahren war. Er hatte die Pausenaufsicht derart beunruhigt, dass sie die Polizei informiert hatte. Später kam heraus, dass der Fahrer lediglich auf der Suche nach einer Adresse gewesen war, aber bei Pia hatte diese Begebenheit einen bleibenden Eindruck hinterlassen: Die Schule bedeutete Sicherheit.
Sie beschleunigte ihre Schritte. Dabei lauschte sie dem dumpfen Geräusch, das ihre Schuhe auf dem nassen Bürgersteig machten. Als sie ihren Wagen erreichte, sah sie sich prüfend nach allen Seiten um. Sie ging um den Polo herum, stellte fest, dass nichts unter dem Scheibenwischer klemmte oder in den Türgriffen steckte. Dann erst stieg sie ein und schaltete die Scheinwerfer an, obwohl es helllichter Tag war.
Während der Fahrt dachte sie daran, dass nächste Woche ihr erster Elternsprechtag stattfinden würde, und spürte ein nervöses Ziehen im Bauch. Die meisten Kinder bereiteten ihr keine Probleme, doch es gab drei in ihrer Klasse, die so gut wie nie ihre Hausaufgaben erledigten. Sie zeigten große Defizite beim Lesen. Wie sagte man so etwas den Eltern?
Pia dachte darüber nach, krank zu werden und schüttelte seufzend den Kopf. Den Elternsprechtag würde sie nachholen müssen.
Das schaffst du! Sie fasste das Lenkrad fester. Du wolltest unbedingt Lehrerin werden. Du hast das Studium in Münster geschafft, du wirst auch das schaffen.
Vorbei an kahlen Baumgruppen und dunklen Fichten, deren tropfnasse Äste schwermütig herabhingen, folgte sie der B7 in Richtung Marsberg. November im Sauerland. Der goldene Herbst war vorüber und das gesellschaftliche Leben in den Dörfern, das durch Straßenfeste, Arbeitseinsätze, Wandertage und Ausflüge bestimmt wurde, kam zum Erliegen. Wer die Möglichkeit dazu hatte, blieb im Haus und betrachtete das schmutzige Wetter von der Behaglichkeit der eigenen vier Wände aus. Es ist als würde eine ganze Region Winterschlaf machen.
Je näher sie ihrer Wohnung kam, desto stärker wurde ihre Unruhe. Bald grenzte sie an Angst.
Sie musste daran denken, wie ihr Bruder sie als Kind erschreckt hatte. Es war kurz vor Halloween gewesen. Johannes, damals 13, wollte auf seine erste Übernachtungsparty gehen. Das Motto: Zombies und andere Monster. Jeder sollte in einem Kostüm erscheinen und Johannes hatte sich von seinem Taschengeld eine schaurige Maske gekauft, ein grinsendes Gesicht mit einem zerstörten Kiefer.
Als er sie voller Stolz zu Hause präsentierte, war Pia zwischen Ekel und Faszination hin- und hergerissen.
»Huuuuuu«, machte er, »Ich bin das Monster von Beeeeringhausen.«
Die letzten Tage vor Halloween war Johannes aufgedreht und konnte es bis zur Party kaum erwarten.
In einer Nacht wurde Pia von einem Kratzen wach. Es klang, als würden Fingernägel über Holz schaben. Pia schlug die Augen auf. Ihr Zimmer war in Dunkelheit getaucht.
Das Kratzen war ganz nah. Lange Krallen, dachte Pia. Sie fuhren über Holz, hin und her. Das Geräusch kam von unten. Etwas lag unter ihrem Bett.
Ihr war, als erstarrte die Zeit. Sie konnte sich nicht bewegen, wagte nicht einmal zu atmen. Dann hörte sie ein schleifendes Geräusch und wusste, dass das Monster herauskam.
Mit weit aufgerissenen Augen blickte Pia geradeaus. Sie wollte die Hand zum Schalter ihrer Nachttischlampe ausstrecken. Gleichzeitig fürchtete sie sich davor, was sie sehen würde.
Etwas packte ihr Handgelenk. Im selben Moment ging das Licht an und sie starrte auf die Zombiefratze neben ihrem Bett. Der Anblick brannte sich in ihre Netzhaut ein. Von gellenden Schreien aufgescheucht, kamen ihre Eltern herbeigerannt.
Der Vater war außer sich und Johannes bekam von ihm die erste Ohrfeige seines Lebens. Die Mutter nahm Pia in die Arme, strich ihr über den Kopf und murmelte, es sei nur ihr dummer Bruder.
Es war das erste Mal, dass Pia diese lähmende Angst gespürt hatte. Eine Angst, die jeden rationalen Gedanken ausschaltet.
Ihre Wohnung lag in der Innenstadt von Marsberg über einem kleinen Nähladen. Pia hielt auf einem Parkplatz in der Nähe und stieg aus dem Wagen.
Kalte Luft schlug ihr entgegen. Es hatte wieder zu regnen begonnen. Schwere, mit Schnee vermischte Tropfen klatschten auf die Erde. Der Boden war bereits mit Pfützen bedeckt. Pia zog die Schultern hoch und lief mit gesenktem Kopf über den Parkplatz.
Sie bog in die Hauptstraße ein und eilte an der Volksbank vorbei. Obwohl es Freitagmittag war, wirkte die Innenstadt verlassen. Die Touristenströme, die im Winter ins Sauerland kamen, konzentrierten sich auf die Skigebiete Willingen und Winterberg. Bestimmt warteten die Gastronomen und Liftbetreiber dort schon sehnsüchtig auf den ersten Schnee.
Pia warf einen Blick in das leerstehende Geschäft, wo vor Monaten noch eine Bäckerei gewesen war. Jetzt sah sie nur nackte Fliesen und die verwaiste Theke. Im Schaufenster klebte ein Zettel mit blauen, hoffnungsvollen Buchstaben: »Zu vermieten«.
Ein junges Paar hastete Arm in Arm über die Straße. Pia kam an einer Trinkhalle vorüber, durch dessen dunkelgrüne Fenster man nicht ins Innere blicken konnte. Dann sah sie plötzlich Rainer.
Er stand in einer Seitenstraße...
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