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Auch das habe ich von ihr geerbt, dieses Pflichtgefühl, das sich selbst dann einstellt, wenn die Pflicht unliebsam und die Aufgabe unangenehm ist. Beim Militär war ich deshalb bei den Vorgesetzten beliebt und bei den Soldaten verhasst. Ich lief durch die Kaserne in Banja Luka, und es gefiel mir, mich als eine Fackel vorzustellen, als die Flamme einer Gaslaterne in der Abenddämmerung: Die einen zog ich an, die anderen stieß ich ab, die einen wärmte, die anderen versengte ich. Das Problem war, dass ich für meinen Gehorsam keine Gegenleistung erwartete. Einmal sagte ich zu meinem Vater: Wärest du nicht Jude, dann wärest du ein sehr guter Christ. Dasselbe dachte ich manchmal auch von mir, vor allem während des Militärdienstes. Ich trug ein Maschinengewehr und war bereit, wenn nötig auch zwei zu schultern. Aber seit der Bürgerkrieg begann, finde ich es geschmacklos, von dieser Zeit, von dieser, wie Donald sie treffend nennt, »Militärparodie« zu sprechen. Bis dahin fand ich es lustig, dass ich zehn Monate lang ein Maschinengewehr ohne Schlagbolzen, das heißt einen unnützen Haufen Metall, mit mir herumgeschleppt hatte, aber seit Mai 1991, wenn ich mich nicht im Datum irre, finde ich diese Tatsache tragisch und mache mir, selbstverständlich in angemessenem Ausmaß, Vorwürfe wegen der Dinge, die sich später ereigneten. Wäre ich damals geschickter oder hartnäckiger oder zumindest weniger gehorsam gewesen und hätte ich darauf bestanden, dass die Waffe in Ordnung gebracht würde, vielleicht wäre es zu all dem nicht gekommen. In diesem kleinen Fehler hätte ich den Spalt erkennen müssen, der alles gefährden konnte. Schließlich bewahrheitete sich das, denn der Spalt wuchs zu einem Abgrund, in den der gesamte Staat stürzte. Aber Mitte der siebziger Jahre, als ich beim Militär war, sah ich in dieser Fehlleistung eines Systems, das eigentlich tadellos funktionieren sollte, ein paradiesisches Geschenk für einen jungen Mann, der an dieses System nicht glaubte und somit in die Lage kam, ein Soldat ohne echte militärische Merkmale zu sein. Beim Militär träumte ich vielmehr die ganze Zeit, ein Bäcker zu sein, dessen Waffen das Mehl und der breite hölzerne Brotschieber sind. Ich schrieb meinen Eltern davon und bekam von meiner Mutter einen Brief, in dem sie mir in ihrer großen gleichmäßigen Schrift schrieb, dass man beim Militär Soldat, in der Backstube Bäcker, am Strand Schwimmer und im Garten Gärtner zu sein hat. Ich fand nicht heraus, von wem dieser Satz stammte. Vom Vater bestimmt nicht, weil seine Gedanken präziser waren und sich gegen jegliche Wiederholung sträubten. Mutter konnte mit Rhythmen umgehen, mehrere aus Volksmärchen geklaubte Sätze miteinander verflechten, viele Eigenschaftswörter aneinanderreihen, den Satzbau auf den Kopf stellen, Geschichten erzählen. Stundenlang saßen wir um sie herum unter dem Geflecht aus Weinreben, verzaubert und gebannt, bis die Dunkelheit unsere Gesichter vollkommen auslöschte. Nirgendwo habe ich eine so dichte Finsternis erlebt wie damals in Bosnien. Donald war der Meinung, ich übertriebe und suchte in jedem Ding ein Symbol oder eine Deutung für das, was in Jugoslawien geschah. Wir saßen auf der Terrasse des Restaurants, das fast in der Mitte der großen Insel lag. Wir räumten Bierflaschen, Gläser, Untertassen und Tassen mit Kaffee beiseite, stapelten sie auf die Stühle und breiteten auf dem Tisch eine Europakarte aus. Ich hatte vorgehabt, eine Karte des Balkans zu bringen, aber nur eine Europakarte auftreiben können. Ich hatte über zwanzig Minuten warten müssen, bis die ältliche Japanerin, die Inhaberin des kleinen Buchladens im nahen Einkaufszentrum, sie gefunden hatte. Die Frau hockte zwischen Ordnern und Kartons mit Landkarten und wiederholte, sie sei sicher, eine neue Europakarte mit den Grenzen der neuen Staaten zu haben, aber die Splitter der Welt verlören sich leicht in der Menge, vor allem wenn man all die Veränderungen der letzten Jahre bedenke, über die sie, sagte sie noch immer in der Hocke, nicht gut Bescheid wisse. Dafür aber wisse sie nur zu gut, dass sie bei einigen Landkarten an die zweihundert Dollar verloren habe, weil niemand sie mehr kaufen wolle. Keiner will mehr Landkarten kaufen, sagte Donald, weil das Fernsehen den Menschen vollkommen genügt. Die meisten wüssten nicht, wie viele Kontinente es gebe und wo die lägen, weil das Universalwissen paradoxerweise nicht in unsere Zeit passe, in der das Regionale dominiere. Die Menschen hier, sagte Donald, scheuten unnötiges Wissen, der enzyklopädische Geist sei ein Geist der Vergangenheit. Amerikaner oder Kanadier wüssten nur das, was sie brauchten, darin sähen sie den Sinn der Bildung, oder vielmehr Wissen sei für sie etwas, das ihnen im Alltag eine praktische Stütze biete. Unsere Köpfe berührten sich fast über der ausgebreiteten Landkarte. Mich beschlich das unangenehme Gefühl, dass Donald nichts von dem verstanden hatte, was ich ihm zu erklären versuchte. Sein Blick folgte meinem Finger. Manchmal unterbrach er mich, gelegentlich berührte er selbst die Landkarte, aber ich wusste, dass er sich hinter seiner kanadischen Liebenswürdigkeit versteckte und eigentlich nichts verstand. Nie, nicht einmal in England, habe ich so viele höfliche Floskeln und so viele Dankesbekundungen erlebt wie in Kanada. Wenn ich drei oder vielleicht fünf Dinge nennen müsste, die mir, seit ich hier bin, am schwersten gefallen sind und noch immer schwerfallen, dann ist die Gewöhnung an die übertriebene Liebenswürdigkeit eines davon. Nichts macht einem so viel Angst wie die Güte, nichts ruft größeres Misstrauen hervor als das Lächeln. Donald hielt dies für Gedanken eines vereinsamten Menschen, er meinte, die Einsamkeit nehme einem manchmal etwas, statt zu geben, und führe einen auf Irrwege. Meine Mutter warf mir hingegen stets Unsicherheit vor. Sie war überzeugt, die hätte ich von meinem Vater geerbt. Ihr hätte es nie passieren können, sagte sie, dass sie in einen Laden ginge, egal ob in eine Lebensmittelhandlung oder ein Stoffgeschäft, ohne genau zu wissen, was sie kaufen wollte. Sie ging hinein, nahm, bezahlte und ging hinaus, während er neben der ausgelegten Ware stehen blieb, unentschlossen, unsicher, ob man der Qualität des Stoffs oder der Aktualität des Musters den Vorrang geben solle. So saß auch Donald neben meiner Landkarte, unentschlossen und unsicher, erdrückt von der Fülle der Namen und der geschichtlichen Daten, mit denen ich ihn überhäufte. Anders meine Mutter, die gefasst weinte. Ich weiß nicht, ob man das so sagen kann, ob man gefasst weinen kann, aber weder damals bei der Aufnahme noch heute beim Abhören habe ich versucht festzustellen, wie lange es gedauert hat. Ich konnte nicht mit Bestimmtheit sagen, weswegen sie weinte, aber ich war sicher, dass es das erste Mal war, dass sie so vor jemandem weinte. Vermutlich hat mich neben dem Respekt vor dem Schmerz, der aus ihr strömte, genau das daran gehindert, das Tonbandgerät abzuschalten. Mutter weinte und schluchzte immer leiser, und ich starrte auf meine Fingerkuppen und auf das Muster der Tischdecke. Ich wagte nicht einmal, die Hand zu heben und mich oberhalb der Augenbraue zu kratzen. »Wir können weitermachen«, sagte Mutter. Ich sah sie an. Einmal versuchte ich, Donald zu beschreiben, was ich in ihrem Gesicht gesehen hatte, aber das ging daneben. Je länger ich Donald davon erzählte, umso weniger gelang es mir. Was mir bei Donald, als ich nach Kanada kam und ihn kennenlernte, als der Schimmer eines Verstehens vorgekommen war, erwies sich mit der Zeit als seine Unfähigkeit, vom Allgemeinen zum Einzelnen überzugehen, an die Stelle des globalen Verständnisses die Erfassung von Details treten zu lassen. Während wir uns über Kroaten, Serben und Muslime, über Partisanen, Ustaschas und Tschetniks unterhielten, nickte Donald immerzu. Er wusste, was Osten und was Westen war, er wusste auch, welche Großmächte im Zweiten Weltkrieg gegeneinander angetreten waren, aber solche Inselchen wie das ehemalige Jugoslawien, wo die historischen Ebenen sich überlappten und sich dem Hauptstrang der Ereignisse entzogen, verwirrten ihn vollends. Und wenn die Menschen hier, auf dem nordamerikanischen Kontinent, etwas verwirrend finden, verfallen sie augenblicklich in Gleichgültigkeit. Ich blieb jedoch hartnäckig. Wenn ich schreiben könnte, sagte ich zu Donald, würde ich mich hinsetzen und ein Buch verfassen, aber da ich es nicht kann, bin ich gezwungen zu reden. Gut, sagte Donald. Er schaute auf meinen Zeigefinger, der den Balkan herunterfuhr, so wie ein Stock durch den Schlamm gleitet. Wenn du diesen Weg, sagte ich zu ihm, diesen Abstieg, der real und symbolisch zugleich ist, nicht begreifst, und auch den anderen, den inneren Weg nicht verstehst, auf dem der Mensch, während alles um ihn herum zerfiel, sich bemühte, ganz zu bleiben, indem er sich ständig prüfte und von einer Identität zur anderen überwechselte, dann wirst du weder diese Frau, meine Mutter, begreifen können noch alles andere, was diesen Teil der Welt ausmacht. Und wenn sich auch nur ein einziger Teil der Welt unserem Verständnis entzieht, entzieht sich ihm zugleich die ganze Welt. Ich legte meinen Zeigefinger auf einen schwarzen Punkt. Hier in Zagreb, sagte ich, war sie zunächst eine Serbin, später eine Jüdin, aber in jedem Fall eine Fremde, eine zweifach Fremde, wenn man das so sagen kann, und dennoch fühlte sie, dass sie da hingehören konnte. Als nach dem Einmarsch der Deutschen die Ustaschas an die Macht kamen, brachte sie ihrem ersten Mann, der mit anderen Juden die Straßen reinigen musste, in einem Henkelmann das Mittagessen. Während sie wartete, dass er es aufaß, merkte sie, wie sich zwischen sie und die Welt ein undurchsichtiger Vorhang schob. Sie wurde wieder zur Serbin und machte sich zusammen mit ihrem Mann und ihren beiden Söhnen auf den Weg nach Serbien....
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