Schweitzer Fachinformationen
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Raffaele verbarg sein Gesicht in beiden Händen.
Er sah nicht hin, aber er wusste, dass der Stapel links auf seinem Schreibtisch völlig ungeordnet war. Die Papiere stammten aus Schubladen und Schränken, die seit Jahrzehnten verschlossen waren. Vergilbt und verblichen lagen sie da, ein Abbild seiner selbst: verworrene Erinnerungen, ungeschickt nachkolorierte Aufnahmen in Schwarzweiß. Stimmen und Töne der Vergangenheit lebten in ihnen fort: Richard Burton, die Clique um Federico Fellini und dieser elegante Schriftsteller aus Amerika - wie hieß er noch? John Steinbeck? Unter den Fotos ragte eine Ecke des Hausprospekts hervor, gedruckt irgendwann Mitte der 1960er Jahre: Das neu renovierte Albergo glänzte weiß vor dem blauen Meer. Innen im Prospekt, das wusste Raffaele, waren Anna und er zu sehen, Arm in Arm vor dem Eingang.
Die Mappe rechts auf dem Schreibtisch war wie Laura.
Die Dokumente steckten akkurat in den Klarsichtfolien. Keine Ecke ragte heraus, kein Knick irritierte den Betrachter. Perfektion und Ehrgeiz, Intelligenz und Strategie - das war Laura. Anna hätte gelacht beim Anblick dieser Mappe. Sie hätte Laura gedrückt, geküsst und ein wenig verspottet: Laura, hast du auch wirklich jedes Stäubchen von den Klarsichthüllen weggeblasen?
Seine Tochter war wohl das, was man clever nannte, dachte Raffaele. Sie war hübsch, sah adrett aus mit ihren kurzen braunen Locken. Gepflegt. Aber sie war lange nicht so schön wie ihre Mutter Anna. Die Madonnina von San Meravillo hatten die Männer aus dem Dorf Anna immer genannt, mit ihren langen dunklen Haaren und dem schmalen Gesicht. Sie war nie so perfekt gekleidet gewesen wie Laura. Sie hatte nie Hosen oder Röcke getragen, sondern einfache Sommerkleider. Aus ihren hochgesteckten Haaren hatten sich die Strähnen gelöst. Sie war immer in Bewegung gewesen. Draußen bei ihren Blumen. Oder drinnen, in der Küche. Sie hatte gekocht wie eine Göttin. Ihre spaghetti al limone, ihre Fischsuppe, ihr selbstgemachtes Brot . Erst jetzt wieder war ein amerikanischer Koch angereist mit der Bitte, Annas altes Rezeptbuch einzusehen. Raffaele wusste nicht einmal, wo es eigentlich war.
Laura dagegen hatte schon als kleines Kind erklärt, dass ihr die Küche zu chaotisch sei. Wenn sie, was sie gerne tat, mit den Kindern vom Ort «Hotel» spielte, war sie immer die Direktorin gewesen, hatte Zimmermädchen herumgescheucht und unwissenden Jungs erklärt, wie man richtig serviert. Schließlich hatte sie sich vom Albergo verabschiedet, für viele Jahre. Sie hatte an der Hotelfachschule in Mailand studiert, war um die Welt gereist, hatte in den ersten Häusern gelernt. Im Waldorf Astoria in New York, im Mandarin Oriental in Bangkok.
Sie war nur selten zu Besuch gewesen, etwas länger nur, als Anna vor zwei Jahren starb. Viel zu früh, mit knapp über siebzig, war Anna von ihm gegangen. Er selbst war schon über achtzig, ein alter Trottel, und er lebte immer noch.
Vor einem Monat dann war Laura plötzlich zurückgekehrt.
Raffaele sah die Szene genau vor sich:
Laura, im eleganten Kostüm, auf der Terrasse.
Laura, die ein Glas Greco di Tufo trank. («Der Hauswein ist zu wässrig, Papà!»)
Laura, die sofort bemerkte, dass Unkraut zwischen den Fugen der Fliesen hervorlugte.
Sie sprach nicht von sich, nicht von ihrer Mutter, nicht von ihm. Sie sprach vom Albergo - ausschließlich und mit großer Leidenschaft.
«Dieses Hotel ist eine Legende, Papà. Alle waren hier in den sechziger Jahren - alle! Der Jetset, Hollywood, Playboys. Aber auch Schriftsteller, Maler, Musiker. Einfach alle.»
«Ich weiß.» Raffaele drehte das Weinglas zwischen den Fingern. Er mochte diesen Wein, bezog ihn seit Jahrzehnten von einem Winzer aus Santa Paolina. Mag sein, dass er einem Kenner zu wässrig schien - gemessen an den Weinen des Waldorf Astoria. Aber er gehörte hierher.
«Du darfst nicht vergessen, dass ich - so merkwürdig es dir und mir heute erscheint - das alles noch selbst miterlebt habe. Aber die Prominenz kam nicht wegen unseres Albergo an die Küste, sondern wegen Positano. Das Albergo war .»
«. ein Geheimtipp, aber ein Geheimtipp, von dem jeder wusste.» Laura stellte energisch ihr Glas ab. «Wer genug hatte von den Partys und Paparazzi, der kam zu uns. Das Albergo war ein Refugium. Nur wenige Kilometer von der Küste entfernt, in den Felsen versteckt. Ein zauberhafter Ort.»
«Um ehrlich zu sein: Vor allem kamen Paare zu uns. Paare, die meistens nicht verheiratet waren. Und die in Positano nicht gesehen werden wollten. Das Albergo war ein romantischer Ort, ein Ort der Liebe. Aber, Laura, es war auch ein unmoralischer Ort. Ein Ort für Menschen, die etwas zu verbergen hatten.»
«Doch es gab einen Menschen, der alle diese Geheimnisse kannte», sagte Laura. «Und das warst du.»
«Mag sein, dass es so war.»
«Ich weiß sehr gut, dass ein Hotelier niemals über die Geheimnisse seiner Gäste spricht. Aber diese Geheimnisse, Papà, sind viele Jahrzehnte alt. Die meisten deiner Gäste aus den sechziger Jahren sind tot. Natürlich, in gewisser Hinsicht sind sie unsterblich - man sieht ihre Filme, liest ihre Bücher, kennt ihre Namen. Aber sie sind Vergangenheit.»
«Worauf willst du hinaus, Laura?»
«Ich möchte, dass unser Hotel weiterbesteht.»
«Das möchte ich auch.»
«Dieses Hotel, Papà, hat kein Hallenbad und keinen Wellnessbereich. Es gibt keine Gourmetküche und keine Luxussuiten. Das alles passt auch nicht hierher.»
«Schon räumlich nicht», sagte Raffaele. «Mehr als einige Zimmer bekommt man einfach nicht unter auf diesem Felsvorsprung.»
«Aber unser Albergo ist ein Mythos. Ein Mythos, den wir wiederbeleben müssen. Dieses Hotel braucht einen neuen Anstrich - und zwar nicht nur an der Außenwand. Wir müssen es unverwechselbar machen, einzigartig. Und dazu knüpfen wir an die Golden Fifties und die Golden Sixties an! Wer heute reich ist, Papà, wer sich heute teure Hotels leisten kann - der war damals jung! Wir bieten eine Zeitreise zurück in die eigene Jugend an. An den Ort, den die Stars von damals besucht haben. Unsere Botschaft lautet: Verstecken Sie sich dort vor dem Trubel der Welt, wo sich auch Liz Taylor versteckt hat! Wir richten die Zimmer im Stil der Zeit ein. Wir mixen die Cocktails von damals. Vielleicht legen wir sogar Magazine aus jener Zeit aus. Ich habe unendlich viele Ideen, Papà. Aber für diese Zeitreise brauchen wir einen Reiseleiter. Und der bist du!»
«Ich kann dir gerne sagen, wie das Hotel damals eingerichtet war.»
«Das meine ich nicht. Es geht mir nicht um die Möbel, sondern um die Geheimnisse. Um die romantischen Mythen des Albergo Azzurro. Du wirst sie aufschreiben. Wir werden Reisejournalisten einladen - und du wirst ihnen erzählen, wie es damals war. Die Klatschpresse wird berichten. Aber nicht nur die Klatschpresse, sondern auch die Feuilletons: Diese Jahrzehnte gehören heute zur Kulturgeschichte. Fernsehserien spielen in dieser Zeit. Nostalgiker werden kommen. Filmfans. Träumer und Verrückte mit viel Geld.»
«Dieses Hotel ist ein Mythos - genau wie du sagst. Es hat Geheimnisse. Romantische Geheimnisse und traurige. Einige düstere Geheimnisse sind auch dabei. Ist es wirklich richtig, sie ans Licht zu zerren?»
«Es ist Jahrzehnte her, Papà! Und die düsteren Geheimnisse kannst du ja weglassen.»
«Manchmal hängt alles zusammen, weißt du.» Er schaute ins Leere.
Laura lachte. «Und weißt du, warum dieses Hotel ein Liebesnest war? Weil du selbst ein Romantiker bist, Papà.»
Laura hatte nicht weiter insistiert. Aber in den Wochen nach diesem Gespräch hatte sie das Hotel vermessen und fotografiert, hatte Pläne gezeichnet und Präsentationen entworfen. Das Albergo würde nur weiterleben durch Laura. Und Laura war auf ihn angewiesen, auf seine Erinnerungen und auf seine Bereitschaft, sie zu teilen. Also hatte er in den Schränken und Schubladen gekramt. Er hatte die Fotos und Prospekte herausgesucht. Er hatte sich Notizen gemacht. Er hatte sogar einige Kapitel geschrieben. Aber sein anfängliches Unwohlsein hatte sich verstärkt und immer mehr in eine Furcht verwandelt, die ihn nachts nicht schlafen ließ. Seine Hände hatten begonnen zu zittern. Er war unkonzentriert geworden, ängstlich.
Auf der Piazza, abends beim Bocciaspiel, hatte er einige Andeutungen zu Lauras Plänen gemacht. Zu seiner Überraschung gab es niemanden, der daran zweifelte, dass seine Tochter Erfolg haben würde. Viele hatten ihn ermuntert. Aber einige hatten auch gefragt, ob es richtig sei, in der Vergangenheit zu wühlen.
Und sie haben recht, dachte Raffaele mit einem Anflug von Panik. Es ist falsch, die Träume von gestern noch einmal zu träumen. Im Hier und Heute sollte man leben. Die Vergangenheit wirft Schatten, in denen es sehr kalt sein kann.
Rechts auf dem Schreibtisch lag Lauras Konzept.
Links lagen vergilbte Fotos und Notizen.
Zukunft und Vergangenheit.
Meravilla war ein beschauliches Nest, eine Idylle, weitab von den Orten, an denen die Mächtigen, Reichen und Schönen residierten. Aber manchmal waren die Mächtigen und Reichen und Schönen nach Meravilla gekommen. Sie hatten hier gewohnt und alles mitgebracht, was sie zu Hause umtrieb: ihre Begierden, ihre Sehnsüchte - und ihre Ängste. Wenn sie abreisten, hatten sie das alles wieder mitgenommen.
Fast alles.
Spuren davon waren zurückgeblieben, an den Möbeln, auf den Fluren des Hotels, unten am Wasser. Doch sie waren nur zu sehen, wenn man dabei gewesen war....
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