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Die religiöse Konzeption der menschlichen Existenz sieht in einem äußerst vereinfachten Schema so aus: Es gibt Gott, und es gibt den Menschen und darüber hinaus nichts, zumindest ist alles andere unwesentlich. Gott und der Mensch sind miteinander durch den Glauben des Menschen an Gott und die Liebe Gottes zum Menschen (an der allerdings ab und an gezweifelt wird) verbunden.
Mit der Zeit stellte sich allerdings heraus, dass der Bund zwischen Gott und dem Menschen stabiler und beständiger ist, wenn es einen Vermittler gibt – eine Institution Gottes. In unserem Fall war dies die Kirche. Sie festigt den Glauben des Menschen und erklärt die grundsätzlich unerklärbare Transzendenz Gottes. Das ist alles. In diesem Schema erschöpft sich die religiöse Zivilisation. Für eine solche Existenzform bedarf es keines Franzysk Skaryna, keines Lew Sapega und keines Simeon Polazki. Selbst ein Lasar Bogscha wird nicht benötigt, denn in der Beziehung zwischen Gott und dem Menschen sind zwei zu einem Kreuz verbundene Holzstücke genau soviel wert wie das Kreuz der heiligen Euphrosyne von Polazk. Wahrscheinlich sind die Holzstücke mehr wert.
Der ideale Gläubige verbindet sich weder mit der Vergangenheit noch mit der Zukunft. Er steht außerhalb der Menschheit, außerhalb der Geschichte, außerhalb des innerweltlichen Seins.
Er lebt im Jetzt und in der Ewigkeit. Das Leben auf Erden gilt ihm lediglich als ärgerlicher Irrtum, den es in einer anderen Welt rasch zu vergessen gilt. Die Verbreitung des Christentums zielte darauf, dass die menschliche Zivilisation sich von der Rationalität lossagt und sich ganz der Intuition und dem Irrationalen verschreibt: »Wir indes bedürfen seit Jesus Christus des Forschens nicht mehr, auch nicht des Untersuchens, seitdem das Evangelium verkündet worden«, schrieb Tertullian in den Prozessreden gegen die Häretiker.
Auf dem Boden der Rationalität der Antike wurde das irrationale Kreuz des Christentums errichtet. Mehr als tausend Jahre lebten die Völker Europas nach dem kanonischen Recht, das auf dem Ersten Konzil von Nicäa im Jahr 325 etabliert worden war. Es ist keine Übertreibung zu sagen, dass in dieser Zeit die Kirche Form und Maß der Welt war.
Die erste große Niederlage erlitt die Religion in der Renaissance. Das Irrationale begann wieder hinter das Rationale zurückzutreten. In Osteuropa war die Kodifizierung des Rechts im Litauischen Statut aus dem Jahr 1529 das Zeichen für das Ende des irrationalen Absolutismus. Das Statut bietet eine weltliche Alternative zum göttlichen Gesetz. Beide konnten noch lange Zeit im Einklang miteinander, doch bereits klar voneinander getrennt koexistieren. Doch irgendwann trug das Irdische den Sieg über das Himmlische davon, da sich eine innerweltliche Alternative zur Religion entwickelte: die Idee der Nation.
Das Phänomen der Nation wurde bis heute lediglich beschrieben, jedoch nicht erklärt. Woher kommt das Bedürfnis der Menschen, einer bestimmten Gemeinschaft anzugehören, Verantwortung für deren historisches Schicksal zu übernehmen und sogar das eigene Leben für sie zu opfern? Warum reicht es dem Menschen nicht, ein Mensch zu sein, wozu muss er Weißrusse sein? Warum genügt er sich nicht selbst, warum genügen ihm nicht seine Familie, seine Freunde, seine Nachbarn? Warum schließlich genügt es ihm nicht, Teil der Menschheit zu sein? Dies ist um so verwunderlicher, als die Nation nicht wie der Staat Sicherheit zu garantieren verspricht und nicht wie die Religion Hoffnung auf ewiges Leben bietet. In praktischer Hinsicht hat der Mensch nichts von der Nation.
Eine weitere unklare Seite des Phänomens der Nation ist ihre prägende Rolle bei der Schaffung der neuzeitlichen Staaten in Europa und später auch auf allen anderen Kontinenten. Seit Beginn der Neuzeit wurden immer mehr Staaten auf eine Größe zugeschnitten, die den nationalen Grenzen entspricht. Der beste Beweis dafür ist der Zerfall der großen und kleinen Imperien. Der Staat wollte sich gewiss nicht in das Korsett der Nation zwängen lassen. Er hatte jedoch keine Wahl. Der einst so selbstgenügsame und stolze Staat fand sich überraschend in einer neuen Rolle wieder: nur noch Wächter des nationalen Gartens zu sein und als Gärtner hin und wieder etwas dazuzuverdienen.
Wie der Staat, so drängte sich auch die Religion nicht in die Rolle eines Dieners der Nation. Doch in der Krise der religiösen Weltordnung hat sie sich, um zu überleben, seit der Reformation zunächst an die Bedürfnisse des Staates und dann an jene der Nation anpassen müssen. Der Calvinismus, der Protestantismus und die unierten Kirchen sind nichts anderes als lokale Varianten, die sich aus dem universalen Raum des Religiösen herausgebildet haben und immer mehr mit dem jeweiligen Wesen der Nation verschmolzen sind. Die Tendenz zur Nationalisierung der Religion lässt sich deutlich an den Bibelübersetzungen ablesen: auf die erste gedruckte Bibel in der Übersetzung Luthers folgte bald Skarynas Bibel, die in einer altweißrussischen Redaktion der kirchenslawischen Vorlage verfasst ist.
Die »Nationalisierung« der Religion zog sich über Jahrhunderte hin und zeitigte natürlich von Land zu Land unterschiedliche Ergebnisse. Schauen wir nur auf unsere Nachbarn: »Die russische Geschichte hat etwas Einzigartiges hervorgebracht: eine vollständige Nationalisierung der Kirche Christi, die sich als ökumenisch versteht. Kirchlicher Nationalismus ist eine typisch russische Erscheinung. Von ihm ist unser Altgläubigentum zutiefst durchdrungen. Doch der gleiche Nationalismus herrscht auch in der Amtskirche«, schreibt Berdjajew.
Man muss sich nicht mit der Behauptung aufhalten, der Nationalismus der Kirche sei exklusiv russisch. Es gehört zum russischen Selbstverständnis, alles, was in Russland passiert, für eine russische Besonderheit zu halten. Entscheidend ist, dass Berdjajew die These von der Nationalisierung der Religion bestätigt. Wobei es nicht schadet, daran zu erinnern, dass die Kirche in Byzanz anders als im Heiligen Römischen Reich von Beginn an dem Staat untergeordnet war und sich dieses Verhältnis von Kirche und Staat auf den russischen Herrschaftsraum übertragen hat. Deshalb diente die Kirche in Russland nie in erster Linie der Religion. Sie soll zuallererst dem Staat, später auch der Nation und erst dann – wenn überhaupt – dem Glauben dienen.
Anders verlief die Entwicklung in Polen. Die polnische Nation, die für lange Zeit ihres Staats beraubt war, stützte sich auf die Kirche und scharte sich um sie – wie sich einst die Moskowiter während der mongolischen Invasion um die Kirche geschart hatten. Der polnische Fall ist interessant, weil die Nation sogar ohne Staat in der Lage war, die Religion zu einem mächtigen Werkzeug der Nationsbildung zu machen.
Nun einige Worte zu Weißrussland. Die Weißrussen sind ohne unmittelbare Beteiligung der Kirche zur Nation geworden. Als auf dem Gebiet des heutigen Weißrussland jenes polyethnische Gebilde, das Großfürstentum Litauen, ab dem 14. Jahrhundert die Kirche dem Staat unterordnete, war die weißrussische Nation noch nicht herangereift. Als sie dies dann war, hatte sie keinen eigenen Staat und keine eigene Kirche mehr.
Die verschiedenen Konfessionen zerrten die Nation in verschiedene Richtungen wie in Krylows Fabel der Schwan, der Krebs und der Hecht das Fuhrwerk. Hätte der weißrussischen Nation nicht eine weltliche, sondern eine religiöse Kultur zugrunde gelegen, so wäre von uns schon lange keine Spur mehr übrig. Heute ist die weißrussische Nationalkultur im Unterschied zu der aller unserer Nachbarn ausschließlich weltlicher Natur. Bei der Nationsbildung konnten die Weißrussen sich nicht auf die Religion stützen, sie waren ganz auf sich gestellt. Das gilt allerdings nur für die Phase der eigentlichen Nationsbildung. Es gab Zeiten, in denen die Orientierung am Irrationalen uns ebenso stark beeinflusste wie andere europäische Gemeinschaften, Zeiten, in denen die Rolle der Religion jener an anderen Orten Europas entsprach und sogar die Kirche fast verstaatlicht worden wäre.
Doch diese Entwicklung, die die meisten Völker Europas durchliefen, wurde bei uns durch die apokalyptischen Kriege abgebrochen, die ab dem 17. Jahrhundert aufeinanderfolgten. Der Ethnos, der den Weißrussen vorausging, wurde fast bis zur Wurzel vernichtet. Das gleiche Schicksal ereilte unseren Staat und unsere Kirche.
Dieser Verlust war nicht mehr zu kompensieren. Die Geschichte anderer Völker zeigt, dass eine vollwertige und eigenständige Nation nur entstehen kann, wenn sie sich durch eine Nationalisierung des Staates und der Kirche oder zumindest von einem der beiden formiert. Andernfalls steht der Nation ein äußerst schwieriger Weg bevor. Die Weißrussen wissen das sehr gut.
Das bedeutet allerdings nicht, dass wir nicht einem fatalen Irrtum unterliegen würden, wenn wir uns bei der Nationsbildung und dem Aufbau eines Nationalstaats auf den Glauben und die Kirche verlassen würden. Seltsamerweise wollen selbst die klügsten Weißrussen nicht sehen, dass es einen entschiedenen Antagonismus zwischen Religion und Nation gibt, dass dieses Duell nur mit dem Tod des einen enden kann. Unsere Romantiker versuchen mit kindlicher Einfalt die aufrichtigste Liebe zu Gott mit der leidenschaftlichsten Liebe zur Nation zu verbinden. Was kann tragischer sein als der Anblick eines Weißrussen, der kniend zu Gott betet, dieser möge die weißrussische Nation retten. Schließlich hat Gott zweitausend Jahre vor dem Entstehen der Nationen – welch erstaunliche Weitsicht auch hier – seine zukünftigen Gläubigen, die die Sünde des Nationalismus auf ihre Seele nehmen wollten, streng ermahnt:...
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