Schweitzer Fachinformationen
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Als Journalist hatte ich oft im Tienschan zu tun. Einmal, im Frühjahr, ich war gerade in der Gebietsstadt Naryn, wurde ich dringend in die Redaktion zurückgerufen. Ich hatte Pech, der Bus fuhr mir vor der Nase weg. Der nächste ging erst in fünf Stunden. Mir blieb nichts anderes übrig, als per Anhalter zu fahren. Ich machte mich auf den Weg zur Chaussee am Rande der Stadt.
Gleich an der Straßenbiegung sah ich vor der Tankstelle einen Lastwagen. Der Fahrer hatte soeben getankt und schraubte den Deckel zu. Meine Freude war groß. An der Windschutzscheibe erblickte ich das Zeichen für die internationalen Routen: SU. Mir war klar, der Wagen kam aus China und fuhr zum Wagenpark für internationale Gütertransporte nach Rybatschje, von wo ich mühelos nach Frunse gelangen konnte.
»Fahren Sie gleich los? Würden Sie so freundlich sein, mich nach Rybatschje mitzunehmen?«, bat ich den Fahrer. Er wandte den Kopf, sah mich mürrisch an und richtete sich auf.
»Nein, Agai, das geht nicht«, sagte er ruhig.
»Ich bitte Sie sehr! Ich muss dringend nach Frunse.« Wieder sah mich der Fahrer mürrisch an.
»Ja, ich verstehe, aber seien Sie mir nicht böse, Agai. Ich nehme niemanden mit.«
Ich wunderte mich. Im Fahrerhaus war noch Platz, was hätte es ihm ausgemacht, mich mitzunehmen?
»Ich bin Journalist und habe es sehr eilig. Ich zahle jeden Preis.«
»Was heißt zahlen? Ich würde Sie auch umsonst mitnehmen, aber heute gehts eben nicht«, fiel er mir ins Wort und trat wütend gegen den Reifen. »Seien Sie mir nicht böse, von uns kommen gleich noch mehr Wagen, fahren Sie mit einem von denen, bei mir gehts wirklich nicht.«
Sicher ist der Platz schon für jemanden reserviert, folgerte ich.
»Na, und hintendrauf?«
»Das geht auch nicht. Verzeihen Sie vielmals, Agai.«
Der Fahrer warf einen Blick auf die Uhr und hatte es plötzlich eilig.
Verständnislos zuckte ich die Achseln und sah fragend den Tankwart an, eine bejahrte Russin, die uns schweigend aus dem Fenster beobachtet hatte. Sie schüttelte den Kopf, was wohl bedeuten sollte: Lassen Sie ihn doch.
Der Fahrer kletterte auf seinen Sitz, klemmte sich eine Zigarette zwischen die Zähne und ließ den Motor an. Er war noch jung, um die Dreißig, war hoch gewachsen und hielt sich leicht gebeugt. Was sich mir einprägte, waren die großen kräftigen Hände am Lenkrad und die Augen mit den müden gesenkten Lidern. Bevor er Gas gab, fuhr er sich mit der Hand übers Gesicht, seufzte schwer und blickte erregt auf die vor ihm liegende Bergstraße.
Der Wagen fuhr los.
Die Russin kam zu mir heraus. Sie wollte mich wohl beruhigen.
»Regen Sie sich nicht auf, Sie werden auch gleich fahren.«
Ich schwieg.
»Tja, der Bursche hat so seine Sorgen. Das ist eine lange Geschichte. Seinerzeit hat er hier bei uns neben dem Umschlagpunkt gewohnt .«
Ich kam nicht mehr dazu, mir die Geschichte anzuhören, denn ein Pobeda nahm mich mit.
Erst am Dolonpass holten wir den Lastwagen ein. In unzulässigem Tempo, unzulässig selbst für einen routinierten Tienschanfahrer, raste der Wagen dahin, jagte mit heulendem Motor durch die Kurven, preschte unter hängenden Felsbrocken Steigungen hinan und schoss aus Senken hervor, in die er eben hinabgetaucht war. Die Enden seiner Plane flatterten im Wind und klatschten gegen die Seitenwände.
Doch unser Pobeda zeigte, was in ihm steckte. Schließlich holten wir den Lastwagen ein. Beim Überholen sah ich hinüber. Was war das für ein Wagehals, wo trieb es ihn hin, dass er dieses mörderische Tempo fuhr? Im Graupelregen, der plötzlich eingesetzt hatte, eine häufige Erscheinung auf Pässen, und der in prallen, schrägen Strähnen niederging, flimmerte hinter der Windschutzscheibe ein bleiches, angespanntes Gesicht mit einer Zigarette zwischen den Zähnen. Die Hände handhabten sicher und flink das Lenkrad. Außer dem Fahrer war niemand auf dem Wagen zu sehen.
Bald nach meiner Rückkehr aus Naryn wurde ich nach Südkirgisien, in das Gebiet Osch, geschickt. In permanenter Zeitnot, die für uns Presseleute nun einmal typisch ist, kam ich erst kurz vor Abfahrt des Zuges auf dem Bahnsteig an. Ich stürzte in ein Abteil und beachtete nicht gleich den Mann, der auf einem der Fensterplätze saß und hinaussah. Auch als der Zug bereits mit voller Geschwindigkeit fuhr, wandte er sich nicht um.
Aus dem Lautsprecher tönte Musik. Es war eine bekannte Melodie, eine kirgisische Weise, die ich immer als das Lied eines einsamen Reiters in der abendlichen Steppe empfinde. Ein weiter Weg, uferlose Steppe, gedankenverloren singt der Reiter halblaut ein Lied. Er singt von allem, was sein Herz bewegt. Und was bewegt einen Menschen nicht alles, wenn er allein ist, umgeben von tiefer Stille, die nur durch Hufgetrappel unterbrochen wird. Leise sang das Komus, wie das Wasser im Aryk, das über glatte, helle Steine plätschert. Das Komus sang von der Sonne, die hinter den Hügeln versinkt, von der lautlos über die Erde eilenden blauen Kühle, dem schiefergrauen Wermut und dem gelben Reihergras am braunen Weg, die sich leise wiegen und ihren Blütenstaub verstreuen. Und die Steppe wird dem Reiter lauschen, wird träumen und mit ihm singen.
Vielleicht war einst auch hier so ein Reiter dahingezogen, während die Abendsonne am fernen Steppenrand verglühte, der Himmel rötlich gelb wurde und der Firn im Schein der letzten Sonnenstrahlen rosig aufschimmerte.
Draußen glitten Gärten, Weinberge und dunkelgrüne, buschige Maisfelder vorüber. Ein zweispänniger Wagen mit frisch gemähter Luzerne näherte sich dem Bahnübergang und blieb an der Schranke stehen. Der Kutscher, ein braun gebrannter Junge in verschossenem Turnhemd und bis über die Knie aufgekrempelten Hosen, erhob sich von seinem Sitz, lächelte und winkte jemand im Zug zu.
Die Melodie verfloss sanft mit dem Rhythmus des dahineilenden Zuges. Statt Hufgetrappel Rädergehämmer. Mein Nachbar saß, den Kopf in die Hand gestützt, am Klapptisch. Mir schien, dass er ebenfalls lautlos das Lied des einsamen Reiters sang. Mochte er nun trauern oder träumen, jedenfalls wirkte er niedergedrückt, als zehre ein unstillbarer Kummer an ihm. Er war so in sich gekehrt, dass er meine Anwesenheit gar nicht bemerkte. Forschend betrachtete ich ihn. Wo war ich diesem Mann schon einmal begegnet? Sogar seine gebräunten Hände mit den kräftigen, langen Fingern kamen mir bekannt vor.
Da fiel es mir ein: Es war der Fahrer, der mich seinerzeit nicht mitnehmen wollte. Damit war meine Neugier befriedigt. Ich holte ein Buch hervor. Lohnte es sich überhaupt, mich in Erinnerung zu bringen? Sicher hatte er mich längst vergessen. Schließlich haben Fahrer unterwegs nicht wenig zufällige Begegnungen.
So fuhren wir noch eine ganze Weile, jeder mit sich selbst beschäftigt. Draußen begann es zu dunkeln. Seufzend zog mein Nachbar Zigaretten hervor und riss ein Streichholz an. Dann hob er den Kopf, sah mich überraschend an und wurde rot. Er hatte mich erkannt.
»Guten Tag, Agai«, sagte er mit schuldbewusstem Lächeln.
Ich gab ihm die Hand.
»Fahren Sie weit?«
»Sehr weit!« Er stieß langsam den Rauch aus und fügte nach einer Pause hinzu: »In den Pamir.«
»Dann haben wir ja denselben Weg. Ich fahre nämlich nach Osch. Urlaub? Oder werden Sie dort arbeiten?«
»So ungefähr. Rauchen Sie?«
Wir qualmten schweigend. Es gab wohl nichts mehr, worüber wir uns hätten unterhalten können. Mein Nachbar war wieder in Gedanken versunken. Er saß mit gesenktem Kopf, hin und her schaukelnd im Takt der Räder. Mir schien, dass er sich in der Zwischenzeit sehr verändert hatte. Er war abgemagert und hohlwangig, drei scharfe Furchen kerbten seine Stirn. Die zusammengeschobenen Brauen ließen sein Gesicht finster wirken. Unvermittelt rang er sich ein Lächeln ab und fragte: »Sicher waren Sie mir damals sehr böse, Agai?«
»Wann denn? Was meinen Sie eigentlich?« Ich wollte nicht, dass unsere Begegnung ihn peinlich berührte. Aber er sah mich so reumütig an, dass ich Farbe bekennen musste.
»Ach ja, damals. Das war doch unbedeutend, ich habs längst vergessen. Unterwegs passiert einem so manches. Und Sie, Sie denken immer noch daran?«
»Zu jeder anderen Zeit hätt ichs vielleicht vergessen, aber an dem Tag .«
»Was war denn damals? Ein Unfall?«
»Wie soll ich Ihnen das erklären, nein, kein Unfall.« Er suchte nach Worten und lachte plötzlich gezwungen auf.
»Heute würd ich Sie hinfahren, wohin Sie wollen, nur bin ich heute selber bloß Fahrgast.«
»Macht nichts. Ein Pferd tritt tausendmal in dieselbe Spur, vielleicht begegnen auch wir uns noch einmal.«
»Sicher, dann ziehe ich Sie selber ins Fahrerhaus.«
»Ich nehme Sie beim Wort«, scherzte ich.
»Abgemacht«, antwortete er, sichtlich erleichtert.
»Und warum haben Sie mich damals nicht mitgenommen?«
»Warum?« Sein Gesicht verdüsterte sich. Er senkte den Blick und begann, in hastigen Zügen zu rauchen. Ich begriff, dass meine Frage ihm peinlich war, und wusste nicht, wie ich meinen Fehler wiedergutmachen sollte. Er drückte die...
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