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Wo wart ihr, Nymphen, als sich überm Haupt
des Lycidas die Flut schloß mitleidslos?
Als ich Daniel Suter kennenlernte, war ich in einem Schockzustand. Ich saß in einem Zug aus Cornwall, wo mir viel zu plötzlich zu viele schreckliche Dinge zugestoßen waren, und war unterwegs nach London, das sich, soweit es mich betraf, vor mir auftat wie das besagte Schwarze Loch im Kosmos. In Cornwall hatte ich meine liebste Freundin verloren. Sie war von einem armen, verrückten Kerl an Stelle einer anderen irrtümlich erschossen worden; er selbst war später durch einen Sturz von einem Viadukt ebenfalls ums Leben gekommen. Und so war keiner mehr da, den man beschuldigen oder trösten konnte. Außerdem hatte ich meine Chance zu lieben verloren; hatte mich mit größtem Widerstreben und unter schlimmsten Qualen aus der Nähe eines Mannes abgesetzt, für den ich auf den Scheiterhaufen gegangen wäre. Unglücklicherweise brauchte er niemanden, der für ihn auf den Scheiterhaufen ging; er brauchte nichts dergleichen. Ich hätte ihm nicht gutgetan, und obwohl ich noch so jung war, begriff ich das - zum Glück für ihn. Er war einfach, ich bin schwierig; mit der Zeit hätte ich ihm sehr geschadet. Wir wollen, wenn's recht ist, nicht einmal seinen Namen nennen.
Ich war neunzehn.
Da fand ich mich also in diesem gottverdammten Zug wieder, der erst in sechs Stunden am Ziel sein würde. Sechs Stunden schleichender, schmerzlicher Leere. Ich war wie eine Schnecke, der man das Haus weggerissen hatte, war wund und blutete vom Nacken bis zur Ferse. Meine ganze Vergangenheit war mir gewaltsam entrissen worden; ich hatte nichts mehr, vor mir lag nur Leere. Auch - achten Sie nicht auf die Redewendungen - hatte ich ein gebrochenes Bein in einem unförmigen Gipsverband und war gezwungen, mich mühsam und nicht gerade schmerzfrei an zwei die Arme verrenkenden Krücken herumzuschleppen. Nur der liebe Gott wußte, wie ich im Zug mit den lebensnotwendigen Dingen zurechtkommen sollte; zum Beispiel durch den schmalen Gang zur Toilette zu gelangen war ein Ding der Unmöglichkeit, das war mir klar.
Wir krochen durch das feuchte, hügelige Cornwall und immer weiter bis nach Devon.
Inzwischen entdeckte ich in The Times (die freundliche Frau, die mich zum Bahnhof gefahren hatte, hatte sie mir gekauft), daß noch einer meiner Freunde gestorben war; ein Mann, den ich seit mehreren Jahren kannte und mit dem ich eine Zeitlang auch ins Bett gegangen war; er war bei einer transatlantischen Segelregatta ertrunken - würde also nie zurückkommen; allerdings hatte ich sowieso nicht mit einem Wiedersehen gerechnet, denn wir hatten uns ziemlich förmlich getrennt. Aber er war ein rücksichtsvoller, aufrichtiger Mensch, und ich hatte ihn gern gehabt. Warum, warum hat ausgerechnet er sterben müssen? fragte ich wütend die leere Luft im leeren Abteil. Wieviel wird einem eigentlich auferlegt? Findet man es irgendwo amüsant zuzusehen, daß wir uns wie zerquetschte Käfer krümmen?
Daß ich allein im Abteil war, schien das einzige Wertvolle, das ich besaß, daher wurde ich noch wütender, als in Exeter jemand zustieg und mein Alleinsein störte. Der Zug (es war ein Vormittag in der Wochenmitte) schien alles andere als überfüllt zu sein. Warum zum Teufel konnte der Mensch sich nicht woanders einen Platz suchen?
Ich hatte getrocknete Tränen auf den Wangen, und ich würde sie nicht abwischen oder sonst etwas tun, um diesem Menschen zuliebe gesellschaftliche Formen zu wahren. Ich zeigte ihm die kalte Schulter, als er sich mit seinem Gepäck auf dem Sitz gegenüber niederließ. Für mich war er einfach nicht vorhanden, und ich schaute entschlossen aus dem schmutzigen Abteilfenster, während wir an den Vororten von Exeter vorüberratterten. Meine Times rutschte zu Boden, und ich übersah es betont, als der unerwünschte Eindringling sie wortlos aufhob und auf den Sitz neben mir legte.
Ich vergrub mich in eine dumpfe, apathische Verzweiflung und begann zu hoffen, daß es mir möglich sein würde, die nächsten fünf Stunden in diesem Zustand durchzustehen, doch Daniel eröffnete nach ungefähr zwanzig Minuten das Gespräch, indem er ruhig feststellte: »Ich habe Sie natürlich sofort erkannt, als ich Sie durchs Fenster sah. Sie haben den Roman Chaos en miniature geschrieben, nicht wahr? Sie sind doch Aulis Jones?«
Dieser Eröffnungszug riß mich kurz aus meiner schmerzlichen Erstarrung, denn das hatte ich am allerwenigsten erwartet. Ja, er hatte recht, ich war Aulis Jones, zumindest war das der Name, unter dem ich mein schockierendes Buch veröffentlicht hatte, das ich mit siebzehn in einem Anflug von Trotz geschrieben hatte, um die Erwachsenen und Lehrer zu verärgern. Aulis ist mein zweiter Vorname, da ich zwischen Athen und den Thermopylen geboren wurde und meine Mutter Hellenistin war. Jones war ihr Mädchenname. Doch die meisten Leute nannten mich damals Tuesday. Aulis, ein Name, den ich nicht mag, wird nur bei ernsthaften Ereignissen hervorgeholt, an Sterbebetten, bei Beerdigungen und auf juristischen Dokumenten.
In diesem Augenblick war es mir gar nicht lieb, an mein Buch erinnert zu werden, durch das ich vor zwei Jahren berühmt-berüchtigt geworden war. Außer einem zweifelhaften Ruhm hatte es mir tausend Pfund eingebracht, die ich längst leichtsinnig auf den Kopf gehauen hatte. Kein Verlag hatte bisher auch nur das leiseste Interesse an meinem zweiten Roman Die letzte Tasse Kaffee auf dieser Welt gezeigt, und bis dato hatte ich noch keine Zeit gefunden, mein drittes Buch zu schreiben. Tatsächlich erwartete ich auch kaum, daß ich je den Wunsch haben würde, es zu tun. Ich war zu dem Schluß gekommen, daß Schreiben nicht mein Ventil war, es war mir nicht sinnlich genug, ich wurde nicht unbarmherzig dazu getrieben, als sei es eine Berufung. Es gibt da einen Protagonisten bei Tschechow - Trigorin, nicht wahr? Meiner Meinung nach Tschechow selbst, oder? -, der ständig von etwas in seinem Innern angetrieben wird, das sagt: Ich muß schreiben, ich muß schreiben. Dieses Gefühl habe ich überhaupt nicht. Ich schreibe, wie ich rollschuhlaufen gelernt habe, um alles einmal auszuprobieren. Aber man will ja nicht ununterbrochen rollschuhlaufen. »Es war ein sehr komisches Buch, hat mir großen Spaß gemacht«, fügte der Fremdling hinzu, der sich in mein Abteil gedrängt hatte.
»Gut«, sagte ich und wäre zu meiner Bestandsaufnahme der Hintergärten von Taunton (eine trostlose Stadt) zurückgekehrt, aber mein Reisegefährte wollte reden. Hatte mich offenbar mit besonderer Sorgfalt ausgesucht, um mich zu seiner Vertrauten zu machen. Als ich ihn mir jetzt genauer ansah, erkannte ich übellaunig ein Gesicht, das mich in Exeter forschend durchs Fenster angestarrt hatte. Er war den Bahnsteig entlanggegangen und hatte auf der Suche nach irgend jemandem in jeden Waggon geschaut. Anscheinend war ich dieser Jemand. Ich wage zu behaupten, daß wir alle unaufhörlich Signale aussenden, die von anderen empfangen werden, die wiederum ihrerseits . Mir war nicht bewußt, daß ich es getan hatte, aber er hatte, selbst in Hochspannung, offenbar meine Schwingungen aufgefangen.
Ich habe einen sehr feinen atavistischen Geruchssinn. Durch die Berufspraxis - alle guten Köchinnen und Köche sind von ihrem Geruchssinn abhängig - war er nur noch feiner geworden, aber dennoch scharf genug. Die Körpergerüche anderer Menschen, für den durchschnittlichen Geruchssinn nicht wahrnehmbar, übermitteln mir laute Botschaften. Ich spüre sofort, ob jemand nervös, verzweifelt oder unglücklich ist; die Menschen sondern dann unterschiedliche Gerüche ab. Ich rieche auch noch nach zehn Minuten, wenn jemand, den ich kenne, durch ein Zimmer gegangen ist. Von mir weiß ich, daß ich unter Streß einen leicht metallischen Geruch habe wie ein Stahlmesser, das man eben aus dem heißen Wasser gezogen hat. Wenn ich krank bin, wird dieser Geruch noch deutlicher, gleichgültig, wie oft ich bade, dusche oder mich mit Kölnischwasser besprühe. Manche Leute senden, wenn sie glücklich sind, so angenehme Gerüche aus wie ein reifes Weizenfeld an einem heißen Tag oder wie frisch gebackenes Brot.
Anthony roch im Bett nach gerösteten Walnüssen; George ziemlich scharf und säurehaltig; als Vergleich fällt mir bestenfalls französischer Senf ein.
Auch der Geruch nahen Todes ist daher unverkennbar.
Ich merkte also sofort, daß der Mann mir gegenüber unter starkem emotionalem Streß stand, großen Ärger und große Angst hatte; er strömte einen leichten, aber deutlichen Geruch nach Mineralien aus, wie zertrümmertes Gestein.
»Werden Sie einen zweiten Roman schreiben?« fragte er.
»Hören Sie«, sagte ich, »ich will Ihnen gern glauben, daß Sie es nicht böse meinen, aber ich fühle mich im Moment scheußlich; eine sehr liebe Freundin von mir ist vorige Woche gestorben, und eben lese ich in dieser Times, daß jemand ertrunken ist, den ich sehr gut kannte. Mir ist wirklich nicht nach Reden zumute, falls sie nichts dagegen haben.«
»Ach wissen Sie«, sagte der hartnäckige Mensch, »Ertrinken ist nicht der schlechteste Tod. Wenn ich die Wahl hätte, würde ich ihn wahrscheinlich wählen.«
»Mein Freund wollte nicht sterben«, fauchte ich ihn wütend an. »Er hat sich diesen Tod nicht ausgesucht.« Dann dachte ich: Was weiß ich denn wirklich darüber? Außerdem ist das eine sehr seltsame Unterhaltung mit einem mir völlig Fremden.
Ich betrachtete ihn noch einmal sehr gründlich. Hinterher sah ich mich gezwungen zuzugeben, daß ich sein Äußeres nicht unsympathisch fand: ein schmales,...
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