KAPITEL 1
Er entdeckte sie im selben Augenblick, in dem sie aus dem Haus trat, auf der Veranda ihres Daddys hin und her tigerte und in den Wald blickte, der ihr Zuhause umgab. Seine Brüder hatten sie als »süß« und »irgendwie hübsch« beschrieben, ihm aber gleichzeitig befohlen, sich von ihr fernzuhalten, weil ihre großen Schwestern das gar nicht gerne gesehen hätten. Aber seine Brüder hatten sich geirrt. Sie war weder süß noch irgendwie hübsch.
Sie war atemberaubend.
Gegen seinen 1971er Plymouth GTX gelehnt, beobachtete Egbert Ray Smith - Eggie für sein Rudel und all jene aus dem United States Marine Corps, die über seine Existenz Bescheid wussten -, wie die Wölfin leise seufzte und die Augen verdrehte. Hin und wieder schüttelte sie auch den Kopf. Eggie wusste genau, warum. Sie tat es wegen all der Streitereien im Haus hinter ihr. All diese verdammten Streitereien. Wenn er gewusst hätte, was ihn zu Hause erwartete, dann wäre er überhaupt nicht zurückgekommen. Eggie hasste es ohnehin, wenn er zu etwas gezwungen wurde, das die Vollmenschen als »Ferien« bezeichneten, während seine Kollegen beim Militär von »Urlaub« sprachen. Er brauchte keine Ferien. Er wollte keine Ferien.
Er hatte das Glück, zu den ganz wenigen Leuten auf der Welt zu gehören, die ihren Job tatsächlich mochten, und sein Job war das Töten. Aber nicht einfach willkürliches Töten. Er war kein mordender Mistkerl. Nein, Eggie tötete für einen guten Zweck, um seine Artgenossen und andere Gattungen und Spezies zu beschützen, die er zwar nicht sonderlich mochte und die auch ihn nicht großartig kümmerten - aber er fand trotzdem, dass sie Schutz verdient hatten, genauso wie jeder andere, der sich in ein vollkommen anderes Wesen verwandeln konnte.
Eggie war gut im Töten. Manche würden wahrscheinlich sogar behaupten, es sei das Einzige, worin Eggie Ray Smith überhaupt gut war. Also, warum zwang man ihn dann, das Einzige sein zu lassen, was er gut konnte, nur »weil Eggie uns allmählich nervös macht«, wie seine Kollegen bei den Marines zugegeben hatten. Eggie verstand auch gar nicht, wie er das - angeblich - angestellt hatte. Er hatte nichts anderes getan als an jedem anderen Tag.
Aber weil seine gesamte Einheit - die Einheit ohne Namen und ohne Nummer, die nur jenen bekannt war, die sich Reißzähne und Krallen wachsen lassen konnten, wann immer sie es wollten - der Ansicht gewesen war, er bräuchte »eine Pause«, machte Eggie nun eben Pause.
Da er also in den kommenden ein, zwei Monaten nichts anderes zu tun hatte - je nachdem, wann seine Vorgesetzten ihn wieder benötigten -, war Eggie nach Hause zurückgekehrt.
Und bis vor drei Minuten war er noch davon überzeugt gewesen, dass es sich dabei um die dämlichste Entscheidung handelte, die er seit Langem getroffen hatte, unter anderem, weil seine Brüder so verzweifelt versuchten, sich ein Weibchen an Land zu ziehen. Für die meisten Wolfswandler bedeutete »ein Weibchen an Land ziehen« natürlich einfach, ihre Auserwählte zu verführen oder sie mit einem noch immer zappelnden Wapiti zu umwerben.
Zu dumm nur, dass die Smith-Männer nicht so waren wie die meisten Wolfswandler.
Keiner von Eggies Brüdern schien die Bedeutung der Worte »umwerben« oder »verführen« zu verstehen. Stattdessen stritten sie sich mit ihren Wölfinnen. Ununterbrochen. Mit Eggies beiden älteren Brüdern, Benjamin Ray und Frankie Ray, und mit seinem jüngsten Bruder, Nicky Ray, war es schon schlimm genug gewesen, vor allem, weil sich eine ihrer Frauen in eine echte Weitspuckerin verwandelte, wenn sie richtig wütend wurde.
Aber nichts übertraf Eggies jüngeren Bruder, Bubby Ray, und seine Dämonenwölfin aus der Hölle, Janie Mae Lewis. Sein Daddy mochte Janie Mae, weil sie genau die Art von Wölfin verkörperte, die er sich für all seine Söhne als Gefährtin wünschte: stark, selbstbewusst - von Natur aus ein Alphaweibchen. Aber gerade weil Daddy Janie Mae so gerne mochte, musste Bubba natürlich besonders schwierig sein. Er musste Spielchen spielen. Und was noch schlimmer war: Janie Mae reagierte darauf mit ihren eigenen Spielchen. Die beiden hatten sich zwar noch nicht einmal offiziell gepaart, hatten aber bereits zwei kleine gemeinsame Jungen. Außerdem war die Wölfin mit Bubbas drittem Kind schwanger, aber sie hatten sich trotzdem noch nirgendwo als Familie niedergelassen. Stattdessen pendelten sie zwischen den Territorien der Rudel in Smithtown, Tennessee, und Smithville, North Carolina, hin und her - und stritten sich dabei scheinbar die ganze Zeit.
Eggie verstand diese ganzen Streitereien nicht. Ehrlich gesagt, stritt er sich nie mit irgendwem. Das musste er nie. Er starrte diejenigen, die sich mit ihm streiten wollten, entweder so lange an, bis sie abzogen, oder er tötete sie einfach. Ein Dazwischen gab es nie, also was hatte diese ganze Zankerei für einen Sinn? Unglücklicherweise schien Bubba nicht dieselbe Philosophie zu verfolgen. Alles, was er mit Janie Mae tat, war streiten. Tatsächlich hatte Eggie kaum einen Fuß in das Haus seiner Eltern in Tennessee gesetzt, als ihn seine Brüder auch schon zurück in seinen Wagen verfrachtet hatten, bevor er sich im nächsten Moment auf dem Weg nach North Carolina befunden hatte. Und das war weiß Gott das Letzte gewesen, was er hatte tun wollen.
Bis zu dem Moment, als er sie sah.
Ja, sie war eindeutig die jüngste der Lewis-Schwestern. Die, von der keiner aus der Familie Lewis je gesprochen hatte, wenn Eggie in der Nähe gewesen war. Obwohl diese Schwester - seiner Meinung nach - viel hübscher war als die anderen vier. Sie hatte langes, glattes braunes Haar, das durch einen Mittelscheitel geteilt war und ihr süßes kleines Gesicht mit diesen großen braunen Augen und ziemlich prallen Lippen umrahmte. Außerdem verfügte sie - er konnte es nicht anders ausdrücken - über die niedlichsten Wangen aller Zeiten. Obwohl er sich nicht ganz sicher war, ob Wangen wirklich niedlich sein konnten. Genau wie beim Rest der Familie Lewis war ihre Nase lang und markant, aber sie selbst war kleiner als ihre Schwestern und kaum größer als einen Meter siebzig. Für ein Lewis-Weibchen war das ziemlich klein. Für ein Smith-Weibchen sogar geradezu winzig.
Eggie spielte mit dem Gedanken, zu ihr hinüber zu gehen und sich vorzustellen, wie Männer es eben taten, wenn sie eine hübsche Frau sahen, die sie gerne kennenlernen wollten. Aber dann fiel ihm wieder ein, wer er war. Er war Eggie Ray Smith, ein ausgebildeter Killer. Was sollte ein Mädchen wie sie mit einem Wolf wie ihm schon anfangen? Würde sie erwarten, dass er mit ihr plauderte? Ihr Blumen schenkte? Eine Herde Wapitis für sie erlegte? Außerdem hasste ihre komplette Familie ihn bereits aus Prinzip. Womit er sein Geld verdiente, galt unter anderen Gestaltwandlern nicht unbedingt als ehrenwert, obwohl es nötig war, damit sie alle in Sicherheit leben konnten.
Nein. Es war am besten, sich nicht mit hineinziehen zu lassen . in gar nichts. Es war am besten, wenn er genau dort blieb, wo er war. Hier. In seinem Auto. Und darauf wartete, dass das Gebrüll endlich ein Ende nahm, damit er sich ein Hotel in der Stadt suchen und ein bisschen schlafen konnte.
Weiter auf diese Frau auf der Veranda zu starren, war daher keine besonders gute Idee, weshalb er beschloss, stattdessen seine Füße zu betrachten. Bis er jemanden atmen hörte.
Und das war nicht er selbst.
Von all den Gelegenheiten, bei denen Darla Mae Lewis' Chef sie für einen »Besuch« hätte nach Hause schicken können - einen Besuch, auf den er aus irgendeinem Grund bestanden hatte -, warum hatte es ausgerechnet diese sein müssen?
Ganz ehrlich, nur ein Chef mit eigenem Rudel konnte auf so etwas bestehen. Ein vollmenschlicher Chef hätte das weiß Gott niemals getan. Wenn es nach Letzteren ginge, dann würden sie ihren niederen Angestellten nie auch nur eine einzige Pause gönnen. Aber Darla arbeitete nicht für einen Vollmenschen. Nein, sie war die Souschefin in der Patisserie eines Van Holtz Steak House in San Francisco, und die Van-Holtz-Wölfe verstanden das Rudelleben. Was auch der Grund dafür war, dass ihr Boss - Küchenchef und Alphamännchen der Van Holtz' in San Francisco - urplötzlich und völlig aus dem Blauen heraus darauf bestanden hatte, dass Darla sich ein wenig »Rudelzeit« gönnte. Etwas, das die meisten Wölfinnen, die aus irgendeinem Grund von ihrer Familie getrennt waren, durchaus genossen. Aber andererseits musste sich von denen auch keine mit diesen verfluchten Streitereien herumärgern!
Als Darla vor zwei Wochen ihren Vater angerufen hatte, waren nur er, Darlas Momma und ihre Brüder zu Hause gewesen. Ihre Schwestern hatten sich noch in Smithtown, Tennessee, aufgehalten und sich mit den unfassbar nervtötenden Smith-Brüdern herumgeschlagen. Also war Darla freudig quer durchs Land getrampt - was sie gerne tat, auch wenn sie ihren Eltern nicht unbedingt davon erzählte. Als sie jedoch ihr Zuhause in North Carolina erreicht hatte, waren ihre verfluchten Schwestern bereits wieder zurück gewesen und hatten mitten in einer ihrer verfluchten Streitereien gesteckt! Allerdings nicht miteinander, was Darla auch schon kaum aushalten konnte, sondern mit diesen verdammten Smith-Wölfen.
Und dabei handelte es sich noch nicht einmal um einen einzigen großen Streit, sondern um mehrere einzelne! Francine Mae, die Älteste, stritt sich mit ihrem Gefährten Benjamin Ray darüber, in welche Lewis'schen...