KAPITEL 1
»Wo kriegst du nur diese Strümpfe her, Doc?«, knurrte Niles Van Holtz, von seinen Freunden und seiner Familie Van genannt. Diese Strümpfe mit dem sexy Streifen hinten hätten aus einem Film aus den vierziger Jahren stammen können. Und bestimmt trug sie auch Strapse. Mann, die Frau trieb ihn total in den Wahnsinn, und sie merkte es nicht einmal.
Kalte, gnadenlose, blassblaue Augen richteten sich auf Van. »Ah ja«, seufzte sie. »Niles Van Holtz. Mein Abend auf einer Wohltätigkeitsveranstaltung wäre nicht komplett ohne deinen beißenden Witz und deine anhaltende Besessenheit von meiner Unterwäsche.«
»Was glaubst du, warum ich mich sonst ausgerechnet ins Naturwissenschaftsgebäude schleppe, wenn nicht, um dich zu sehen?«
Van hatte schon eine Menge niederträchtige Weiber kennengelernt. Da er aus einer wohlhabenden Familie voller mörderisch starker Raubtiere kam, war er eher überrascht, wenn er mal auf eine nette Frau traf. Aber Irene Conridge, die schon im zarten Alter von fünfzehn Jahren ein Rhode-Stipendium erhalten hatte und nun Inhaberin mehrerer Doktortitel war, machte aus ihnen allen Hackfleisch.
Irene Conridge war ein Wunderkind, oder zumindest war sie eines gewesen. Aber mit knackigen fünfundzwanzig hatte sie alle Kindlichkeit längst hinter sich gelassen.
Seit Irene sich zum ersten Mal auf dem Campus der Universität gezeigt hatte, war Van ihrer Witterung gefolgt und hatte sie gnadenlos gejagt. Sie war damals achtzehn gewesen, Van zwanzig. Er hatte gedacht, sie sei einfach irgendeine Erstsemester-Studentin. Oder, wie seine Kumpel es gern nannten, Frischfleisch. Aber er hatte nur zu bald herausgefunden - als sie ihn nämlich eiskalt abserviert und sprachlos mitten auf dem Platz hatte stehen lassen -, dass sie in Wirklichkeit Gastprofessorin war. Und eine große Nummer. Elitehochschulen des ganzen Landes und in Europa hatten sich um sie gerissen. Aber aus irgendeinem unbekannten Grund hatte sie den Job an dieser kleinen, aber elitären Universität an der Grenze von Seattle, Washington, angenommen. Sie hatte Harvard, Yale, MIT, Berkley und Oxford einen Korb gegeben . allen.
Niemand verstand es. Niemand außer Van. Warum mit einem Haufen anderer ehemaliger Wunderkinder an eine große Uni gehen, wenn man an einer kleineren die große Nummer sein konnte? Denn Irene war bei wirklich klein gelandet, und sie bestimmte hier, wo es langging. Man verwehrte ihr nichts, gab ihr, was immer sie brauchte, und legte sich mächtig ins Zeug, um sie glücklich zu machen. Irene ihrerseits sorgte dafür, dass der Name der Universität in akademischen Kreisen lebendig blieb, dass Studenten darum bettelten, an der Uni aufgenommen zu werden, damit sie sich für ihren Kurs einschreiben konnten - bis sie tatsächlich einen ihrer Kurse durchstehen mussten - und das Geld weiter floss. Die Frau war nicht charmant, aber irgendwie zog sie das Geld von einigen der reichsten Familien im Nordwesten an. Unter anderem das seiner Familie.
»Außerdem bin ich wirklich nur von deiner Unterwäsche besessen, Doc.« Er wusste, dass sie es hasste, wenn er sie so nannte. »Sag mir, trägst du Strapse?«
»Ja«, antwortete sie ohne Umschweife. »Ich mag keine Strumpfhosen, ich finde sie so einengend.«
Van konnte nicht anders, er knurrte abermals. Laut genug, dass sie sich umdrehte und ihn direkt ansah. »Hast du mich gerade angeknurrt?«
»Es war eher ein Schnurren.«
»Faszinierend.«
»Bin ich das?«
»Nein. Bist du nicht. Aber die Tatsache, dass ein erwachsener Mann wegen Strapsen knurrt, ist faszinierend. Ich bin sicher, der Fachbereich Psychologie würde dich für ein fesselndes Studienobjekt halten.«
»Wie schmeichelnd.«
Sie runzelte die Stirn, und es war kein ärgerliches oder besorgtes Stirnrunzeln, sondern ein sehr nachdenkliches. »Bin ich das? Man sagt mir sonst, ich sei kalt und ziemlich abweisend.«
Van hatte wirklich alle Mühe, nicht zu lachen. Um ehrlich zu sein, er kannte keine kältere Frau auf dem Planeten. Steinzeitdamen, die seit Jahrmillionen irgendwo im Gletschereis eingefroren waren, hatten mehr Wärme als Irene. Und doch . er konnte sie einfach nicht in Ruhe lassen.
Seine Schwester, die gegenwärtig irgendwo auf der Feier herumschwirrte und allen aus dem Weg ging, die sie nervten, verstand seine Obsession wegen dieses »reizlosen Mädchens«, wie sie Irene nannte, überhaupt nicht. Er hatte schon öfter gehört, dass man Irene als »reizlos« bezeichnete oder, sein persönlicher Favorit, als »nicht abstoßend«. Aber Van wusste nicht, wovon sie redeten. Die Frau war absolut reizvoll. Schwarzes, schulterlanges Haar, das sich völlig unkontrolliert wellte und ihn aus irgendeinem unbekannten Grund ständig an verschwitzten, harten Sex denken ließ. Volle Lippen, die er im Laufe der Jahre in mehr als einem feuchten Traum gesehen hatte, und eine majestätische Nase. Ein hochgewachsener, kurviger Körper, den sie ständig hinter langweiligen, geschniegelten Hosenanzügen in den ödesten Farben versteckte. Aber sie trug immer diese sexy Strümpfe und diese Killer-Heels. Doch es waren die Augen, die ihm den Rest gaben. Er kannte Augen wie ihre von Polarwölfen. Von so hellem Blau, dass sie eigentlich gar nicht mehr blau waren. Er hatte schon etliche Leute diese Augen unberechenbar oder beunruhigend nennen hören, aber er konnte ewig in sie hineinschauen.
»Ich wette, du bist gar nicht wirklich kalt, Doc. Nicht ganz tief drinnen.«
»Tatsächlich bin ich das durchaus. Oh! Und Jackie und ich habe eine Wette laufen.« Sie deutete auf ihre Mitbewohnerin, Jaqueline Jean-Louis, ein ehemaliges Musikwunderkind. Die beiden Frauen kannten sich seit Jahren, und Jean-Louis unterrichtete im angesehenen Musikfachbereich der Universität. Was Van an der ganzen Beziehung faszinierend fand, war die Tatsache, dass Jean-Louis eine Gestaltwandlerin war. Genau genommen ein Schakal. Er fragte sich immer, ob Irene Bescheid wusste. Wenn ja, ließ sie es sich absolut nicht anmerken. Aber es wäre auch nicht ungewöhnlich, wenn sie es nicht wüsste. Viele Gestaltwandler schafften es ihr ganzes Leben lang, vor den Vollmenschen in ihrer Nähe erfolgreich zu verbergen, was sie wirklich waren. Für ihre Art war es wichtig, ihre wahre Natur zu verbergen. Tatsächlich wurden manchmal schwere Entscheidungen getroffen, um ihr Geheimnis zu wahren.
»Ach ja?«, fragte er und nahm ein Glas Champagner von dem Tablett, das gerade vorbeigetragen wurde.
»Ja. Ich bin davon überzeugt, dass du mich für eine Jungfrau hältst und immer gehofft hast, mich schänden zu können.«
So sehr er es auch zu verhindern versuchte, verschluckte er sich an seinem Champagner.
Sie verstand es einfach nicht. Seit fast sieben Jahren war der Mann jetzt hinter ihr her. Bei jedem Wohltätigkeitsevent. Bei jeder Universitätsfeier. Bei jeder Veranstaltung, der beizuwohnen sie sie gegenüber der Universität verpflichtet war, tauchte auch Niles Van Holtz auf. Er zeigte sich gewöhnlich nicht sofort. Er wartete, bis sie sich schließlich mit dem Gedanken angefreundet hatte, dass er beschlossen hatte, nicht zu kommen, und dann - zack - da war er. Meistens schlich er sich von hinten an sie heran und flüsterte ihr irgendeine ziemlich unangemessene Frage ins Ohr. Man konnte beinahe sagen, dass sie gelernt hatte, das zu erwarten.
Irene schaute hoch in Van Holtz' attraktives Gesicht. Er sah wirklich gut aus. Umwerfend, um genau zu sein, wenn man sich an die normalen gesellschaftlichen Standards hielt. Dunkelbraunes Haar mit weißen, schwarzen und grauen Strähnen verdeckte beinahe diese eigenartig gefärbten Augen. So etwas wie goldener Bernstein oder so. Sie war nicht wirklich ein Farbmensch, sie überließ derartige Entscheidungen Jackie. Auch heute hatte ihre Freundin das Kleid, das Irene trug - ein helles, silberfarbenes . Ding - für sie ausgesucht.
Van Holtz hatte außerdem einen ziemlich markanten Kiefer und eine Nase, bei der sie darauf gewettet hätte, dass darin früher einmal eine Nasenscheidewandverkrümmung zu finden gewesen war, so wie sie sich gleich unter seinen Augenbrauen krümmte, und einen eher ungewöhnlich breiten Nacken.
Ja, ein sehr gut aussehender Mann. Und vielleicht eins der arrogantesten Wesen, das ihr je über den Weg gelaufen war. Im Ernst, wenn sie irgendein emotionales Interesse an diesem Mann hätte, wäre sie gezwungen, ihn vom Planeten auszulöschen. Aber Irene hatte nur sehr wenig emotionales Interesse an irgendjemanden. Jackie und Jackies Freund Paul deckten diese Interessen so ziemlich ab. Und das war in Ordnung für sie.
Mehr als in Ordnung.
Van Holtz räusperte sich. »Ähm . und warum glaubst du, es würde eine Rolle für mich spielen, ob du noch Jungfrau bist?«
Irene zuckte die Achseln. »Du hast diese Art an dir. Ich stelle mir vor, dass es dir wahrscheinlich gefällt, wenn die Jungfrau dir sagt: >Au! Du bist zu groß. Bitte, wir müssen aufhören!< Und du sagst«, sie senkte die Stimme um mehrere Oktaven, um sich der von Van Holtz anzupassen. »>Mach dir keine Sorgen. Ich werde zusehen, dass es gut für dich wird, süße kleine Jungfrau.<«
Van Holtz starrte sie mindestens eine geschlagene Minute an und Irene begann sich zu fragen, wohin Jackie verschwunden war. Sie nahm die Frau schließlich mit, damit sie Irene daran hinderte, solche Sachen zu machen. Wie zum Beispiel etwas zu sagen, das in finanzieller Hinsicht gewaltige Konsequenzen nach sich ziehen konnte. Die Familie Van Holtz gab der Universität eine Menge Geld, und mit dem dummen Versuch, ehrlich...