Schweitzer Fachinformationen
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»Ich sah ein Röschen am Wege stehn, es war so blühend und wunderschön, es hauchte Balsam weit um sich her, ich wollt es brechen und stach mich sehr«, sang die Schülerin, wobei sie die höheren Töne recht zaghaft herausbrachte, die tieferen zwar mit mehr Zuversicht, aber nicht so rein.
»Danke, Miss Smith. Bei den hohen Tönen haben Sie große Fortschritte gemacht. Und ich fürchte, damit ist unsere Zeit für heute auch schon zu Ende«, sagte Philadelphia, während sie zu der alten Büfett-Uhr auf dem Kaminsims hinsah und dann einen Blick aus dem im ersten Stock gelegenen Fenster in die Greek Street hinauswarf. »Denn da kommt bereits Ihre Mutter.«
Die Schülerin, die ihre Erleichterung kaum verbergen konnte, daß die qualvolle halbe Stunde zu Ende war, packte schnell ihre Noten zusammen und warf sich ihr Cape über.
»Bis nächsten Donnerstag also, Miss Smith, wie immer. Und vergessen Sie diesmal bitte nicht, fleißig zu üben«, fügte Philadelphia hinzu und brachte ihre schuldbewußte Schülerin damit in Verlegenheit, milderte ihre Mahnung jedoch durch ein Lächeln ab, das ihre ernsten Züge mit einem völlig unerwarteten Strahlen überzog.
»Wenn Sie mir das nächste Mal vorsingen, dann möchte ich mich in eine Loge im Covent Garden versetzt fühlen.«
»Leben Sie wohl, Miss Carteret. Ich verspreche Ihnen, ich werde fleißig üben.« Und mit einem anbetenden Blick verabschiedete sich die Schülerin - sie war übrigens nur drei Jahre jünger als ihre Lehrerin - und frohlockte insgeheim, daß ihr eine noch schlimmere Strafpredigt, wie sie sie erwartet und auch verdient hatte, erspart geblieben war. Aber Miss Carteret schien heute ohnehin nicht ganz bei der Sache zu sein und konnte es offenbar kaum erwarten, die Mutter zu begrüßen und dann beide eiligst zu verabschieden, ohne die sonst übliche ausführliche Erörterung der Talente und Fortschritte der Tochter.
Als beide gegangen waren, schritt Philadelphia schnell zu der Schiebetür, die den Raum, der gleichzeitig als Musikzimmer, Schlafkammer und Salon diente, mit dem Zimmer ihrer Mutter verband.
Mrs. Carteret lag kraftlos, den Rücken gegen einen Berg Kissen gestützt, im Bett. Unter der Haube sah ihr immer noch goldenes, nur leicht ergrautes Haar hervor, das ihr in einem hübschen geflochtenen Kranz um den Kopf lag. Die Haube, und auch die Bettjacke, die sie sich um ihre Schultern gelegt hatte, waren mit Spitze der allereinfachsten Qualität besetzt, aber von strahlendem Weiß. Ähnlich war es mit den Möbeln im Raum bestellt: keine Prunkstücke, doch mit Geschmack angeordnet und von penibelster Sauberkeit. Ein Strauß Primeln stand in einem blauen Krug auf dem Nachttisch, und die Bettvorhänge, obwohl verblaßt, waren aus einem so herrlichen Damast, daß man vermuten mußte, sie haben sich aus einer weit vornehmeren Umgebung hierher verirrt.
»Ich muß jetzt fort, Mama, und den Browty-Mädchen am Russell Square ihre Stunde geben«, sagte Philadelphia, beugte sich über die Mutter und küßte deren weiche, rosige Wangen. »Wirst du eine Stunde ohne mich zurechtkommen? Fehlt es dir auch an nichts?«
»Russell Square? Warum mußt du denn unbedingt dorthin?« erwiderte ihre Mutter mit deutlichem Widerwillen. »In meiner Jugend wohnte niemand, der auf sich hielt, in solch einem Viertel. Irgendein hochgekommener Kaufmann, der höhere Töchter aus seinen Gören machen will, nehme ich an?«
»Die Browtys zahlen sehr gut«, antwortete Philadelphia ruhig, holte ihr Häubchen aus der Schublade und arrangierte es sorgfältig auf ihren weichen nußbraunen Locken. Ein Paar großer und ungewöhnlich schöner, mandelförmiger grauer Augen prüfte das Resultat nüchtern im Spiegel. Der einfache, unter dem Kinn gebundene Hut war weder neu noch nach der Mode, und der strohfarbene Besatz aus Lyoner Seide trug deutliche Spuren von Abnutzung. Aber dennoch brachte er die Farbe ihrer Augen gut zur Geltung und umrahmte ihr schmales ovales Gesicht sehr eindrucksvoll.
»Warum kommen sie denn nicht zu dir?« fragte Mrs. Carteret. »Halten sich wohl für zu gut, einen Fuß in die Straßen von Soho zu setzen?«
Philadelphia war klug genug, einer Diskussion über dieses leidige Thema aus dem Wege zu gehen, und sagte: »Aber Mama, ich bin doch nur eine gute Stunde fort! Ich werde mich beeilen, ich verspreche es dir. Und auf dem Rückweg besorge ich Hammelschulter und Graupen und koche dir eine gute, kräftige Brühe. Und von Mme. Lumière bringe ich dir ein paar kleine Mandelkuchen mit, die du so magst«, fügte sie einschmeichelnd hinzu, aber Mrs. Carteret wollte sich nicht besänftigen lassen und entgegnete in nörgelndem Ton:
»Hammelbrühe! Warum denn unbedingt immer Hammelbrühe! Warum denn kein knuspriges Brathähnchen? Bei Gott, Hammelbrühe - ich kann sie nicht mehr sehen!«
»Weil Dr. Button sagt, daß eine gute Kraftbrühe das beste für dich ist.« Philadelphia versagte sich den Hinweis, daß sie sich ein Brathähnchen ohnehin nicht leisten konnten und ihr eigenes Abendessen wahrscheinlich nur aus einem gekochten Ei bestehen würde. »Und bitte, Mama, steh bitte nicht auf, wenn ich fort bin, und spiel Klavier oder polier den silbernen Sahnekrug. Du bist noch zu geschwächt für solche Dinge. Willst du mir das versprechen?«
Mrs. Carterets hübsches rosiges Gesicht nahm einen Ausdruck gequälter Unzufriedenheit an.
»Warum darf ich denn überhaupt nichts tun? Wenn ich schon im Bett liegen muß, könnte ich mir doch wenigstens eine Handarbeit vornehmen, Delphie! Bring mir doch bitte ein kleines Stück Batist mit, dann kann ich mir eine neue Haube und eine Bettjacke machen; die hier sind so alt und abgetragen, daß ich mich schäme, mich dem Doktor darin zu zeigen. Ich weiß schon nicht mehr, wie lang ich sie trage - eine Ewigkeit!«
»Gut, Mama, ich bring dir ein Stück Batist mit; aber du sollst nicht selbst anfangen zu nähen. Du weißt, Dr. Button sagt, wegen deines Herzens mußt du jede Anstrengung vermeiden. Ich will sehen, ob ich heute abend nach meiner letzten Stunde Zeit finde, dir eine neue Jacke zu nähen.«
»Du willst sie nähen? Ein trauriges Ergebnis würde dabei herauskommen! Von Nadelarbeit verstehst du nun beim besten Willen nichts!«
»Dann bitte ich eben Jenny Baggott, mir zu helfen, einverstanden?«
»Diese vulgäre Person - nun, wenn du unbedingt meinst. Warte, mir fällt gerade ein, vielleicht wäre ein Stück Jakonett hübscher als Batist.«
»Welche Farbe?«
»Von Weiß habe ich jetzt genug. Was hältst du von Perlgrau?«
»Ich glaube, in Perlgrau sähst du reizend aus, Mama.«
»Oder nein - ich glaube, Lavendel wäre noch schöner. Ja, besorg mir eine Bahn lavendelfarbenen Jakonett. Oder meinst du, Lavendel verblaßt zu schnell? Vielleicht sollte ich lieber Rosa .«
Philadelphia verbarg ihre wachsende Ungeduld und ermutigte ihre Mutter, bei Perlgrau, ihrer ersten Wahl, zu bleiben.
»So, und jetzt bitte ich Jenny Baggott, während meiner Abwesenheit heraufzukommen und ein wenig Karten mit dir zu spielen, um dir die Zeit zu vertreiben. Sie ist das gutherzigste Geschöpf auf Gottes Erdboden. Ich bin sicher, sie kann es sich einrichten, wenn es dir recht ist.«
»Ganz gewiß nicht! Sie spricht so entsetzlich laut. Ihre Stimme dröhnt mir im Kopf wie eine Kesselpauke. Ich werde einfach still hier liegen«, sagte Mrs. Carteret mit melancholischer Stimme, »still liegen und mich mit Erinnerungen an bessere Zeiten amüsieren, die nun ein für allemal dahin sind.«
»Hättest du Lust zu lesen?« schlug Philadelphia vor. »Hier hast du Rasselas oder den Spectator oder die Gedichte von Pope.«
»Nein, danke, meine Liebe. Ich habe nicht die Kraft, ein Buch zu halten. Außerdem habe ich so schlimme Kopfschmerzen, daß ich mich auf solche Werke gar nicht konzentrieren kann. Wenn es ein Buch von Mrs. Radcliffe wäre, ja, etwas, das ein wenig unterhaltender ist .«
»Ich will sehen, ob ich die Zeit finde, dir Sir Charles Grandison oder Udolpho aus der Leihbücherei mitzubringen«, bot Philadelphia an. »Dann hast du etwas, worauf du dich freuen kannst. Jetzt muß ich aber laufen, sonst verspäte ich mich. Und bleib hübsch im Bett, Mama, denn es bläst ein kalter Wind, obwohl schon fast Mai ist.«
Bei dieser Mahnung Philadelphias erschien ein aus Trotz und Schläue zusammengesetzter Ausdruck auf dem Gesicht der alten Dame, aber sie antwortete nur:
»Dann leg noch etwas Holz aufs Feuer, Kind.«
»Es ist genug aufgelegt«, sagte Philadelphia, die, während sie ihr Schultertuch umlegte, zu dem bescheidenen Kohlefeuer hinsah.
»Aber bitte lauf nicht zum Russell Square, Philadelphia!« sagte Mrs. Carteret. »Es macht einen schlechten Eindruck, wenn du zu Fuß bei deinen Schülern ankommst. Was sollen die Dienstboten dort von dir denken! Du mußt dir unbedingt eine Sänfte nehmen, denn sonst bist du ganz zerzaust, und man hält dich für ein Küchenmädchen und schickt dich zum Hintereingang!«
»Zerbrich dir darüber nicht den Kopf, Mama. Der Diener der Browtys weiß sehr wohl, wer ich bin, und man hat mich dort immer mit äußerster Zuvorkommenheit behandelt«, antwortete Delphie ruhig und flüchtete aus dem Zimmer, ehe ihre Mutter sich noch weitere Gründe ausdenken konnte, den Abschied zu verzögern.
Die Treppe führte von der Wohnung hinunter durch einen Modewarenladen, der das ganze Erdgeschoß des Hauses einnahm. Hier blieb Delphie stehen, um mit der zuvor erwähnten Miss Jenny Baggott zu...
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