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Bernhard Aichner
Wie ich in Opherdicke mit Edward Hopper ein neues Leben begann
Das mit der Liebe kann ich nicht. Konnte ich nie. Dass ich es versucht habe, war wohl ein Fehler. Dass ich tatsächlich dachte, dass es auch bei mir funktionieren würde. Eine Beziehung. Ein einziges Mal in meinem Leben. Umarmungen, immer wenn man sie sich wünscht, ein liebevolles Flüstern am Morgen, wenn man aufwacht, jemand, der einen beschützt. Vor den Dingen, vor denen man Angst hat. Jemand, der einem sagt, dass alles gut wird, auch wenn es nicht so aussieht. Liebe. Mit Gewalt wollte ich daran festhalten. Fast verloren hätte ich mich. Das, was mir wirklich wichtig ist. Das, woran ich wirklich immer geglaubt habe.
Meine Bilder. Die Kunst, sie ist verlässlich, sie ist einschätzbar, ich weiß immer, wo die Reise hingeht, was sich lohnt, was sich nicht lohnt. Ich kenne mich aus, bin sozusagen Expertin darin. Mein ganzes Leben lang beschäftige ich mich schon damit. Gemälde, Zeichnungen, Skulpturen. Ich lebe im Rheinland, arbeite in einem Auktionshaus in Köln, bin Sachverständige, habe promoviert über Edward Hopper. Er hat mich schon immer fasziniert, mehr als alle anderen, er ist bis heute der Mann, mit dem ich zusammen sein möchte. Mit seinen Bildern. Mit dem, was er gemalt hat. Das Rätselhafte in seinen Arbeiten, das mich immer fasziniert hat, dieser Realismus, diese leeren Räume. Auf Hoppers Bildern passiert nichts, melancholisch ist alles, still. Das Dunkle ist ganz nah. Unheimlich ist es. Wenn ich aufwache, sehe ich die Farbe, die er auf die Leinwand aufgetragen hat. Ein Gemälde, 66 x 102 Zentimeter, ein Mann steht an einer Tankstelle, ganz nah an der Zapfsäule. Irgendwo in Amerika, irgendwo im Nirgendwo, eine leere Landstraße, es dämmert. Ein wunderschönes Bild ist es, ein Gemälde, das mich glücklich macht. Edward Hopper. 1882 - 1967. Unsterblich, einfach nur schön, was er hinterlassen hat. Mir. Weil ich es mir verdient habe. Weil das mit der Liebe leider nicht funktioniert hat. Weil man Entscheidungen treffen muss im Leben. Wenn das Schicksal einen mit Füßen tritt, soll man zurücktreten. Oder man geht unter. Und das wollte ich nicht. Auch wenn einen Moment lang alles danach aussah.
Zuerst war da dieses Wunder, an das niemand glauben wollte. Eine Edward-Hopper-Ausstellung war angekündigt. Nicht in Berlin oder Hamburg, sondern im Kreis Unna. Im Haus Opherdicke in Holzwickede sollten zweiunddreißig seiner Arbeiten gezeigt werden. Es war eine Sensation, was der Ausstellungsmacher in Opherdicke geschafft hatte. Einer der bedeutendsten amerikanischen Künstler des letzten Jahrhunderts sollte dort gezeigt werden. Ich brannte, fieberte der Ausstellungseröffnung entgegen, mein Sommer sollte wunderschön werden, regelmäßige Ausflüge in diese kleine Welt, Unna und Umgebung, Natur und Geborgenheit. Bilder von Weltruhm in einem wunderschönen Gutshof am Ende der Welt. Was in Europa normalerweise in Paris oder London gezeigt wird, konnte man jetzt in der Provinz bewundern. Was die Museumsdirektoren der großen Häuser nicht schafften, war dem umtriebigen Fachbereichsleiter in Unna gelungen. Hut ab, dachte ich mir und fuhr hin. Dass mein Lebensgefährte mich nicht begleiten konnte, bedauerte ich. Doch als ich endlich vor den Bildern stand, vergaß ich ihn. Vergaß, dass er diese Faszination nicht mit mir teilte. Dieses Glück, das ich empfand. Er verstand es nicht. Hans.
Meine Begeisterung für die Arbeit, für moderne Kunst, den amerikanischen Realismus. Er fand es obsessiv, zu viel war ihm meine Leidenschaft, eifersüchtig war er sogar an manchen Tagen. Mein guter Hans wollte mir insgeheim nehmen, woran ich immer geglaubt habe. Es muss doch noch etwas anderes geben, das dich begeistert, Ilse. Du bist besessen, Ilse. Wenn ich dich nicht so lieben würde . Und ich glaubte ihm. Dass es tatsächlich neben der Kunst noch etwas anderes gibt, das mich glücklich macht. Ich werde immer für dich da sein, sagte er. Dich auf Händen tragen. Dir niemals wehtun.
Mein Hans. Er hat gelogen. Dieser freundliche, nette Mann, den ich beim Radfahren kennengelernt hatte. Vor neun Jahren in dieser herrlichen Gegend. Das märkische Sauerland wurde zum Schauplatz unseres ersten Kusses. Ganz in der Nähe von dort, wo bis vor Kurzem Hopper an den Wänden hing, hat alles angefangen, heimlich unter den Blüten, irgendwann im Frühling, weil mein Reifen geplatzt war. Hans half mir, er verzauberte mich und ich verlor mich in ihm. Vom ersten Augenblick an. Fast wie ein Gemälde war dieses Gefühl. Fast.
Neun Jahre lang Glück. Dann diese Ausstellung. Letzten Sommer. Ich konnte mich nicht sattsehen, kam immer wieder, es war herrlich. Aber immer war ich allein. Hans war nicht da. Er war nie da. Drei bis vier Tage in der Woche musste er arbeiten, er war unterwegs, Softwaretechniker, selbstständig. Zu jeder Tages- und Nachtzeit riefen sie ihn an, sogar an Weihnachten musste er weg. In die Schweiz, nach Schleswig-Holstein, nach Hamburg, große Kunden brauchten ihn, konnten nicht auf ihn verzichten, Netzwerke wären zusammengebrochen, wäre er nicht zur Hilfe geeilt. Hans umarmte mich, ging und kam erst Tage später zurück. Jetzt haben wir Zeit für uns, Ilse. Ohne Arbeit, nur du und ich, Ilse. Er verehrte mich, gab mir das Gefühl, dass ich das Wichtigste war in seinem Leben, sein Goldschatz, sein Mittelpunkt. Nur keine Kinder wollte er. Das war der Wermutstropfen.
Was ich mir an vielen Tagen heimlich wünschte, was ich an manchen aussprach, was von Jahr zu Jahr in mir wuchs, er wollte es nicht. Über diese Sehnsucht reden, darüber nachdenken, es zulassen. Hans schüttelte nur den Kopf. Ich kann nicht, sagte er immer. Bitte verzeih mir. Ich wäre kein guter Vater. Ich habe nicht so viel Liebe in mir. Er weinte. Versicherte mir glaubhaft, dass es besser wäre, kinderlos zu bleiben. Ohne Schwangerschaft älter zu werden. Wir können auch ohne Kinder glücklich sein, sagte er. Bis ich siebenundvierzig Jahre alt war. Bis es zu spät war. Jetzt noch ein Kind zu bekommen, wäre fahrlässig, sagte er. Du willst doch nicht, dass es mit einer Behinderung auf die Welt kommt. Hans nahm mir den letzten Wind aus den Segeln. Das war kurz bevor ich zum vierten Mal in die Ausstellung ging.
Mit dem Zug wieder nach Unna. Dann mit dem Bus nach Holzwickede. Durch den Ort zuerst, dann nach Opherdicke, zu Fuß durch den Park, der Hof war voller Menschen, sie stürmten die Ausstellung. Zu Recht. Wieder war es ein Erlebnis, über drei Stunden lang stand ich vor diesen Bildern und staunte. Dann zurück nach Unna. Ich saß noch eine Weile in einem Café in der Nähe des Bahnhofs, ich hatte Zeit, dachte an nichts Böses, im ersten Moment war ich glücklich, als ich ihn sah.
Meinen Hans. Ganz plötzlich war er aufgetaucht, ich wollte nach ihm rufen zuerst, ihm winken, ich dachte, dass er mir nachgefahren sei, dass er nun doch mit mir die Ausstellung sehen wollte. Doch es war anders. Alles war anders. Ich habe nicht gerufen, ich duckte mich, als ich den kleinen Jungen und das Mädchen sah. Hand in Hand alle drei, das Mädchen links, der Junge rechts. Eistüten in ihren Händen. Sie lachten.
Hans in Unna. Ich verstand es nicht. Hans und die Kinder. Wie vertraut sie miteinander sprachen, lachten, wie sie durch die Stadt spazierten. Wie ich sie beobachtete, ihnen nachschlich. Völlig verstört bis in die Lessingstraße, bis zu einem Gartentor, das sie öffneten. Da war ein süßes Häuschen aus den Zwanzigerjahren, da war eine Schaukel im Garten, ein Sandkasten. Und da war eine Frau, die Wäsche aufhing. Hans küsste sie. So als wäre es das Normalste auf der Welt, tollte er mit den Kindern herum, er umarmte sie, strich ihnen liebevoll über die Haare. Und diese fremde Frau schaute dabei zu. So wie ich. Nur verstand ich es nicht. Im Gegensatz zu ihr wusste ich nicht, was Hans hier tat, was es zu bedeuten hatte. Im Gegensatz zu ihr versteckte ich mich hinter einer dreckigen Mülltonne. Dieses Leben, dem ich da zuschaute, war nicht meines. Aber das von Hans.
Anstatt Hans eine Szene zu machen, zog ich mich zurück. Sagte nichts. Vielleicht glaubte ich, dass alles wieder gut werden würde, wenn ich schwiege. Dass nichts von dem wahr wäre, was mir der freundliche Nachbar erzählte, der gerade dabei war, seinen Rasen zu trimmen. Seit zwölf Jahren lebt die nette Familie schon nebenan. Dieses reizende Paar. Erst kurz bevor sie hier einzogen, haben sie sich kennengelernt. Die große Liebe ist das wohl. Wie respektvoll sie miteinander sind. Und wie entzückend die Kinder. Seit so langer Zeit Nachbarn, noch nie gab es Probleme. Dass es eine gute Idee sei hierherzuziehen, meinte der Mann. Weil ich es wissen wollte. Weil ich gelogen, einen Grund gesucht hatte, um nach Hans zu fragen. Der Nachbar hielt ein flammendes Plädoyer für die Gegend, für die reizenden Nachbarn. Eine heile Welt, in die ich plötzlich eintauchte. Die Hölle war es für mich. Alles.
Ich stand da und weinte. Lange. Ich blieb, ging nicht weg, versteckte mich wieder hinter der Tonne und schaute zu. Ich wartete darauf, dass es aufhörte, dass jemand kommen und mir sagen würde, dass es nur ein Schauspiel war, das jemand für mich inszeniert hatte. Doch niemand kam. Hans und seine Lieben blieben im Garten, gut sichtbar für mich, sie grillten, zeigten mir, wie dumm ich war. Der Softwaretechniker kümmerte sich um ein dringendes Problem, die Würstchen mussten auf den Grill, wichtige internationale Geschäftsbeziehungen standen auf dem Spiel. In drei Tagen bin ich wieder da, Ilse. Ich habe so viel zu tun, weiß nicht, wo mir der Kopf steht....
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