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Wenn man Kindern das Märchen einer Insel erzählt, so sagt man: »Sie hebt sich aus dem Meer«. Damit ist alles gesagt. Denn wenn es viele Möglichkeiten der Entstehung einer Insel gibt, so gibt es doch nur eine Ursache aller dieser Möglichkeiten. Wie immer kommt das Märchen dieser Ursache am nächsten. Sie hebt sich aus dem Meer. Das ist der Versuch der Formgebung, der Wille des Unbegrenzten sich zu begrenzen.
Viel mehr, als der abgegriffene Begriff »Nation« es deutlich macht, ist ja England eine Form des Lebens. Und vielleicht ist die Loslösung vom Kontinent nichts anderes, als ein Sichheben aus dem Meer, aus diesem Meer von Veränderlichkeit, aus dem scheinbaren Widerspruch fließender Übergänge, aus der Verwirrung verschiebbarer Grenzen. Die Klippen von Dover sind deutlich genug, viel deutlicher als der Strand von Calais, der dem Kontinent angehört, einem Kontinent, der zeitweise vergißt, daß auch er eine Insel ist. Das ist die Gefahr des Kontinents. Die Gefahr der Insel ist es, sich selbst zu genügen, die Gefahr der Form, sich als Sicherung anzusehen. Diese Gefahr wird abgewendet durch die Gefährdung. Der Form wird eine neue Chance gegeben.
Mehr als hier allgemein bekannt ist, ist England der Gefährdung während des Krieges begegnet und ist ihr in der Form begegnet, die von Anfang an gemeint war: Jenseits der Sicherungen. Viele wissen hier nicht, daß in London während der deutschen Luftangriffe Autobusse und Untergrundbahnen weitergefahren sind. Das ist deutlicher als vieles andere.
Vieles andere ist auf den ersten Blick undeutlich, auf diesen ersten Blick, der offen ist, aber befangen und erstaunt, weil es jenseits der österreichischen Grenze auch regnet und auch finster wird, wenn der Abend kommt, weil Paris auch große, graue und trostlose Bahnhöfe hat und weil die Bauern auf den französischen Feldern die Hände ebenso langsam über die Augen legen und dann ebenso plötzlich zu winken beginnen wie die unseren.
Das Meer wird wie die Liebe von jedem Menschen neu entdeckt, auch wenn es nur der Kanal unter einem finsteren Himmel ist. Die Möwen schreien und landen, als wären sie aus Zelluloid und von Kindern ins Wasser geworfen, und das Schiff ist weiß und trägt Wimpeln, als wäre das Meer ein kleiner See und diese Zeit der Friede.
Die Straßen zwischen Dover und London haben grelle, fremde Lichter, und der Zug heißt Goldener Pfeil. Von der Küste an hat man die Empfindung, in London einzufahren, und auch mitten in London vergißt man die Küste nicht. Sie bleibt gegenwärtig und diese Gegenwart ist wesentlich. Denn so wie angesichts des Todes die Dinge eine neue Perspektive bekommen, viel wichtiger und zugleich viel unwichtiger werden, so werden sie es auch angesichts der Küste. Es erklärt sich das Weiterfahren der Autobusse unter den Bomben, das Wahren der Form.
Es wird nicht alles auf einen Punkt in der Zukunft bezogen. Es ist nicht so wichtig, zurechtzukommen. Es ist wichtiger, in der Schlange stehenzubleiben. Und gerade deshalb kommt man zurecht. Der Punkt, auf den es ankommt, ist immer der Augenblick. Und innerhalb des Raumes gibt die Insel den Standpunkt. Das beruhigt, auch innerhalb von Krisen, und wenn man es falsch macht, macht man es richtig falsch. Wieder liegt die Gefahr nur in einem Erstarren der Form, in einem an sich, in einer zu großen Beruhigung. Aber dazu ist jetzt gerade kein Anlaß.
London ist nicht nur zur Zeit der Olympiade von Fremden überschwemmt. Es waren grausamere Spiele, die sie vor zehn und mehr Jahren hierhergetrieben haben. Diese Fremden sind der Kontinent, der herüberreicht, das Verfließen der Grenzen auch hier.
Fremde sind für England die Versuchung zum Mißtrauen, aber eine Versuchung, die notwendig ist, damit sich das Vertrauen daran bewährt. Man empfindet hier zum erstenmal, daß es unfair ist, schwarz zu fahren. Man ist einbezogen in das Vertrauen, solang man es nicht erschüttert.
Man beginnt zu entdecken. Alles ist alt und ruhig, aber die Entdeckung macht es neu und unruhig. Diese Mischung ist die beste. Muß nicht alles immer wieder neu entdeckt werden, um zu bleiben?
Dazu sind die Fremden gut. Sie stehen am Tor von Buckingham-Palace und bemerken, daß die abgelöste Wache nach einer Melodie von Mozart abzieht, zu der man im Grund nicht marschieren kann. Fast tänzelt die königliche Wache. Alle Wachen der Welt sollten davon lernen. Es ist möglich zu spielen innerhalb von Staatsaktionen. Und es ist die beste Möglichkeit!
Auf einer weiten, leicht hügeligen Wiese nahe der Themse sind im sinkenden Abend fünf große, starke, zum Teil mit schweren Schlägern beladene Männer hinter einem winzigen, weißen Ball her. Sie stehen nachdenklich, beraten ernsthaft, ziehen die Stirnen in Falten, solange, bis einer von ihnen weit ausholt und den Ball ein kleines Stück weiterschlägt. Sie schließen die Augen halb, sehen sich erstaunt an und beginnen plötzlich zu laufen. Wieder bleiben sie stehen und wieder geschieht dasselbe. Von dem Ball ist längst nichts mehr zu sehen. Auch die fünf Männer mit dem großen Gepäck werden kleiner und kleiner und verschwinden schließlich auf der Jagd nach dem kleinen, weißen Ball im Dunst, der aus dem Fluß steigt, bis sie von einer Gruppe schwankender Bäume in der Ferne nicht mehr zu unterscheiden sind.
Wenn auch da und dort verborgen unter Geschäftigkeit, überwiegt das Spielerische. Fast das ganze Land wettet jede Woche auf den Ausgang der Fußballspiele. Es ist möglich, 30.000 Pfund zu gewinnen. Wenn da einer sagt: »Ich wette nicht mehr! Ich kann es mir nicht leisten, jede Woche 30.000 Pfund zu verlieren!« so muß man ihm widersprechen. Ist man nicht reich, solang man's wagen kann? Und ist nicht die Hoffnung mehr wert als 30.000 Pfund? Man wettet einmal mit und fühlt sich nicht mehr fremd.
Aber die Straßenphotographen haben scharfe Augen. Sie erkennen den Fremden. An allen Ecken lauern sie mit ihren Apparaten und versuchen festzuhalten, was nicht festzuhalten ist. Überall werden Ansichtskarten verkauft. Aber das ist es nicht. Auch so hält man's nicht fest. Was im Album klebt, verstaubt. Man soll sich nicht führen lassen. Immerhin ist es schwierig, den Tower neu zu entdecken. Aber dann entdeckt man ihn doch und dann ist er da: Rot und mitten im Nordwind unter einem eisgrünen Himmel und ganz anders, als man's in der Schule gelernt hat! Die Brücke ist nicht offen, aber offen war sie ja auf allen Ansichtskarten, und so ist es schön, sie geschlossen zu sehen und nur ein leises Beben unter den Sohlen zu spüren, das beweist, wie sie sich öffnen könnte. Und es ist gut, in einer kleinen Snackbar zwischen Dockarbeitern und chinesischen und malaischen Matrosen Tee zu trinken, denn die großen Restaurants mit Musik sind in allen Ländern die gleichen. Und vielleicht ist es auch gut, am Ostermontag nicht in den Hydepark zu gehen und auch nicht nach Kensington Gardens, wo die gelben Narzissen blühen, sondern lieber auf einem der vielen großen Autobusse ins Eastend zu fahren, das man noch nie in der Wochenschau gesehen hat! Und vor den Kohlenbergen zu erschrecken, die so hoch sind, daß man ihnen Namen geben müßte, wenn nicht das Unbekannte das Stärkere wäre. Und plötzlich auf einem ganz stillen Friedhof zu stehen, über den die Krane ragen, als wollten sie die Gräber verladen, und die Masten der Schiffe, als wollten sie damit davonfahren! Hier liegen die Fremden neben den Einheimischen und auch hier blühen die gelben Narzissen.
Sie blühen wild in diesem Land. Und sie sind gleichmäßig darüber ausgestreut wie das Geheimnis gleichmäßig darüber verteilt ist, viel gleichmäßiger als anderswo, aber darum nicht weniger dicht. Wie mit allen Dingen, wird auch damit in England viel weniger Schwarzhandel getrieben, als auf dem Kontinent. Aber es trägt - dieses Geheimnis, wie einen Rolltreppen, Lifts und Untergrundbahnen tragen, und wenn man einen Polizisten fragt: »Wie soll ich gehen?«, so sagt er: »Take a bus!«, das heißt: »Laß dich tragen!« Und das heißt zugleich: »Trag auch mit!« Denn man spricht hier nicht alles zu Ende. Und man spricht viel lieber vom Wetter, als von allen anderen Dingen.
Es wäre ein Unglück, wenn es das Wetter nicht gäbe, aber das Wetter ist einsichtig genug, strahlt und wirft sich gleich darauf mit Wind und Regen über das Land, wechselt fast alle halben Stunden und gibt sich gelassen zum Gesprächsstoff her.
Alle sagen: »Warte, bis der Nebel kommt!« - aber der Nebel kommt nicht, es sind schon zu viele Gedichte darüber geschrieben worden, und erst, als man gar nicht mehr darauf wartet, ist er plötzlich da, gelb und dicht, und nimmt einem bei geschlossenen Fenstern den Atem und läßt keinen mehr auf die andere Seite finden. Er beweist, daß nichts so nahe ist, wie es aussieht. Und was die Bomben nicht fertiggebracht haben, bringt der Nebel fertig: er hält die Autobusse auf.
Das Meer bringt den Frühling, wie es alles bringt. Es ist ein anderer Frühling, herb und weniger sentimental als der unsere. Und mitten darin ist der Teich in Kensington Gardens plötzlich wieder zugefroren und die Schwäne liegen ruhig auf dem Eis, wie das Schloß in der Mitte des Gartens liegt. Nach dem Brot, das man ihnen hinwirft, wenden sie sich nicht um. Es gibt viele Schwäne hier, schwarze und weiße, und bunte, fremde Wasservögel, die unter geschwungenen Brücken schwimmen, wenn das Eis zergangen ist.
Die Teiche, die dunstigen Wiesen und die Kränze von Baumkronen scheinen plötzlich wie auf altes, kostbares Porzellan gemalt, und man geht schnell nach Hause, um sich zu versichern, daß man nicht selbst...
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