Schweitzer Fachinformationen
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Schon früh lernt das Mädchen Maryam die Brutalität des iranischen Regimes kennen. Ihre schwangere Tante wird von der Miliz misshandelt, ihr Bruder verhaftet, sie selbst verhört. Wie alle Frauen muss auch Maryam Kopftuch tragen und wird als Mensch zweiter Klasse behandelt. Doch sie rebelliert gegen die strengen Regeln. Als sie älter wird, eröffnet sie einen Schönheitssalon, ein Ort weiblicher Freiheit. Hier kommt sie in Kontakt zum Christentum - und konvertiert schließlich. Doch der "Abfall vom Islam" bleibt nicht folgenlos, Maryam wird inhaftiert, gefoltert. Dann - nach Monaten des Martyriums - kann sie fliehen ...
In der Hand, die noch etwas zittert, halte ich meinen Schutzstatus. Es ist eine kleine Chipkarte, genannt Aufenthaltstitel. Ein Foto von mir und mein Name darauf: Maryam Heidari Ahwazi - von Deutschland geschützt, weil ich im Iran als Christin verfolgt werde.
Sie liegt vor mir auf dem Tisch. Getrocknet sind die Tränen, die darauf gefallen sind. Wenn ich die Karte betrachte, dann denke ich, wie glücklich ich bin.
Ich sitze mit Herrn Martin, wie ich unseren Paten nenne, an unserem Tisch in der Diele. Meine Nichte Faezeh kommt aus ihrem Zimmer. Auch sie weint, als ich ihr die Karte zeige und sie umarme. Und Herr Martin sitzt dabei und findet keine passenden Worte.
»Entschuldigung«, sage ich leise.
»Kein Problem«, sagt er.
»Es war so schwer, es war eine so lange Zeit.«
»Ich verstehe«, sagt er.
Aber er versteht nicht. Er kann nicht verstehen. Niemand kann verstehen, der nicht meinen Weg gegangen ist.
Meinen Weg, der mich zur Staatsfeindin gemacht hat. Der mich von meinem Mann getrennt hat. Der mich ins Gefängnis gebracht hat.
Meinen Weg, der mich zur Flucht über das Meer gezwungen hat. Der mich nach Deutschland geführt hat - nach Duisburg, in eine Wohnung für Flüchtlinge, im elften Stock - so hoch oben, dass ich nicht wage, aus dem Fenster nach unten zu schauen.
Niemand kann verstehen, der nicht meinen Weg gegangen ist.
Als ich Herrn Martin ansehe - so deutsch, so ungläubig -, da traue ich mich nicht zu sagen, was ich denke.
Ich will ihm sagen, dass Jesus mich auf diesen Weg geführt hat. Dass er bei mir gewesen ist. Dass er mein Schutz war, wichtiger als ein Aufenthaltstitel.
Und ich will sagen, dass mein Weg nun auch seine Geschichte ist. Und dass ich immer geglaubt habe, Jesus werde mir jemanden schicken, der diese Geschichte erzählt - jemanden, der es den Menschen erzählt, die mich aufgenommen haben. In der Sprache meiner neuen Heimat.
Und dann traue ich mich, es zu sagen.
»Du meinst, ich soll deine Geschichte erzählen?«, fragt er. »Du meinst, Jesus hat mich zu dir geschickt, weil er weiß, dass du Hilfe beim Schreiben brauchst?«
Ich nicke. Jesus hatte mir Hilfe geschickt. Nicht anders war es.
»Maryam, ein Roman - das ist richtig viel Arbeit!«
Es ist kein Roman. Es ist das, was mir passiert ist. Er wird verstehen, wenn ich darüber spreche.
Er schaut grimmig vor sich hin. Wenn Deutsche nachdenken, dann schauen sie grimmig.
Ich erkläre es ihm. Meine Geschichte kann ich nicht aufschreiben. Aber ich spreche genug Deutsch, um sie zu erzählen.
Faezeh holt Tee und Gebäck.
»Das wird viel Arbeit«, sagt er endlich. »Für mich, für uns alle.«
»Mein Deutschkurs beginnt in drei Monaten. Bis dahin habe ich Zeit«, sage ich.
»Was ist mit dir, Faezeh?«, fragt er. »Du sprichst am besten Deutsch in eurer Familie.«
»Ich habe auch Zeit«, sagt meine Nichte. »Mein Studienkolleg endet bald. Dann bin ich ein halbes Jahr lang Gaststudentin.«
»Jesus hat mich ausgesucht, meinst du?«, fragt der Deutsche und schaut mich fragend an.
»Herr Martin, sie glaubt wirklich daran«, sagt Faezeh, bevor ich antworten kann. »Vor zwei Jahren - bei deinem ersten Besuch hat sie mir gesagt, dass Jesus dich geschickt hat, damit du ihre Geschichte aufschreibst.«
Es war beschlossen, als wir zu dritt darüber lachen mussten.
Die Geschichte einer Iranerin kann nur erzählt werden, wenn der Leser weiß, zu welcher Minderheit des Iran sie gehört. Dabei macht es keinen Unterschied, ob sie eine Christin ist oder nicht. Jeder Mensch im Iran gehört zu einer Minderheit. Selbst die Perser und alle, die ihnen zugerechnet werden, machen im Iran kaum mehr als die Hälfte der Bevölkerung aus. Der Iran besteht aus Minderheiten - den Persern selbst, den Kurden, den Belutschen, den Turkmenen und den Ahwazi-Arabern.
Meine Familie nun gehört zu den Ahwazi - den Arabern, die im Süden des Iran wohnen. Wie alle Minderheiten bewahren wir unsere Kultur. Im Verborgenen tragen wir unsere traditionelle Kleidung, nennen uns bei unseren verbotenen Namen, sprechen unsere verbotene arabische Sprache.
Alle Minderheiten erheben Anspruch auf ihr angestammtes Gebiet. Den Ahwazi aber begegnet der Staat mit besonderer Härte, denn unter ihrem Stammesgebiet liegen fast die gesamten Erdgas- und Ölvorräte des Iran. Um dieses Gebiet ist der iranisch-irakische Krieg geführt worden mit mehr als einer Million Toten. Würden die Ahwazi die Gebiete zurückerhalten, die ihnen gehören - der Iran wäre nach drei Monaten zahlungsunfähig!
Jede und jeder Ahwazi ist also vom Tag der Geburt an der Überwachung durch die Islamische Republik und ihren polizeilichen Maßnahmen ausgeliefert. Dies war auch mir vorgezeichnet. Es ist aber nicht so, dass ich eine Christin wurde, weil ich eine Ahwazi bin. Das Leben als Christin bedeutete für mich eine weitere Unterdrückung. Es war eine Art von Leben, das ich kannte, mit dem ich als Ahwazi aufgewachsen war. Und deshalb will ich zunächst berichten, was es heißt, eine Ahwazi zu sein.
Unsere Familie ist eine liberale Familie. In Deutschland würde man sagen, wir sind eine gebildete Familie. In unserem Haus gab es Wände mit Büchern. Es gibt keinen Bekannten meiner Eltern, der nicht begeistert liest und diskutiert. Auch Buchhändler waren darunter. Was dazu führte, dass unser Haus mehrmals von der Sicherheitspolizei nach verbotenen Veröffentlichungen durchsucht wurde.
Unser Interesse an geistigen Dingen war das eine. Das andere war, dass sich bei uns Frauen und Männer als gleichwertig ansahen. Es gab keinen Unterschied. Und als Khomeini den Frauen die Unterordnung gebot - da gab es in unserer Familie keinen Mann, der sich über seine Frau gestellt hätte. Wir Frauen führten so ein doppeltes Leben. Was uns im Haus gestattet war, war in der Öffentlichkeit eine Gefahr für uns.
Es gab niemanden in unserer Familie und unter unseren Freunden, der nicht ein doppeltes Leben führt. In der Islamischen Republik bekamen die Männer mehr Rechte als die Frauen, den Ahwazi als Minderheit - den Männern und den Frauen - wurden jedoch alle Rechte genommen.
Ich erinnere mich an den Besuch eines Mannes bei uns. Ich bin ein Mädchen von zwölf Jahren und freue mich, dass eine Hochzeit gefeiert wird. Der Mann gibt meinen Brüdern die Hand und streichelt mir über das Haar. Die Hochzeit seines ältesten Sohnes soll gefeiert werden. Ich bekomme ein schönes Kleid und suche mit meiner Mutter einen kleinen Ohrring aus, den ich tragen werde. Der Mann ist ein Ahwazi. Er und seine Söhne feiern die Hochzeit in einem arabischen Gewand. Am Tag der Hochzeit werden er und seine drei Söhne verhaftet. Sein damals vierzehnjähriger Sohn wird als Letzter freigelassen. Er verbringt vier Jahre in einem iranischen Gefängnis, ehe er zu seiner Familie nach Europa ausreisen darf. Sein Verbrechen war das Tragen arabischer Festkleidung - eine Tradition, die älter als eintausend Jahre ist.
Bevor ich anfing zu erzählen, wurde ich von Herrn Martin gefragt, ob ich wirklich als Autorin genannt werden möchte. Ob wirklich »Maryam Heidari Ahwazi« auf dem Buch stehen solle. Ob zumindest der Namensteil »Ahwazi« nicht verzichtbar sei.
Nach der Veröffentlichung werde es kein Zurück geben. Dann werde die Autorin Lesungen halten, Interviews geben und Messen besuchen müssen.
»Mein Name soll auf dem Buch stehen«, sagte ich. »Ich bin eine Ahwazi und eine Frau, die sich vom Islam abgewandt hat. Ich hatte im Iran den Mut, dazu zu stehen. Es gibt keinen Grund, ihn in Deutschland zu verlieren.«
Die Ahwazi seien auch in Europa nicht sicher, gab er zu bedenken. Kürzlich sei ein Vertreter der Ahwazi auf offener Straße in Den Haag erschossen worden. Das Opfer - Ahmad Mola Nissi - sei ein Mann, den ich persönlich gekannt habe.
»Ja«, sagte ich. »Ich kannte diesen Mann - und der Attentäter war ein iranischer Agent -, aber ich werde meinen Namen nicht ändern. Es gibt keinen in unserer Familie, der sich versteckt. Auch ich werde mich nicht verstecken!«
Mein Vater war ein Mensch, den ich gern beobachtete. Mit ihm will ich anfangen zu erzählen.
Wenn er mit seinem kleinen Motorrad von der Schule nach Hause kam, dann durfte ich hinter ihm sitzen. Und wenn ich eine Freundin sah, dann winkte ich. Er gab mir eine Hand, wenn ich vom Motorrad stieg.
»Wie einer Dame helfe ich dir aus dem Sattel«, sagte er.
Das war sehr vornehm, fand ich.
»Ich reite auf deinem Motorrad wie auf einem Pferd«, sagte ich.
Wir machten Besuche, bei denen ich seine Begrüßung war.
»Das ist Maryam, meine Tochter«, sagte er.
Mein Vater war ein großer Mann mit schwarzen Haaren - so dicht, dass sie bei der Fahrt nicht hoch flogen. Er war sehr dünn. Und er aß sehr langsam. Sein Benehmen war so, wie ich es in den Filmen sah.
Sein bester Freund war dick und klein. Er redete, wenn er aß. Und er aß, wenn er redete. Ich fand, das war nicht vornehm. Er aß wie ein Pirat.
»Er ist so klug, dass er sogar Bücher geschrieben hat«, sagte mein Vater zu mir.
Piratenbücher, dachte ich.
Mein Vater hatte eine Brille, aber es war mit der Brille wie bei seinem Essen. Er hatte Hunger, aber aß sehr langsam,...
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