Kapitel 1
Marie
Tim ist nicht mehr da. Einfach tot. Müsste der Tag, an dem der wichtigste Mensch aus dem Leben verschwindet, nicht dunkel sein? Aber nein, es ist ein strahlend schöner Sommertag im August. Ich friere trotzdem. Sitze frierend auf dem Plastikstuhl in einem kahlen Krankenhausgang und verstehe die Welt nicht mehr. Finde keine Antwort auf das Warum. Höre meine Mutter und meinen Vater weinen. Als ob irgendeine Träne etwas daran ändern würde. Keine Träne der Welt wird mir meinen Bruder wiedergeben. Mein Kopf dröhnt, und mir ist übel. Als heute Nacht das Telefon klingelte und die Klinik anrief, dass wir jetzt Abschied nehmen sollten, wusste ich nicht, wie. Wie soll man für immer Abschied von einem geliebten Menschen nehmen? Als wir ankamen, ging es schnell. Er starb um 8:40 Uhr. Warum war das relevant? Wen würde es interessieren? Ich bin jetzt allein. Mein Handy vibriert und zeigt mir eine WhatsApp von meinem Freund Julius an, es ist mir egal. Was kann schon noch wichtig sein? Um mich herum höre ich die Alltagsgeräusche eines Krankenhauses, eine Krankenschwester geht mit quietschenden Gummischuhen an mir vorbei. Die Tür zu Tims Zimmer steht offen, und die Sonne scheint durch das Fenster. Sie strahlt das inzwischen leere Bett an, und kurz kommt mir der Gedanke, dass Tim an dem Lichtstrahl nach oben in den Himmel geschwebt ist. Ich merke, wie Tränen auf meine ineinander verknoteten Hände fallen.
»Marie«, höre ich eine freundliche, warme Stimme. Sie gehört zu Ruth, der Krankenschwester, die sich am häufigsten um Tim gekümmert hat. Sie blickt mich mitfühlend an und berührt kurz meine Schulter. »Hast du eine Minute für mich?«
Ich nicke.
»Komm, wir gehen ins Schwesternzimmer, da ist gerade nichts los.«
Ich folge Ruth in das kleine mit grauem Linoleum ausgelegte Zimmer. Um einen kleinen Tisch herum stehen vier Stühle. Ruth deutet mir, mich zu setzen.
»Marie, ich kann dir gar nicht sagen, wie leid mir das tut! Ich weiß, wie nah ihr euch immer standet, er hat mir so viel von dir erzählt.«
Ich kann nicht sprechen, daher nicke ich bloß.
Ruth fährt fort: »Tim hat mich gebeten, dir etwas zu geben. Er wollte, dass ich es dir erst nach seinem Tod überlasse.« Sie steht auf, öffnet einen Schrank und holt aus einer Schublade, auf der ihr Name steht, einen Brief heraus. Ich nehme ihn so vorsichtig entgegen, als könne er sich in Luft auflösen. Dieser Brief ist ein Geschenk! Mein geliebter Tim hat ihn an mich adressiert. Ich kann ihn unmöglich hier lesen in der sterilen Umgebung der Klinik, auf der Tims Tod so schwer lastet.
»Vielen Dank«, krächze ich und treffe Ruths Blick.
»Lass mich bitte wissen, wie es dir geht«, bittet Ruth. Wir tauschen Nummern aus und vereinbaren, in ein paar Wochen miteinander zu telefonieren. Ein paar Wochen. Eine für mich unüberblickbare Zeitspanne im Moment. Ich verlasse das Schwesternzimmer und treffe auf dem Gang meine Eltern, den Brief habe ich in der Innentasche meiner Jeansjacke verstaut. Meine Mutter wirkt gebrochen, mein Vater ist ganz grau, eine stützende Hand an ihrem Arm. Wir treten aufeinander zu und umarmen uns. Meine Mutter und ich weinen hemmungslos. Die Schultern meines Vaters beben, aber er versucht, uns Halt zu geben. Gemeinsam verlassen wir die Klinik und fahren nach Hause. Als ob es jemals wieder mein Zuhause sein könnte, ohne Tim, nur mit den Erinnerungen an ihn, die mir alle Luft zum Atmen nehmen. Mein Handy vibriert erneut. Wieder ist es Julius. Ich kann jetzt nicht mit ihm sprechen, ich drücke das Gespräch weg.
Die Sonne scheint auf unser kleines Haus, aber es fühlt sich kalt und leblos an, als wir es betreten. Mama sinkt weinend auf die Couch, und mein Vater setzt sich neben sie. Sanft streicht er über ihren Rücken. »Margot, ich denke, wir sollten deinen Bruder anrufen. Er kann dann allen anderen Bescheid geben. Und dann müssen wir uns, so schrecklich das ist, über Tims Beerdigung unterhalten.«
»Thorsten«, sagt meine Mutter, »ich habe momentan einfach keine Kraft dazu. Lass uns bitte das Beerdigungsinstitut anrufen, sie sollen vorbeikommen und uns Vorschläge machen. Ich weiß nur, dass ich für meinen Tim einen weißen Sarg möchte mit einem Rosenbouquet«. Die Stimme meiner Mutter bricht, und sie lässt ihren Tränen freien Lauf. Ich lasse mich schwer auf einen der Esszimmerstühle fallen.
»Tim wollte nie herkömmlich auf einem Friedhof beerdigt werden«, protestiere ich. »Er hat mir erzählt, wie ruhig und würdevoll er den Friedwald findet. Er möchte dort seine letzte Ruhe finden, das hat er gesagt, und das wisst ihr auch!«
Meine Eltern sehen mich aus müden Augen an. Mein Vater räuspert sich. »Marie, das ist Quatsch, tut mir leid. Der Friedwald ist doch dreißig Kilometer weit weg. Unser Friedhof liegt gleich ums Eck, deine Mutter möchte ihren Jungen in ihrer Nähe wissen und die Gelegenheit haben, an sein Grab zu gehen, wann immer ihr danach ist!«
»Aber Tim hätte das nicht so gewollt! Wie könnt ihr das nicht respektieren?«, bringe ich vor Wut und Verzweiflung schluchzend hervor.
Meine Mutter sieht mich aus rotgeweinten Augen an. »Ich möchte, dass Tim hier bei uns in der Nähe bleibt! Du weißt, dass ich nicht Auto fahre, und ich habe das Recht, Tims Grab zu besuchen, sooft ich möchte, und damit ist dieses Thema für mich erledigt. Ich kann mich jetzt nicht darüber streiten, bitte verstehe das!« Sie legt ihre Hand auf meine, und ich ziehe sie unwirsch weg. Aber natürlich ist mein Widerstand schon wieder gebrochen. Wie immer eigentlich. Ich bin Marie, die Tochter, mit der es nie Probleme gibt, die immer den geraden Weg geht. Wie kann ich in einem solchen Moment einen Streit mit meiner Mutter beginnen? Aber ich kann mich so gut an ein Gespräch mit Tim erinnern. Damals war er schon vom Krebs gezeichnet gewesen, daher konnte ich das Thema seines Todes nicht mehr verdrängen. Also hatte ich mich zu Tim gesetzt, seine Hand genommen und zugehört, wie mein geliebter Bruder davon sprach zu sterben.
»Ich habe keine Angst, Marie, ich bin überzeugt, dass der Tod nicht das Ende ist. Denn ich werde immer in euch sein und in den vielen gemeinsamen Erinnerungen und Gesprächen von euch weiterleben. Daher wünsche ich mir wirklich, dass ihr an Orten der Freude an mich denkt. Zum Beispiel bei einem Glas Wein in der Toskana, auf der Couch mit einem guten Buch, das ich euch mal empfohlen habe. Zur Erinnerung braucht es kein penibel gepflegtes Grab mit einem Marmor-Engel, den Mama dann ständig putzen muss. Immer dort, wo ihr euch an mich erinnert, bin ich bei euch! Ich mag die Ruhe im Friedwald, die stille Präsenz der Bäume, die diesem Ort eine ganz besondere Atmosphäre verleihen. Vielleicht kann sich Mama ja mit dem Gedanken anfreunden, dass ich dort meine letzte Ruhe finde, was meinst du?«
Ich meinte gar nichts, denn ich wollte mir ein Leben ohne Tim nicht vorstellen. Es war schon schlimm genug für mich gewesen, als er zum Studieren nach Hamburg gezogen war. Damals hatte ich mich schon so gefühlt, als wäre ein Teil von mir, und zwar der lustige und liebenswertere Teil, gegangen. Dabei konnte ich Tim da noch anrufen oder einfach zu ihm fahren. Der Tod war für mich wie eine schwarze Mauer, hinter der mein Bruder verschwinden würde. Ich hatte Angst davor, mich eines Tages nicht mehr an den genauen Klang seiner Stimmer erinnern zu können oder an die Grübchen, die er bekam, wenn er lächelte.
»Marie, du musst was aus deinem Leben machen, das ist mein allergrößter Wunsch! Du bist fünfundzwanzig Jahre alt und kannst doch noch alles machen, was du möchtest.« Da war er wieder, mein wunder Punkt. Ich hatte doch alles gemacht, was ich wollte. Ich hatte eine grundsolide Ausbildung bei der Sparkasse gemacht und arbeitete nun in der Abteilung Kreditvergabe. Julius arbeitete ebenfalls bei der Sparkasse, finanziell ging es uns beiden gut. Vor einem Jahr hatten wir eine kleine Wohnung bezogen, und wir würden eines Tages ein Haus bauen, da es Wahnsinn wäre, bei derart niedrigen Zinsen dauerhaft Miete zu zahlen. Zweimal im Jahr fuhren wir gemeinsam in den Urlaub: Einmal mit dem Sportverein zum Skifahren und einmal im Sommer in einen Club irgendwo in den Süden. Mein Leben mochte vielleicht nicht aufregend sein, aber ich fand es gut so. Ich hatte seit diesem Gespräch so oft darüber nachgedacht, was ich denn anderes machen sollte, wie man denn sein »Leben lebt«. Definiert das nicht jeder für sich? Ist es nicht einfach wichtig, am Ende des Lebens darauf zurückzublicken und zu spüren, dass es gut war? Ich wusste, dass es bei Tim so gewesen war. Aber wie würde es bei mir sein? Würde ich irgendwann auf mein Leben zurückblicken und eine positive Bilanz ziehen? Oder würde ich bereuen, nicht viel mehr daraus gemacht zu haben?
Mein Kopf beginnt zu hämmern, ich kann und will mich heute nicht mit diesen Gedanken herumschlagen. »Ich muss an die frische Luft, ich mache einen Spaziergang«, verkünde ich meinen Eltern. Ich will Tims Brief lesen, und ich will der drückenden Stille meines Elternhauses entkommen, die nur durch die leisen Gespräche meiner Eltern unterbrochen wird, denen ich schon länger nicht mehr folge. Ich stehe auf, schlüpfe in...