Schweitzer Fachinformationen
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Irina öffnete das Fenster, ein lauer Wind schlug ihr entgegen, es duftete nach Sommerflieder. In der Ferne hörte sie das Rauschen des Berufsverkehrs. Sie dachte an die Patientin, die sich eben mit einem Glas selbst gemachter Himbeermarmelade von ihr verabschiedet hatte, als Dank dafür, dass sie ihr nach ihrem Unfall wieder auf die Beine geholfen habe - mit ihren krankengymnastischen Fähigkeiten und mit ihrer Zuversicht. Sie sei eine geborene Mutmacherin. Irina schüttelte leicht den Kopf und schloss das Fenster wieder.
Gleich hatte sie ihre letzte Behandlung für heute, die junge Frau mit dem Bandscheibenvorfall. Danach würde sie nach Hause radeln und schnell ein Abendessen für Stefan zubereiten. Um halb acht war sie mit Marlies in der Trattoria Calabria in Eimsbüttel verabredet. Darauf freute sie sich schon seit Tagen.
Sie machte ein paar Dehnübungen und trank einen Schluck aus ihrer Wasserflasche.
Svenja hatte ihr eine WhatsApp geschickt.
Liebe Mama,
André hat heute Abend ein wichtiges Dinner mit seinem Chef und einem amerikanischen Kunden. Er hat vorhin erst erfahren, dass dafür auch Ehepartner vorgesehen sind. Leider habe ich so kurzfristig keinen Babysitter bekommen. Es wäre toll, wenn Ihr für etwa dreieinhalb Stunden auf Leonie aufpassen könntet. Mit Papa habe ich schon gesprochen. Für ihn ist es okay. Sorry, wenn ich damit jetzt Deine Pläne durcheinanderbringe. Ich muss spätestens um 7 Uhr los. Tausend Dank und bis nachher.
Liebe Grüße,
Svenja
Irina spürte einen Stich. Sollte sie Stefan vorschlagen, allein zum Babysitten zu gehen? Nein, das würde ihn überfordern.
»Frau Lohrisch?«
Sie drehte sich um.
In der Tür stand die junge Frau und schaute sie fragend an. »An der Rezeption sagte man mir, dass ich zu Ihnen durchgehen solle.«
»Ja, kommen Sie herein. Entschuldigen Sie, dass ich Sie nicht aus dem Warteraum abgeholt habe.«
Die junge Frau hatte starke Schmerzen und große Angst. Sie traute sich keine der leichten Rückenübungen zu, sondern verkrampfte sich immer mehr. Irina beschloss, vom Programm abzuweichen und sie nur zu massieren. Allmählich entspannte sie sich und fing dann plötzlich an zu weinen.
»Das wird schon wieder«, sagte Irina leise.
Beim Abschied lächelte die junge Frau zum ersten Mal.
Gleich halb sechs. Vielleicht war Marlies noch in ihrer Praxis. Sie suchte in ihrem Smartphone die Nummer heraus, doch erst als der Anrufbeantworter ansprang, fiel ihr ein, dass heute Mittwoch war und Marlies nachmittags freihatte. Sie erreichte sie schließlich zu Hause.
»Es tut mir so leid, aber ich muss für heute Abend absagen.«
Marlies hörte ihr ruhig zu und war ihr wie immer nicht böse. Sie kannten sich seit über dreißig Jahren, und die kinderlose Marlies wusste, dass Irina nicht Nein sagen konnte, wenn es um ihre Familie ging.
»Wie geht es dir?«
Marlies seufzte. »Meine Mutter ist gestern wieder gestürzt.«
»Oje! Hat sie sich verletzt?«
»Sie hat eine große Prellung an der Hüfte. Sonst ist ihr zum Glück nichts passiert.«
»Sie ist doch erst letztens gefallen.«
»Ja, das ist schon der vierte Sturz in diesem Monat. Sie kann nicht mehr allein in ihrem Haus leben, aber sie will nach wie vor niemanden bei sich wohnen lassen, und in eine Seniorenresidenz will sie auch nicht, obwohl sie sich das leisten könnte. Ich weiß nicht mehr, was ich machen soll. Sie ist noch bei klarem Verstand. Ich muss ihre Entscheidung respektieren.«
»Wahrscheinlich . würde sie am liebsten zu dir ziehen.«
»Ja, aber wie soll das funktionieren? Meine Mutter kann schon seit Jahren keine Treppen mehr steigen. Sie käme niemals bis zu mir in den dritten Stock. Außerdem bin ich den ganzen Tag nicht da. Ich müsste jemanden engagieren, der sich hier um sie kümmert.«
»Das kann doch nicht so schwierig sein. Wenn du willst, höre ich mich gern mal etwas um.«
»Nein, Irina, bitte nicht. Es geht ja nicht nur um die Betreuung tagsüber. Nachts wäre ich für meine Mutter zuständig, wenn sie alle zwei, drei Stunden aufsteht, um auf die Toilette zu gehen, sich einen Tee zu kochen, Zeitung zu lesen. Das schaffe ich kräftemäßig nicht. Da kann ich meine Praxis gleich dichtmachen.«
Marlies' Stimme war immer lauter geworden. So hatte Irina sie noch nie erlebt.
»Sei froh, dass du diese Probleme nicht hast.«
»Wie bitte?« Irina schluckte.
»Entschuldige. Das wollte ich nicht sagen . Ich bin im Moment einfach ziemlich gestresst.«
Sie vereinbarten, in den nächsten Tagen wieder zu telefonieren.
Irina schickte Svenja eine Nachricht, dass sie gegen halb sieben bei ihr wäre. Und Stefan schrieb sie, dass es keinen Zweck hätte, wenn sie jetzt noch nach Hause käme. Ich besorge uns zwei Tiefkühlpizzen und treffe Dich bei Svenja. Gruß, Irina.
Sie zog sich um, packte ihre Sachen und war froh, dass die Rezeption nicht mehr besetzt war und sie mit niemandem sprechen musste.
Marlies' Satz klang noch immer in ihr nach, als sie ihr Rad aufschloss und sich auf den Weg zum Supermarkt machen wollte. Plötzlich fing sie an zu zittern. Sie ließ den Schlüssel fallen und lehnte sich an die Hauswand. Da war er wieder, der Tag, an dem sie Mutters Brief bekommen hatte.
Im Hausflur riecht es nach angebranntem Kohl. Ich nehme die Post aus dem Kasten, sehe den Brief mit Mutters Schrift. Mein Herz schlägt schneller. Seit Wochen habe ich nichts von ihr gehört. Hastig reiße ich den Umschlag auf.
Berlin, den 10. November 1985
Meine liebe Irina!
Es tut mir so leid, daß ich eine schlechte Nachricht für Dich habe. Mir ging es in der letzten Zeit nicht gut, und heute habe ich erfahren, daß ich Eierstockkrebs in einem fortgeschrittenen Stadium habe.
Oh, nein! Ich sinke auf die Treppe.
Mir bleiben nur wenige Monate, vielleicht auch nur ein paar Wochen. Ich würde sehr viel darum geben, wenn ich Dich vor meinem Tod noch einmal sehen könnte.
Meine Gedanken überschlagen sich. Gleich morgen werde ich ein Visum beantragen.
Aber ich will Dich auch nicht in Gefahr bringen. Selbst wenn die Behörden Dir ein Visum bewilligen, ist es für Dich als ehemalige >Republikflüchtige< ein Risiko, wieder in die DDR einzureisen. Von daher könnte ich es sehr gut verstehen, wenn Du beschließt, ein solches Wagnis nicht einzugehen.
Du bist der wichtigste Mensch in meinem Leben. Ich bin unendlich glücklich und dankbar, daß ich so eine wundervolle Tochter habe, und wünsche Dir von ganzem Herzen, daß es Dir gut gehen möge und Du in Deinem Leben viel Glück und Erfüllung erfahren wirst.
Es umarmt Dich
Deine Dich liebende Mutter
Ich fange an zu weinen. Natürlich werde ich die Reise wagen, wenn ich ein Visum bekomme. Hauptsache, ich kann mich von Mutter verabschieden und sie persönlich um Verzeihung dafür bitten, dass Frank und ich im Herbst 1977 versucht haben zu fliehen, ohne sie vorher in unsere Pläne einzuweihen.
Irina bückte sich nach ihrem Schlüssel und fuhr zögernd los. Die Erinnerung an jene Zeit war wie eine offene Wunde, die niemals heilen würde. Ihr Antrag auf ein Visum wurde abgelehnt, vier Wochen später starb Mutter im Alter von fünfzig Jahren. Irina durfte nicht an ihrer Beerdigung teilnehmen. Sie war an ihrer Trauer fast zerbrochen.
In jenem Winter hatte sie Stefan kennengelernt, der sie auffing und ihr Halt gab. Ohne ihn wäre sie verloren gewesen.
Beinahe hätte sie eine Fußgängerin übersehen. Sie bremste, stieg ab und schob das letzte Stück bis zum Supermarkt.
Es war kurz vor halb sieben, als sie Eppendorf erreichte und in die Seitenstraße mit den hohen Bäumen einbog, in der Svenja mit ihrer Familie lebte. Jedes Mal, wenn Irina vor dem renovierten Altbau mit den großen Balkonen stand, hatte sie einen Moment lang ein Gefühl der Beklemmung, weil diese Welt so anders war als die der engen Mietwohnung in Barmbek, in der Svenja aufgewachsen war und in der Stefan und sie heute noch lebten. André stammte aus sehr wohlhabenden Verhältnissen, seine Eltern besaßen nicht nur dieses Haus. Sie gaben sich große Mühe, Stefan und ihr gegenüber ihren Reichtum nicht herauszukehren, aber Irina war mit ihnen nie warm geworden.
Im Treppenhaus hörte sie Leonie schreien. Sie lief die letzten Stufen hinauf, schloss die Wohnungstür auf, und da kam ihr schon Svenja in Shorts und T-Shirt mit der tränenüberströmten Leonie auf dem Arm entgegen.
»Oh, Mama, hier bricht gerade alles zusammen. Ich versuche seit Stunden, sie zu beruhigen.«
Irina gab ihrer Tochter einen Kuss und nahm ihr Leonie ab. »Was hat sie denn?«
»Ich glaube, sie bekommt einen Zahn, oder sie hat wieder Bauchweh.«
»Na, mein Schatz«, sagte Irina und strich Leonie über ihre nass geschwitzte Stirn. »Du hast ja einen ganz heißen Kopf.«
Leonie wandte ihr Gesicht ab und brüllte weiter.
»Keine Ahnung, wie das werden soll, wenn in fünf Wochen die Schule wieder losgeht. Ich hätte ein zweites Jahr Elternzeit beantragen sollen.«
»Du hast doch eine Tagesmutter gefunden.«
»Ja, aber ich habe plötzlich Zweifel, ob es nicht zu früh ist, Leonie abzugeben.«
»Mach dir darüber jetzt keine Gedanken. Geh schnell duschen. Ich kümmere mich um sie.«
»Danke. Ich weiß nicht, was ich ohne dich machen würde.«
Leonie schluchzte einmal laut auf, dann brüllte sie weiter.
»Oh, wenn ich bloß wüsste, wie ich dir helfen könnte«, murmelte Irina und ging mit ihr ins...
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