Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Pia hatte schon geschlafen, als der Anruf aus der Klinik kam.
»Ihr Vater hat einen Schlaganfall erlitten«, sagte die Schwester. »Kommen Sie schnell, bevor es zu spät ist.«
Pias Mund wurde trocken vor Angst. Wie im Taumel zog sie sich ihre Jeans und ihren warmen blauen Pulli an, lief auf die Straße hinunter und brauchte endlose Minuten, bis sie sich erinnerte, wo sie geparkt hatte.
Seine Augen waren geschlossen, die Wangen grau und eingefallen. Sein Atem ging flach. Auf seiner Stirn standen kleine Schweißperlen.
»Ein Nachbar hat ihn gefunden«, sagte die Schwester. »Er lag bereits im Koma, als er eingeliefert wurde. Wahrscheinlich wird er nicht wieder zu sich kommen.«
Gegen zwei Uhr morgens merkte Pia, wie sein Mund sich bewegte. Sie griff nach seiner Hand. Was war das, was er versuchte, ihr zu sagen? Sie legte ihr Ohr auf seine Lippen und lauschte.
»Zo. Zo. Zoë.«
»Zoë?«, fragte sie.
Er nickte. Zumindest kam es ihr so vor, als ob er nickte. In ihrem Kopf stürzten plötzlich lauter Bilder durcheinander. Mutter streitet mit Vater. Vater schlägt die Haustür hinter sich zu. Mutter packt die Koffer. Zoë drückt mich an sich. Mutter reißt mich aus Zoës Armen. Zoë weint. Ich weine auch.
In diesem Moment kam ein Röcheln aus seiner Kehle. Sein Kopf sackte zur Seite, seine Hand wurde schlaff, und dann hörte er auf zu atmen.
Pia saß reglos, bis der Arzt das Zimmer verlassen hatte und die Schwester begann, das Kinn ihres Vaters hochzubinden.
»Gibt es hier jemanden, der Zoë heißt?«, fragte sie leise.
»Zoë?«
Die Schwester sah sie an, als hätte sie etwas Unanständiges gesagt.
»Er hat zuletzt ein Wort geflüstert, das wie >Zoë< klang.«
»Hier heißt niemand Zoë.«
Pia nickte und trat ans Fenster. Unter ihr lag der erleuchtete Parkplatz. Kaltes weißes Licht. Sie machte die Augen zu und fuhr sich mit beiden Händen durch ihre krausen roten Haare. Rotlöckchen hatte er sie genannt, als sie klein war. Mein Rotlöckchen.
»Es tut mir leid«, sagte die Schwester. »Das Ganze muss ein schwerer Schock für Sie sein.«
Pia nickte wieder und hoffte, sie würde jetzt gehen.
»Soll ich die Sachen Ihres Vaters .«
»Danke. Das mache ich selbst.«
Endlich war sie draußen. Pia betrachtete ihren Vater, wie er dalag mit diesem zusammengefalteten weißen Tuch um den Kopf, dessen lange Zipfel ihm etwas Häschenhaftes verliehen. Er ist tot. Er ist tot. Er ist tot, dröhnte es in ihrem Kopf. Aber sie begriff es nicht. Noch vor zwei Tagen hatte sie abends bei ihm in der Küche gesessen und ihm beim Kochen zugesehen. Er hatte eine Flasche Sekt aufgemacht, und sie hatten darauf angestoßen, dass die Redaktion ihr den Job als Auslandskorrespondentin angeboten hatte. Wie konnte es sein, dass sie nie wieder dort sitzen und ihm zusehen würde? Nie wieder mit ihm anstoßen, nie wieder mit ihm reden würde? Sie, die immer so viel miteinander geredet hatten. Über alles. Oder fast alles.
Zoë . In ihrem Leben hatte es nur eine Zoë gegeben, und das war lange her, so lange, dass sie sich nicht mal mehr an ihr Gesicht erinnern konnte. Warm und weich war sie gewesen, ihre Zoë. Und gerochen hatte sie nach Zimt und Vanille.
Ihr Vater hatte nie über sie gesprochen, und auch ihre Mutter hatte bis zu ihrem Tod nie den Namen Zoë erwähnt. Das war insofern nichts Besonderes, als bei ihnen zu Hause grundsätzlich nicht über Südafrika gesprochen wurde. Ihre Eltern hatten die sechs Jahre, die sie dort verbracht hatten, aus ihrem Leben gestrichen. Als Pia ihren ersten Ausweis bekam und wissen wollte, wieso da als Geburtsort nicht Hamburg stand, hatte ihre Mutter gemurmelt, dass Vater eben damals in Kapstadt gearbeitet habe. Pia hatte sich dieses Schweigen nur so erklären können, dass sich ihre Eltern insgeheim dafür schämten, jahrelang ein luxuriöses Leben in einem Apartheidstaat geführt zu haben. Ihr selbst ging es ja auch nicht anders. Sie hatte es immer peinlich gefunden, in Kapstadt geboren zu sein, obwohl sie nun wirklich nichts dafür konnte. Bis auf Britta wusste es niemand. Selbst vor Klaus hatte sie es all die Jahre verbergen können.
Pias Blick fiel auf die zusammengepressten Lippen ihres Vaters. Hatte er Schmerzen gehabt? Hatte er geahnt, dass er nicht mehr lange leben würde? Plötzlich musste sie an den Elbspaziergang denken, den sie vor ein paar Wochen mit ihm gemacht hatte. Da hatte er über Südafrika gesprochen, das erste und einzige Mal in ihrem Leben.
Es war ein kalter, stürmischer Tag gewesen. Sie hatte ihn abgeholt, wie an jedem Sonntag, und vorgeschlagen, ins Kino zu gehen oder irgendwo Tee zu trinken. Aber ihr Vater wollte an die Elbe.
Schon auf der Fahrt nach Teufelsbrück hatte Pia das Gefühl, dass ihn etwas beschäftigte. Er blickte starr geradeaus, hörte ihr nicht richtig zu und gab nur einsilbige Antworten.
Nachdem sie eine Weile schweigend nebeneinander hergelaufen waren, fing er auf einmal an, über die Wahrheitskommission zu sprechen, die demnächst ihre Arbeit aufnehmen würde. Er habe die Berichte über die Vorbereitungen genauestens verfolgt und sei sehr skeptisch, ob die Weißen in Südafrika wirklich wissen wollten, was in ihrem Staat all die Jahre passiert sei. Pia war so überrascht, dass sie zunächst nicht wusste, was sie sagen sollte.
»Weißt du, wovon ich rede?«
»Natürlich weiß ich das.«
»Und was sagst du dazu?«
»Dass du wahrscheinlich recht hast, aber .«
»Aber was?«
»Ich denke, für die Schwarzen ist die Reaktion der Weißen nicht das Vorrangige.«
»Sondern?«
»Dass sie die Wahrheit erfahren über die Morde an ihren Männern und Frauen und Kindern.«
Er nickte und schwieg dann wieder. Der Wind blies jetzt so stark, dass Pia Mühe hatte, mit ihrem Vater Schritt zu halten. Dabei war sie wesentlich durchtrainierter und sogar ein Stück größer als er. Mit leicht gebeugtem Oberkörper hastete er vorwärts, ohne nach rechts oder links zu blicken, und Pia hatte plötzlich das Bild eines gehetzten Tieres vor Augen.
»Ich wusste nicht, dass du dich für südafrikanische Politik interessierst«, sagte sie schließlich.
»Nun weißt du es.«
»Und warum haben wir bisher nie darüber gesprochen?«
Er seufzte und strich ihr mit der Hand leicht über ihre roten Locken, wie er es früher schon immer getan hatte, wenn sie quengelte, weil sie irgendetwas haben wollte. Spätestens dann war ihr klar, dass sie es nicht bekommen würde.
Sie hatte die Geste respektiert und nicht weitergefragt. Hätte sie weiterfragen sollen? Hatte er dieses Gespräch über die Wahrheitskommission überhaupt nur deshalb begonnen, damit sie weiterfragte? Hatte er ihr womöglich bei jenem Spaziergang von Zoë erzählen wollen?
Sie wünschte, sie könnte weinen, aber ihre Augen waren trocken, so trocken, dass es beinahe weh tat.
Es war ein sonniger Tag, der 19. April 1996, an dem ihr Vater beerdigt wurde. Auf dem Ohlsdorfer Friedhof blühten die Osterglocken, und in der Kapelle roch es nach Veilchen. Pia merkte erst nach einer Weile, dass der Duft nicht vom Blumenschmuck, sondern vom Parfum irgendeines Trauergastes herrührte. Nur die ersten Reihen waren besetzt; ihr Vater hatte sich nie darum bemüht, Freundschaften zu schließen.
Am Abend zuvor hätte sie beinahe Klaus angerufen, um ihn zu bitten, heute hier neben ihr zu sitzen. Aber jetzt war sie froh, dass sie das nicht getan hatte, weil es sie doch nur in neue Abgründe gestürzt hätte.
Wen sie vermisste, war Britta, die natürlich gekommen wäre, wenn sie nicht an diesem Wochenende zu der Historikertagung nach New York gemusst hätte, um dort einen Vortrag zu halten.
»Dass der Golfclub niemanden geschickt hat, verstehe ich nicht«, sagte Tante Hilde, die Schwester ihres Vaters, und zupfte ihren Schleier zurecht.
Dann ertönte ein Präludium von Bach.
Die Ansprache des Pfarrers war so allgemein, dass er sie für unzählige andere Tote hätte halten können. Dennoch lobte später Tante Hilde mit tränenerstickter Stimme die passenden Worte des Herrn Pfarrer.
Pia hatte ein Café mit Elbblick gewählt, in dem etwa zwanzig Trauergäste mit Streuselkuchen und wahlweise Tee oder Kaffee bewirtet wurden. Die Herren in dunklen Anzügen sprachen über Bilanzen und verabschiedeten sich nach einer knappen Dreiviertelstunde. Kurz darauf gingen auch die zwei Männer aus dem Segelverein.
»Ich hätte nichts gegen einen Cognac einzuwenden«, verkündete Tante Hilde.
Nach dem zweiten Cognac fing Tante Hilde an zu erzählen. Was für ein fröhliches Kind er gewesen sei, der Dieter. Er habe immer nur Schabernack im Kopf gehabt.
»Und wann hat das aufgehört?«
»Na, wann wohl? Als er deine Mutter geheiratet hat. Die hatte zwar Geld, aber .« Tante Hilde schnalzte mit der Zunge. »Diese Kälte! Das war ja nicht zum Aushalten!«
»Hat er dir gegenüber jemals den Namen Zoë erwähnt?«
Tante Hilde stutzte. »Zoë? Was ist das denn für ein Name?«
»Ein englischer.«
»Kenn ich nicht. Soll das ein Frauenname sein?«
Pia nickte.
»Der hat nie eine andere Frau gehabt, das kannst du mir glauben. Dabei habe ich's ihm immer gewünscht, dass er mal mit jemandem richtig glücklich wird, vor allem nachdem deine Mutter gestorben war.«
»Ihr Tod ist ihm sehr nahegegangen.«
»Dass er sich nicht befreit gefühlt hat, nach all den Jahren .«
»Er hat sie geliebt.«
»Das mag ja sein. Aber sie . sie hat ihn nicht geliebt. Die konnte gar nicht lieben.«
Am Tag nach der Beerdigung fuhr Pia zum Haus ihres Vaters. Sie war...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.