Schweitzer Fachinformationen
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Das Klingeln des Weckers reißt mich aus dem Schlaf. Zehn vor vier. Peter rührt sich nicht. Ich wünschte, ich hätte Herbstferien wie er und die Kinder und könnte mich auf die Seite drehen und weiterschlafen. Stattdessen werde ich jetzt aufstehen und mich vor dem Frühstück drei oder vier Stunden lang auf meine Übersetzung konzentrieren. Nachher wollen wir mit den Kindern einen Ausflug machen. Wir haben es ihnen versprochen.
Ich klettere die Leiter vom Hochbett herunter, ziehe meinen Fleecepulli und Wollsocken an und öffne leise die Tür. Auf Zehenspitzen gehe ich durch den dunklen Flur in die Küche. Ohne einen Kaffee brauche ich gar nicht erst anzufangen. Ich mache mir einen doppelten Espresso und esse eins der Nussplätzchen, die Marie und ich gestern Abend gebacken haben.
Auf dem Weg zurück ins Schlafzimmer stoße ich mit dem Fuß gegen einen harten Gegenstand. Er rollt über die Dielen und prallt gegen die Fußleiste. Wieder mal ein Spielzeugauto von Paul. Ich lausche. Aus den Zimmern ist kein Mucks zu hören. Meine Familie hat einen festen Schlaf.
Peter stört es auch nicht, wenn ich unter dem Hochbett meine Schreibtischlampe anknipse, den Laptop aufklappe und anfange zu tippen. Es war seine Idee, hier zwei Arbeitsplätze für uns einzurichten, statt nach einer größeren Wohnung zu suchen, für die wir die Miete sowieso nicht bezahlen könnten. Peter weiß immer einen Ausweg.
Bis zum Sonnenaufgang gelingt es mir, an nichts anderes zu denken als an meine Übersetzung. Seit drei Monaten arbeite ich an dem Text und komme viel langsamer voran als geplant. Der Roman ist sprachlich anspruchsvoll, aber ich mag solche Herausforderungen. In Frankreich war das Buch ein Bestseller.
Mein Blick fällt auf das Bild von Franz Marc, das über meinem Schreibtisch hängt. Der Turm der blauen Pferde. Wie immer, wenn ich diese vier blauen Pferde vor dem leuchtend gelb-orange-roten Hintergrund betrachte, breitet sich Zuversicht in mir aus. Opa hat mir den gerahmten Druck zu meinem zwölften Geburtstag geschenkt. Und seitdem hat er mich überallhin begleitet.
Gleich Viertel vor acht. Ich höre Peters gleichmäßige Atemzüge, und auch die Kinder scheinen noch zu schlafen. Oder sie spielen friedlich in ihrem Zimmer, was allerdings ungewöhnlich wäre.
Ich habe gerade mit einem neuen Abschnitt begonnen, als es im Flur rumort.
Im nächsten Augenblick wird die Schlafzimmertür aufgerissen. »Mama, Papa, Fridolin ist ausgebüxt!«
Vor mir steht Marie im Nachthemd und weint.
»Oje.« Ich nehme sie in die Arme und lasse meine Finger durch ihre wuscheligen, hellblonden Haare gleiten. »Der wird schon wiederauftauchen.«
»Was ist denn los?«, brummt Peter schlaftrunken von oben.
»Paul hat wahrscheinlich die Käfigtür nicht richtig zugemacht«, schluchzt Marie.
»Hab ich wohl!«, ruft Paul und kommt ins Zimmer gerannt. »Immer bin ich schuld.«
»Kleine Brüder haben es schwer«, murmelt Peter.
»Große Schwestern haben es noch viel schwerer«, protestiert Marie und wischt sich die Tränen ab.
»Wollen wir drei ein Willi-Wiberg-Buch lesen, und Mama sucht den Hamster?«
»Jaaa!«
»Nur weil ich ihn die letzten drei Male gefunden habe, heißt das noch lange nicht, dass ich .«
»Doch!«, rufen die Kinder und klettern hinauf zu Peter ins Bett.
»Na gut.« Ich klappe den Laptop zu.
»Wo habe ich denn bloß meine Brille?«, höre ich Peter sagen.
»Sie ist hier, im Regal«, antwortet Marie.
»Tatsächlich.« Dann fängt er an vorzulesen.
Wenn es um den erfinderischen Willi Wiberg und seinen zerstreuten Vater geht, vergessen Marie und Paul jeden Streit.
Als Erstes gehe ich ins Kinderzimmer, aber dieses Mal hat Fridolin sich nicht unter dem Kleiderschrank versteckt. Und auch nicht hinter der Heizung oder in der Kiste mit den Legosteinen. Im Flur kommt nur das Regal mit den Schuhen infrage. Ich fasse in jeden einzelnen kleinen und großen Schuh, ohne Erfolg. Aus dem Schlafzimmer ertönen Peters ruhige Stimme und dazwischen das Lachen der Kinder. Wo kann dieser Hamster bloß sein? Seit zwei Monaten lebt er bei uns und hält uns auf Trab. Noch nie hat Marie sich so über ein Geschenk gefreut. »Den habe ich von meiner Patentante Zofia zu meinem achten Geburtstag bekommen«, verkündet sie jedem, der Fridolin noch nicht kennt. Wir hatten alle keine Ahnung, wie viel Arbeit so ein winziges Haustier macht. Endlich entdecke ich ihn: Er sitzt im Badezimmer hinter der Waschmaschine und zittert. Als ich die Hand nach ihm ausstrecke, rutscht er ein Stück weiter in die Ecke. Nein, so werde ich ihn nicht erwischen.
Von meiner letzten Suche habe ich in unserer Abstellkammer noch ein Papprohr, das an einer Seite geschlossen ist. Ich hole eine Möhre aus der Küche, lege das Rohr mit der Möhre darin vor die Waschmaschine und ziehe die Tür hinter mir zu.
»Ich habe Fridolin gefunden!«, rufe ich den dreien auf dem Hochbett zu.
Marie strahlt. »Toll, Mama. Wo ist er?«
»Im Badezimmer. Ihr dürft jetzt nicht reingehen. Vielleicht lässt er sich mit einer Möhre ködern, und wir können ihn nachher in seinen Käfig zurücktragen.«
»Und was ist, wenn ich mal muss?«, fragt Paul.
»Dann finden wir auch eine Lösung«, antwortet Peter.
»Aber wehe, du piescherst wieder in meinen Puppenwagen«, droht Marie.
»Das habe ich noch nie gemacht!«
»Doch. Als du klein warst.«
»Du bist gemein!«
»Ist ja gut, ihr zwei. Wollt ihr hören, wie Willi Wiberg morgens trödelt und seinen Vater damit zur Verzweiflung bringt?«
Im Flur fällt mein Blick in den Spiegel. Blass bin ich, und unter den Augen habe ich dunkle Schatten. Zu wenig Sport, zu wenig Schlaf, denke ich, während ich meine dünnen, blonden Schnittlauchhaare zu einem Pferdeschwanz binde und wie immer froh und dankbar bin, dass die Kinder Peters Locken geerbt haben. Ich atme tief durch und beschließe, den Frühstückstisch zu decken.
Ein paar Minuten später klingelt das Telefon. Auf dem Display sehe ich die Nummer des Pflegeheims. Ich schlucke. Ist wieder was mit Mama passiert?
»Tiedtke.«
»Guten Morgen, Carola Bruns hier. Frau Tiedtke, Ihre Mutter ist heute Nacht im Heim herumgeirrt. Einer der Pfleger hat sie zusammengekauert im Flur gefunden, sie war völlig unterkühlt.«
»Ach, du meine Güte. Hoffentlich bekommt sie nicht wieder eine Blasenentzündung. Wie geht es ihr jetzt?«
»Sie ist ziemlich durcheinander.«
Ich sinke auf den Küchenstuhl.
»Das war der dritte Zwischenfall in zehn Tagen.«
»Ja.«
»Dabei habe ich nicht mitgezählt, wie oft sie andere Patienten belästigt, wenn sie in ihre Zimmer geht und sie anpöbelt.«
Meine Mutter, die auf Höflichkeit immer so viel Wert gelegt hat.
»Aufgrund ihrer fortgeschrittenen Demenzerkrankung müssen wir dringend eine Höherstufung des Pflegegrads beantragen. Wäre es möglich, dass Sie heute zu einem Gespräch vorbeikommen?«
»Ja, natürlich.«
»Um elf?«
Ich denke an den Ausflug mit den Kindern. »Passt es Ihnen auch am Nachmittag?«
»Ja. Um vier?«
»Das schaffe ich. Danke.«
»Bis nachher.«
Mein Mund ist ganz trocken. Ich schenke mir ein Glas Wasser ein und trinke es in einem Zug aus. Geht es Frau Bruns wirklich nur um den Antrag für einen höheren Pflegegrad? Oder darum, dass das Heim mit Mamas Betreuung überfordert ist? Dann müsste ich eine neue Bleibe für sie suchen.
Manchmal kann und will ich es nicht begreifen, dass sie so krank ist. Bis vor sechs Jahren hat sie noch mit Leidenschaft ihre Buchhandlung geführt, Französisch gelernt und Salsa getanzt. Dann begannen auf einmal die Probleme: Sie fand den kurzen Weg vom Geschäft nach Hause nicht mehr, obwohl sie ihr Leben lang in Eimsbüttel gewohnt hat. Und immer häufiger fehlten ihr die Worte, ausgerechnet ihr, die so redegewandt gewesen war. Irgendwann haben Marie und ich sie besucht, sie begrüßte uns, und zehn Minuten später begrüßte sie uns noch einmal, so als seien wir gerade erst angekommen. Spätestens da wusste ich, dass wir etwas unternehmen mussten.
»Wir haben ihn! Wir haben ihn!«, höre ich Marie im Flur rufen. »Und jetzt trägt Papa ihn in den Käfig zurück.«
»Super!« So haben wir wenigstens ein Problem gelöst, und das Badezimmer ist auch wieder frei.
Als Nächstes stürmen die Kinder in die Küche. »Hunger! Hunger! Hunger!«
Ich stelle die Müslischälchen auf den Tisch, hole die Milch aus dem Kühlschrank und schneide einen Apfel in kleine Stücke.
Peter streicht sich über den Bart. »Ist irgendwas?«, fragt er und sieht mich besorgt an.
»Ich muss heute Nachmittag zu einer Besprechung ins Pflegeheim.«
»Hat Oma Ursel wieder was angestellt?« Marie fängt an zu kichern.
»Das ist leider gar nicht lustig. Oma Ursel ist krank.«
Paul runzelt die Stirn. »Warum ist sie krank?«
»Das wüsste ich auch gern«, murmele ich.
Marie zuckt mit den Achseln. »Sie ist eben alt.«
»Einundsiebzig ist nicht so alt.«
»Doch, uralt.«
Peter lächelt mir aufmunternd zu. »Kaffee?«
Ich nicke. Mal sehen, was der Tag noch an Überraschungen bereithält. Zum Glück habe ich heute Morgen schon mein halbes Pensum geschafft.
»Wie gut, dass wir Fridolin wiedergefunden haben. Sonst denkt Tante Zofia noch, dass ich nicht gut auf ihn aufpasse.«
»Nein, das würde sie nicht. Ich habe ihr erzählt, wie schnell so ein Hamster ausbüxen kann.«
»Kommt sie bald nach Hamburg zurück?«
»Ja, ihre Tournee ist nächste Woche zu Ende.«
»Freust du dich?«
»Und wie.«
»Ich auch. Wart ihr immer beste...
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