Schweitzer Fachinformationen
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Die Welle erwischte Hardy im Gesicht. Er hatte sie kommen sehen, doch an Ausweichen war nicht zu denken gewesen. Die Wucht, mit der sie anbrandete, hätte ihn fast umgeworfen.
Das brachte ihn zur Besinnung. Wasser aus den Augen wischend, machte er kehrt und watete durch die brusthohen Fluten zurück zum Strand, der sich, ein lichter Streifen an diesem grauen Tag, nach Süden ausrollte und im Norden vor einer Anhöhe auslief, in der sich Bunker verbargen. Nun prallten die Wellen gegen seinen Rücken, bei jedem Schritt kämpfte er gegen den Wasserwiderstand, baumstammschwer waren seine Beine, die Extremitäten Eiszapfen, er kam sich vor wie Scott in der Antarktis.
Gelegentlich lugte die Sonne durch die Wolken, wirkte aber so ermattet, als hätte sie im letzten Dürresommer ihre Energie komplett verbraucht und wollte nur noch ruhen. Hardy hingegen musste all seine Kraft aktivieren, um an Land zu gelangen. Dort lag Brahma im Sand und ließ Sabber auf Parka und Stiefel triefen, das Einzige, was Hardy ausgezogen hatte, bevor er, einer irrwitzigen Anwandlung gehorchend, ins Meer gewatet war. Der Utah Beach, das sah er mit flimmerndem Blick, war wie leergefegt. Von Osten näherte sich ein Jogger, nein, eine Joggerin, und auf den Dünen vor dem D-Day-Museum betrachtete jemand das Meer, sah vermutlich zu, wie Hardy sich an den Strand schleppte.
Er hatte kniehohes Wasser erreicht, da spürte er einen Schmerz im linken Fuß. Auf einem Bein balancierend, ertastete er eine dünne Kette, die sich am großen Zeh verfangen hatte, und sah, nachdem er sie zur Hand genommen hatte, dass ein ovales, verdrecktes Metallplättchen daran hing. Eine Halskette, dachte er, und dann: Wann wurde ich zuletzt gegen Tetanus geimpft? Er humpelte weiter, hinterrücks angefallen von der Brandung, und dann, er war endlich auf dem Trockenen angelangt, lief die Joggerin an ihm vorbei, EarPods in den Ohren, ein Smartphone auf dem Oberarm. Sie sah über die Schulter, schien stoppen zu wollen, doch Hardy winkte ab und ließ sich neben Brahma in den Sand sacken. Während er der jungen Frau hinterhersah, die ihn an seine Tochter Lou erinnerte, beruhigte sich sein Atem. Er streifte den Parka über.
Der Schnitt im Ballen, verursacht durch das Metallplättchen, blutete nur leicht. Hardy wollte den Fuß mit beiden Händen zum Mund führen, um die Wunde auszusaugen, aber auf halbem Weg war Feierabend, er war schon mal gelenkiger gewesen. Brahma hob den Kopf und sah ihn aus dunkeltrüben Augen hechelnd an.
»Tja, alter Bursche«, sagte Hardy und kraulte den Schädel des alten Rüden, »besser wird's nicht.« Er steckte die Kette ein, zog die Stiefel an und schlotterte, gefolgt von Brahma, über den Strand. Hinter dem Durchgang in den fahnenflatternden Dünen passierte er das Landungsboot, den Trupp zu Bronze erstarrter Soldaten, das Restaurant mit Souvenirshop, genau wie die großen Parkplätze beinahe leer. Hardy zog Hose und Pullover aus, warf beides in den Kofferraum seines Duster und schlüpfte wieder in den Parka. Anschließend half er dem Retriever auf die Rückbank und setzte sich ans Steuer. Von seinem Parkplatz aus sah er den Obelisken vor dem Musée du Débarquement und den Sherman Tank, ein Denkmal, wie es in dieser Region oft zu finden war. Die Erinnerung an den Krieg war omnipräsent, jeder noch so kleine Ort feierte jährlich den Tag seiner Befreiung. Obwohl man ihm niemals unfreundlich begegnet war, hatte ihn dies anfangs in Verlegenheit gestürzt, immerhin war sein Herkunftsland Aggressor und Besatzungsmacht gewesen.
Er wollte gerade zurücksetzen, da erblickte er die Person, die auf den Dünen gestanden hatte: ein alter Herr mit langem, graugrünem Mantel und Baskenmütze, der sich auf einen Stock stützte.
»Nicht schlecht«, sagte Hardy über die Schulter zu Brahma, »einen solchen Stock hole ich mir später auch.« Die Scheiben begannen zu beschlagen, also drehte er das Gebläse auf, rumpelte vom Parkplatz und bog im rond-point nach Sainte-Marie-du-Mont ab.
Bei Carentan ging die von schilfigen Gräben durchzogene und mit Gehölzen gesprenkelte Küstenlandschaft in das Marais über, ein flussreiches Feuchtgebiet, im Sommer grüner Weidegrund, im Winter dagegen großflächig überflutet. Dann rollte man auf Dammstraßen durch weite Seen, aus denen Bäume, Büsche und die Spitzen von Zaunpfählen ragten. Hardy blieb auf der Landstraße, er wollte möglichst rasch nach Hause, um die Kleidung zu wechseln und den Fuß zu verarzten, und bog schließlich auf eine kleinere Straße ab, die sich, gesäumt von Böschungen und Hecken, durch die Hügel nach Westen schlängelte. Er verzichtete auf einen Schlenker über Saint-Lazare-sur-Terrette und fuhr direkt zu seinem Haus am Rand von Le Mesnil-Solune. Seit jeher winzig, war der Weiler zunehmend geisterhaft: keine Läden, keine Jobs, keine Zukunft. Ohne Auto war man verloren, selbst gebrechliche Alte setzten sich ans Steuer und tuckerten nach Saint-Lazare, das Landstädtchen, in dem neben Boulangerie, Huit-à-huit, Friseur und Bar-Tabac auch Aîné ihren Blumenladen hatte. Wagemutige fuhren ebenso nach Saint-Lô wie jene Verzweifelten, die einen Arzt aufsuchen mussten.
Die Reifen knirschten auf den Hof, Hardy stellte den Motor aus. Er scheuchte Brahma ins Haus, wo dieser sofort zu Boden sackte, und zog sich oben im Schlafzimmer um. Als er im Ofen des angrenzenden Ateliers Holz nachlegte, fiel ihm die Kette ein. Sie steckte noch unten im Parka, er würde sie abends untersuchen.
Am Zeichentisch sitzend, betrachtete er die in Arbeit befindliche Seite des elften Bandes seiner Serie Les Guerriers de Grottombé. Als er niesen musste, hätte er um ein Haar Schnodder auf die Zeichnungen geblasen, eine reflexartige Bewegung rettete sein Werk. Dann schenkte er sich kalten Tee ein und griff zum Pinsel. Ein Strich, ein Strich und noch ein Strich, so sah sein Leben aus. Es gab Momente, da hätte er gern mit Brahma getauscht.
*
Die Glocke klang dumpfer als gewöhnlich, oder waren das ihre Ohren? Als Ainé den eintretenden Kunden erkannte, gefror das Lächeln, das sie auf ihre Lippen gezaubert hatte. Sie legte die Gerbera neben das halb fertige Gesteck, eine Bestellung von Madame Curieux, die oft bei ihr kaufte, um das Grab ihres Gatten zu schmücken, eines Mannes mit bärbeißigen Zügen, wie das Bild auf dem Grabstein verriet. Aîné hatte es studiert, weil die Einundachtzigjährige bei jeder Gelegenheit von ihm schwärmte, seine Güte pries, seine Treue lobte - wer's glaubte, wurde selig. Im Alter, so ihre Beobachtung, verbiesterten viele; einige seltene Exemplare hingegen redeten sich ihr Leben so rosarot, als wären sie jahrzehntelang über Zuckerwatte gewandelt.
Der Kunde war ein alter Bekannter, Vincent Parbleu. »Salut, meine Hübsche. Du wirst es nicht fassen, ich brauche einen Blumenstrauß«, verkündete er.
Wie immer zu leutselig, dachte Aîné. »Ach ja?«, fragte sie. »Schon wieder eine Neue?«
Vincent lachte. Würde er nur ein Mal, ein einziges Mal erröten, doch er war zu sehr von sich eingenommen. Bizarr auch, dass er zwar eine Bassstimme hatte, aber wie ein stimmbrüchiger Teenager lachte. Nein, nein, sie hörte wie eine Luchsin, es war die Türglocke, die den Defekt hatte.
»Irgendwas Schönes, Buntes, Duftendes, du weißt ja, was das Herz einer Frau erfreut.«
Aînés Laden hatte zwei Ebenen. Unten befand sich die Verkaufsfläche mit Tresen, Kasse und buntem Allerlei, oben standen die Schnittblumen, und dort kappte, schnitt und steckte sie auf einem hohen, schmalen Holztisch. Die Treppe hinuntergehend, musterte sie Vincent und stellte fest, dass die Jahre Spuren hinterlassen hatten: Der Vollbart graumeliert, das Haupthaar auf der Flucht, dazu ein Bauch, was sie nicht weiter verwunderte, er war nie ein Kostverächter gewesen. Nur seine Klamotten waren unverändert, er trug wie üblich eine Jeans, ausgelatschte Lederschuhe und eine cognacfarbige Lederjacke über einem Pullover aus - Aîné sah genauer hin - Kaschmirwolle. Sie zeigte auf die Vasen, die unten neben den Stufen standen.
»Nimm doch einen der fertigen.«
»Meinst du, die gefallen ihr?«
»Kenne ich sie?« Aîné ging die Stufen hinab. »Wehe, du hast dich an einer meiner Freundinnen vergriffen.«
Vincent sah sie über die Brille hinweg an. »Hm . Vielleicht der da?« Er zeigte auf einen Strauß.
»Eroberung gelungen? Wenn nicht, solltest du spendabler sein.« Sein Zaudern hieß, er war noch nicht am Ziel, nur würde er das niemals zugeben, er saß in der Zwickmühle, und tatsächlich: Er sah weg und kaschierte seine Verlegenheit durch ein ebenso typisches wie unnachahmliches Herabziehen der Mundwinkel, ein Räuspern. Sie sah ihm in die Augen, kostete den Moment aus.
»Üppig ist nie verkehrt«, erwiderte er schließlich, indem er sie ansah.
Alter Chauvi, dachte sie, du hinkst der Zeit hinterher. Sie sah durchs Schaufenster auf den schmalen Platz vor ihrem Laden. Abends wartete dort ein Pizzawagen auf Kundschaft, hinter kahlen Bäumen war das Seniorenheim zu sehen zwischen der Kirche und der Charcuterie des Ehepaars Hochet, freundlichen, wenn auch stockkonservativen Leuten. Aus grauen Wolken nieselte Nässe, die Schieferdächer dunkelten ein.
»Los, Vincent, such dir was aus.« Sie trat hinter den Tresen.
Er bückte sich nach dem größten Strauß. »Du hattest mal mehr Humor, Aîné.«
Sie schaufelte eine Handvoll Luft über ihre Schulter - »Pff« - und entgegnete: »Ich hatte auch mal intelligentere...
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