Schweitzer Fachinformationen
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Ich steige aus dem Bus, es flimmert vor meinen Augen. Feuchte, glühende Luft nimmt mir den Atem. Kein Windhauch, nur Autoabgase.
Beim Überqueren der Straße bleibe ich mit dem Absatz im weichen Asphalt stecken. Ein Motorino fährt hupend auf mich zu, quietschende Bremsen, die Fahrerin flucht. Mein Kleid klebt am Körper. Warum fährst du nicht mit deinem Wagen?, würde Francesco jetzt sagen.
In den Nachrichten war von Hitzealarm die Rede. Die ersten Toten, nicht nur im Süden, nicht nur alte Menschen. Abends um halb sieben noch neununddreißig Grad im Schatten. Ich erinnere mich nicht, dass es in Rom Ende August jemals so heiß gewesen wäre.
Unter der Markise eines Cafés bleibe ich stehen und wische mir den Schweiß von der Stirn. Meine Wasserflasche ist leer. Ich könnte mir ein Lemonsoda bestellen. Oder ein Tonic Water. Der Kellner nickt mir zu und deutet auf einen Tisch. Nein. Die letzten zweihundert Meter schaffe ich auch ohne Getränk.
Im Eingang unseres Nachbarhauses sehe ich einen rotbraunen Vogel mit einem krummen Schnabel sitzen. Stimmt etwas mit mir nicht? Ich mache einen Schritt auf ihn zu. Es ist keine Fata Morgana, da sitzt tatsächlich ein kleiner Greifvogel. Er rührt sich nicht, schaut mich nur ängstlich an. Dunkle Tupfen überziehen sein Gefieder. Ein Turmfalke. Ist er verletzt? Ist er aus dem Nest gefallen? Seit siebzehn Jahren lebe ich in der Via della Stazione di San Pietro und habe hier noch nie einen Turmfalken gesehen. Ich schließe die Haustür auf. In dem Moment breitet er seine Schwingen aus und fliegt davon.
Erleichtert trete ich ein. Im Treppenhaus ist es kühl. Ich nehme meine Sonnenbrille ab und hole die Post aus dem Briefkasten. Drei Rechnungen, Werbung und eine Karte von Francescos Vater aus Sardinien.
Von oben höre ich ein Baby weinen. Die Fahrstuhltüren klappern. Ich lehne mich gegen die Marmorwand. Heute habe ich nicht die Kraft, in den fünften Stock zu laufen. Der Druck im Kopf lässt allmählich nach. Gleich werde ich einen Eistee mit Minze trinken, duschen und mich ein paar Minuten hinlegen. Francesco kommt nicht vor acht.
»Hallo.«
Ich zucke zusammen. Vor mir steht die kleine Isabella aus der Wohnung unter uns. Sie trägt ein hellgelbes Kleid und passende Haarspangen.
»Bist du krank?«
»Nein, mir macht nur die Hitze zu schaffen.«
»Wir waren schwimmen. Und jetzt fahren wir zu meiner Omi.«
»Vielleicht hätte ich auch schwimmen gehen sollen, aber ich musste arbeiten.«
»In der Kirche?«
»Ja.«
»Kirchen sind schön kalt.«
»Da hast du recht.«
Der Fahrstuhl hält, Isabellas Mutter steigt aus, mit dem Baby im Tragesitz. Wir wechseln ein paar Worte über das Wetter, den Stromausfall heute Morgen und den drohenden Streik der Müllabfuhr.
Sie sieht müde aus, denke ich auf der Fahrt nach oben. Mit Ende dreißig noch ein Kind. Wie würde ich . Nein. Nein. Immer derselbe Gedanke.
Das Ziehen im Bauch. Es ist nicht nur die Hitze. Wieder ein vergebliches Hoffen.
In der Wohnung ist es dunkel, die Klimaanlage läuft. Ich öffne die Fensterläden, der Marmorfußboden glänzt im Sonnenlicht. Auf dem Wohnzimmertisch steht ein frischer Strauß roter Dahlien.
Paola hat geputzt, gebügelt, eingekauft und einen Nudelsalat vorbereitet. Pasta fresca, mit getrockneten Tomaten, Basilikum, Büffelmozzarella und schwarzen Oliven. Genau das Richtige für einen heißen Tag wie heute. Zum Nachtisch gibt es Zitronensorbet.
Ich schenke mir ein Glas Eistee ein, die Minze beruhigt.
Im Badezimmer duftet es nach der neuen Seife, Zimt mit Orange. Ich dusche, wasche mir die Haare und creme mich ein. Meine Haut im Gesicht und im Nacken ist gerötet. Immer wieder vergesse ich, dass ich einen Hut tragen sollte.
Ich ziehe eine ärmellose, weiße Bluse an, dazu die sandfarbene Hose, die ich mir letzte Woche gekauft habe. Sie sitzt etwas locker. Ich muss aufpassen, dass ich nicht weiter abnehme.
Paola hat die Betten frisch bezogen. Ich lege mich hin und schließe die Augen. In der Ferne höre ich ein Martinshorn. Das leise Brummen der Klimaanlage lullt mich ein.
Es klingelt. Ich schrecke hoch. Das Telefon. Kurz vor acht. Francesco meldet sich immer übers telefonino.
Ich schaue auf das Display. Eine Hamburger Nummer. Meine Kehle schnürt sich zu. Niemand in Hamburg weiß, dass ich hier lebe. Ich werde nicht abnehmen. Der Anrufbeantworter ist eingeschaltet.
Kurz bevor er anspringt, greift meine Hand zum Hörer. »Pronto?«
»Judith, bist du's?«
»Wer ist da?«
»Claudia Dressler.«
»Ach .«
»Bitte leg nicht auf.«
Ich sehe meine pausbackige Jugendfreundin vor mir. Zehn Jahre lang haben wir nebeneinander gesessen, alle Geheimnisse miteinander geteilt. Aber als es darauf ankam, hat sie mich im Stich gelassen.
»Bist du noch da?«
»Wie hast du meine Nummer rausgefunden?«
»Ich arbeite in einer Galerie und habe neulich in einem Magazin einen Artikel über restaurierte Fresken der italienischen Renaissance gelesen.«
Das Interview. Ich habe von Anfang an gewusst, dass es ein Fehler war.
»Darin wurde erwähnt, dass man dir einen Preis für deine Arbeit verliehen hat.«
»Du kennst nicht mal meinen Nachnamen.«
»Ich habe dich auf dem Foto sofort erkannt. Deine blonden Locken, der helle Teint, die grünen Augen. Und dein verhaltenes Lächeln.«
Ich muss mir nicht anhören, was sie mir sagen will.
»Seltsam, dass du dich Judith Velotti nennst. Ich dachte, in Italien behalten die Frauen ihren Geburtsnamen, wenn sie heiraten.«
»Das geht dich nichts an.«
»Ist er dir so verhasst, der Name >Wolf<?«
Ich schließe die Augen und hole tief Luft.
»Übers Internet habe ich die Mail-Adresse des Verbands der italienischen Restauratoren herausbekommen«, fährt Claudia fort.
»Der ist nicht befugt, meine Privatnummer weiterzugeben.«
»Es war auch nicht so einfach. Ich habe schließlich geschrieben, dass es sich um eine dringende Familienangelegenheit handele. Da hatte die Frau ein Einsehen. Den Italienern geht ja bekanntlich die Familie über alles.«
»Was willst du?«
»Judith, wir waren mal sehr gut befreundet .«
»In einer anderen Welt. Die existiert für mich nicht mehr.«
»Dein Elternhaus in Winterhude macht einen vernachlässigten Eindruck.«
»Das hat nichts mit mir zu tun.«
»Ich dachte nur . vielleicht willst du wissen, wie es um deine Eltern .«
»Nein«, unterbreche ich sie.
»Es ist zwanzig Jahre her.«
»Eben.«
»Warum bist du immer noch so verbittert?«
»Du hast kein Recht, dich in mein Leben zu mischen.«
»Ich habe es nur gut gemeint.«
»Ruf mich nie wieder an.«
»Aber .«
Ich lege auf. Meine Hand zittert.
Seit einer Stunde sitze ich auf der Terrasse und warte. Es weht ein leichter Wind. Ich habe die Pflanzen gegossen und den Tisch gedeckt. Der Jasmin steht in voller Blüte. Sein Geruch hat etwas Betäubendes.
An der Hauswand lauert ein gelb-brauner Gecko auf eine Mücke, eine Motte. Jetzt läuft er weiter, kopfüber, entlang des Dachvorsprungs. Ich erinnere mich an den Abend, als ich zum ersten Mal auf dieser Terrasse saß. Wie sehr es mich überraschte, dass Francesco mir nicht von seiner Kanzlei oder seiner Familie erzählte, sondern von den Lebensgewohnheiten der Geckos. Ich wusste nicht, dass sie Haftlamellen unter ihren Füßen haben. Ich wusste sehr vieles nicht.
Es macht mir nichts aus, dass Francesco sich verspätet. Wäre er pünktlich gewesen, hätte ich womöglich das Telefonat erwähnt.
Warum habe ich den Hörer abgenommen? Es war ein innerer Zwang, ich konnte mich nicht wehren, auch wenn mein Kopf mir sagte, tu es nicht. Die Ansage auf dem AB gibt unseren Namen nicht preis, Claudia hätte eine Nachricht hinterlassen, ich hätte sie gelöscht, wenn nötig ein zweites Mal. Danach hätte Claudia es vermutlich aufgegeben, mich erreichen zu wollen.
Der Gecko schnappt sich einen großen Falter und versucht, ihn zu verschlingen. Er bleibt in seinem Maul stecken, die Flügel flattern. Ich greife nach meinem Wasserglas. Der Gecko lässt sich nicht stören. Erst als ich aufstehe, verschwindet er samt Beute in einer Mauerritze.
Ich trete ans Geländer. Der Petersdom ist hell erleuchtet. Mein Blick wandert über die Stadt bis zu den Albaner Bergen im Süden. Dort funkeln die Lichter der kleinen Dörfer, in denen wir im Herbst den neuen Wein probieren.
Seit zwanzig Jahren vergeht kein Tag, an dem ich nicht an Hamburg denke. Was ist anders als sonst? War es Claudias Stimme? Die Erwähnung meines Elternhauses, meines geliebten Stadtteils Winterhude?
Nein, es war das Wort >vernachlässigt<.
»Judith, tut mir leid!«
Ich drehe mich um.
Francesco nimmt mich in die Arme und gibt mir einen Kuss. »Du hättest schon essen sollen.«
»Ich esse lieber mit dir zusammen.«
Er fährt sich mit den Fingern durch seine dichten, grauen Haare, wie immer, wenn er erschöpft ist.
»In der Kanzlei ist die Hölle los. Es gibt einen großen Konflikt zwischen zwei Partnern .«
»Setz dich erst mal. Ich hole die pasta fresca und einen kühlen Vermentino.«
»Wunderbar.«
Als ich auf die Terrasse zurückkomme, hat Francesco bereits die Windlichter und die Räucherspiralen gegen Mücken angezündet.
Ich schenke uns Wein ein und reiche ihm ein Glas.
»Auf dein Wohl«, sagt er leise.
Ich sehe seinen ernsten Blick.
Wir beginnen zu essen. Nach wenigen Bissen habe ich keinen Hunger mehr. Es ist, als ob sich eine Sperre vor meinen...
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