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Ruth - Berlin
Es ist nasskalt an diesem 14. Januar 1926 in Berlin. Vor den Türen des Nelson-Theaters am Kurfürstendamm drängt sich die Menge. Heute Abend findet hier die Premiere der Revue Nègre statt, mit der schwarzen Tänzerin Josephine Baker. Sie ist der Inbegriff der amerikanischen Unterhaltungswelle, die seit einiger Zeit über den Großen Teich auch nach Deutschland geschwappt ist. Shows und Revuen und vor allem die »Girls« der Tanztruppen sind zum Leitbild der Alltagskultur geworden. Josephine Baker jedenfalls eilt bereits ein sagenhafter Ruf voraus. Den Herbst über ist sie in den Folies Bergère in Paris aufgetreten und hat dort dem verblüfften Publikum neben viel Nacktheit auch einen ganz neuen Tanz präsentiert, den Charleston.
In der ersten Reihe des Nelson-Theaters sitzt an diesem Abend eine junge Frau im Smoking, die mit ihren kurzen schwarzen Haaren wie ein bildhübscher Junge aussieht. Es ist die 22-jährige Ruth Landshoff, die seit einiger Zeit mit dem Impresario der Show, Karl Vollmoeller, liiert ist. Während die Spannung im Saal steigt, nimmt Vollmoeller Ruths Hand und schaut sie voller Stolz an. Er hat Josephine Baker vor zwei Jahren in New York entdeckt und ihr daraufhin die Engagements in Paris und Berlin vermittelt. Als der Vorhang am Ende der Show fällt, ertönt donnernder Applaus. Das Publikum tobt. Auch Ruth hat etwas Vergleichbares in ihrem Leben noch nicht gesehen.
Anschließend fährt sie mit großer Entourage zu der Premierenfeier, die in Vollmoellers Berliner Stadtwohnung am Pariser Platz vis-a-vis vom Brandenburger Tor stattfindet. Die kulturelle Crème de la Crème ist anwesend und feiert die Sensation aus Amerika. Zu vorgerückter Stunde dann legt jemand Platten auf dem Grammofon auf, mit der neuen Musik, die erst seit Kurzem den Sprung über den Atlantik geschafft hat: Jazz. Bei den ersten Takten finden sich Ruth und Josephine wie von selbst. Und tanzen vor aller Augen den neuen Tanz dazu: Charleston. Sie tanzen bis in die frühen Morgenstunden hinein, beklatscht und gefeiert von den faszinierten Premierengästen, die bald selbst anfangen, ein paar Schritte zu probieren.
Als sie im Morgengrauen zwar müde, aber hingerissen nach Hause fahren, begegnen ihnen bereits die Zeitungsjungen mit den Morgenausgaben der Berliner Illustrirten Zeitung und der Morgenpost. Die berichten voller Enthusiasmus über die Show am vergangenen Abend. Und was den Tanz angeht: Das Virus ist längst übergesprungen. Josephine Bakers Auftritt löst in Deutschland eine regelrechte Charleston-Hysterie aus.
Erika - München
Erika Mann muss durchatmen. Zur Ruhe kommen. Und ein bisschen das heillose Liebeschaos sortieren, in dem sie sich gerade befindet. Und das sie - trotz allem - auch genießt.
Denn, ja, sie liebt Klaus über alles. Er ist die große, immer gültige Konstante ihres Lebens. Von klein auf sind die Geschwister - gerade einmal ein Jahr auseinander - auf innigste, ja symbiotische Weise miteinander verbunden. Ohne den anderen und ohne die andere geht nichts. Aber 1923 ist zu dem »Zwillingsgespann«, als das sie sich gerne ausgeben, auch noch Pamela gekommen, die Tochter des berühmten Dramatikers Frank Wedekind. Seine frivolen Bänkellieder kennen die Geschwister auswendig und zitieren sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Die drei Teenager werden bald unzertrennlich. So sehr, dass sich Klaus und Pamela im Sommer 1924 gar verloben. Eine Spielerei? Eine Provokation? Ein Bluff? Sicherlich von allem etwas, denn Klaus lebt zu diesem Zeitpunkt seine Homosexualität bereits offen aus. Und Erika ist ihrerseits leidenschaftlich in Pamela verliebt. Zu dieser pikanten Dreierkonstellation stößt 1925 noch der Schauspieler Gustaf Gründgens hinzu. Damit ist das Kleeblatt der fluiden Geschlechterbeziehungen komplett. Denn Gustaf Gründgens ist zwar ebenfalls homosexuell, bekennt sich aber nicht dazu und umwirbt Erika heftig. Alle sind gegenseitig fasziniert voneinander. Klaus bewundert den Star der Hamburger Kammerspiele, der »vor Talent glitzerte und sprühte, der charmante, einfallsreiche, gefallsüchtige Gustaf«. Umgekehrt ist Gründgens hingerissen von dem fast sieben Jahre jüngeren Mann, nennt ihn den »Schilderer der neuen Jugend«, der vielleicht »berufen ist, ihr Wegweiser zu werden«. Auch Erika ist von dem gut aussehenden Gründgens mit dem »aasigen Lächeln« angezogen.
Gustaf Gründgens ist im Sommer 1925 auf die beiden Geschwister zugegangen und hat ihnen vorgeschlagen, Klaus' erstes Theaterstück Anja und Esther auf die Bühne der Hamburger Kammerspiele zu bringen. Das Drama beschreibt das Lebensgefühl einer »Lost Generation«, ihren Hass auf die Eltern, ihren Überdruss dem Leben gegenüber. Es ist eine Generation, die alle Ideale verloren hat und sich gleichzeitig doch so sehr danach sehnt. Das alles wird verhandelt anhand der Geschichte von vier jungen Menschen und dem komplizierten erotischen Verhältnis, das sie verbindet, wobei die lesbische Liebe der zwei titelgebenden Figuren im Mittelpunkt steht.
Der Clou war, dass die vier Figuren von niemand Geringerem als dem Kleeblatt selbst gespielt wurden, also von Erika, Pamela, Klaus und Gustaf. Gustaf übernahm zudem die Regie. Schon allein die Darstellung homoerotischer Liebe an sich war ein Tabubruch. Wenn die Theaterfiguren dann auch noch unverkennbar die Wesenszüge der Schauspielerinnen und Schauspieler trugen und Homosexualität bei den Akteuren selbst vermutet werden konnte, machte dies den Skandal perfekt.
Die Premiere am 22. Oktober 1925 in Hamburg endete in einem Tumult. Das Publikum tobte, vereinzelt aus Begeisterung, zuallermeist allerdings aus Abscheu. Danach begaben sich die vier auf eine Tournee durch die Provinz, wo sie nicht minder heftig angefeindet wurden. Der ganze Skandal kam den Geschwistern und ihren beiden Mitstreitern indes nicht ungelegen, sie genossen geradezu die Publicity, die sie mit ihrem »Coup« auslösten. Genderfluid, androgyn, sexuell nicht zuzuordnen - die Attacke gegen die wohlgeordnete Welt der Väter war scharf kalkuliert. Gerade weil es ihr großer Name war, unter dem zumindest Erika, Klaus und Pamela segelten. In diesem Sinne hatte das Kleeblatt es geschafft.
Zu Beginn des Jahres 1926 sind sie in aller Munde und auf den Titelblättern der Illustrierten präsent. So kehrt Erika im Januar nach der kräftezehrenden, geradezu tumultuösen Tournee erst einmal in die elterliche Villa in der Poschingerstraße 1 in München zurück, um sich von den Aufregungen der letzten Wochen zu erholen.
Irmgard - Köln
Im Januar wird für den Rhein der höchste Wasserstand seit dem Jahr 1784 gemeldet. Große Teile der Kölner Altstadt sind überflutet. Gebannt starrt die 20-jährige Irmgard Keun auf die Wassermassen, die sich durch die schmalen Gassen wälzen. Auch sie kann das Stadttheater in der Glockengasse mit der daran angeschlossenen Schauspielschule nicht erreichen, ohne nasse Füße zu bekommen. Seit letztem September ist Irmgard endlich Elevin der Kölner Schauspielschule.
Lange hat sie auf die Erlaubnis ihres Vaters warten müssen. Als sie 1921 nach der 10. Klasse die Schule verließ, schien sie planlos und unambitioniert. Was tun? Sie ließ sich treiben, besuchte ein Pensionat, begann eine Hauswirtschaftslehre und fing schließlich an, in der Firma des Vaters als Stenotypistin zu arbeiten. Von außen betrachtet eine typische Frauenexistenz der Weimarer Republik. Sie lernte Maschine schreiben, Diktate aufnehmen, stenografieren. Und sammelte dabei acht Stunden täglich genügend Erfahrungen, um später die Eintönigkeit dieses Büroalltags bei ihrer ersten Romanheldin, der Stenotypistin Gilgi, authentisch zu beschreiben. 1925 konnte Irmgard sich dann endlich von der Existenz als Bürofräulein verabschieden. Schon seit Längerem hatte sie den Wunsch, auf die Schauspielschule zu gehen, und bekam nun endlich vom Vater die Erlaubnis dafür.
Die junge Schauspielschülerin ist auffallend. Aber es ist nicht so sehr das Talent, das ins Auge sticht, sondern ihre Persönlichkeit. Viel leichter als die Darstellung anderer Charaktere fällt Irmgard die Selbstdarstellung. Ihre Intelligenz, ihr Witz, ihr Charme öffnen ihr alle Herzen und Türen. Es ist eine aufregende Mischung. »Das blühendste Blondinengesicht eint sich mit dem Verstand eines jüdischen Essayisten«, sagt einer ihrer Verehrer später. Diese Mischung erklärt möglicherweise die große Anziehung, die Irmgard auf andere Menschen ausübt. Wenn sie mit ihren Freundinnen von der Schauspielschule abends ausgeht, ist immer sie es, um die sich die jungen Männer scharen. Nicht um Sibylle, die doch viel mehr dem Schönheitsideal der Zeit entspricht.
Und dann ist da noch etwas anderes, das auffällt. Eine große innere Freiheit, eine geradezu unbezähmbare Unabhängigkeit des Geistes. Irmgard hasst jede Art von Zwang, will sich nicht anpassen, nicht in vorgegebenen Bahnen denken. Das war schon von Anfang an so. Von den Eltern ließ sie sich nichts sagen, und in der Schule galt sie als schwieriges, aufsässiges Kind, ohne jegliche Disziplin. Die Leistungen dort waren nicht mehr als mittelmäßig. »Pädagogen und Polizisten waren stets meine natürlichen Feinde«, konstatiert sie später nüchtern.
Bei einem Spaziergang im Kölner Stadtwald ist die Neunjährige zum ersten Mal mit den Ordnungshütern in Konflikt geraten. Als ein Wärter ihren kleinen Bruder mit einem Schlag auf den Kopf vom Klettern auf einen Baum abhielt, sagte sie ihm empört ins Gesicht: »Das werden Sie büßen.«
Dafür bekam sie ebenfalls eine...
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