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Christi Himmelfahrt, auch so ein Feiertag, von dem niemand weiß, was er eigentlich bedeutet, am allerwenigsten die Irren, die ständig für den Erhalt des christlichen Abendlands kämpfen. Ausnehmen von dieser Hypothese würde ich lediglich Neukirchen beim Heilig Blut im Bayerischen Wald. Der Ort ist dermaßen mit Kreuzen, Kreuzgängen, Kapellen und Kirchen zugestellt, dass ich überzeugt bin: Wenn irgendwer weiß, wozu Christi Himmelfahrt gut ist, dann die Neukirchner vom Heiligen Blut. Das Wetter ist perfekt, die sanfte Hügellandschaft leuchtet im frischen Maiengrün vor strahlend blauem Himmel. Und mit dem unverständlichen Idiom dort ist es im Grunde ähnlich wie im heimischen Wedding: Es kann so entspannend sein, wenn man nicht weiß, was die Leute reden. Man kann sich einbilden, sie unterhielten sich über interessante Dinge oder schimpften zumindest nicht in einem fort über die Lügenpresse, die Zwangsgebühren, die da oben oder die Flüchtlinge.
Wobei der Begriff Flüchtlinge hier leicht zu Verwirrungen führen kann. Denn ich bin hier, um am Vertriebenen-Treffen der Sudetendeutschen aus dem Örtchen Neuern im Böhmerwald teilzunehmen. Das ist etwa 25 Kilometer von Neukirchen beim Heiligen Blut entfernt und heißt heute Nyrsko. Mein Schwiegervater wurde dort 1930 geboren. Der Tag der Befreiung bedeutete für seine Familie und ihn nicht nur, dass der Krieg endlich vorbei war, sondern auch, dass bald darauf tschechische Polizisten vor der Tür standen und ihn, gerade 15 Jahre alt, zur Zwangsarbeit nach Mochtín abtransportierten. Ein Jahr später durfte er zurück nach Hause, wo kurz darauf erneut die Polizei vor der Tür stand, diesmal, um ihm und seiner Familie mitzuteilen, dass sie das Land verlassen müssen. 30 Kilo Gepäck pro Person durften sie mitnehmen, im Bahnhof von Klattau, heute Klatovy, warteten die Züge, in die sie hineingestoßen wurden. Weil dort noch Unterbringungskapazitäten für Flüchtlinge frei waren, kam mein Schwiegervater nach Magdeburg, wo er bei einem Bauern zwangseinquartiert wurde. Es klingt irritierend nach Flüchtlingsgeschichten, wie wir sie heute täglich hören.
Als meine Mutter in Münster, die genauso alt ist wie mein Schwiegervater, mir neulich erzählte, dass sie Angst habe wegen der vielen Flüchtlinge, die jetzt nach Deutschland kommen, war ich erst ziemlich genervt, dass sie den ganzen Besorgte-Bürger-Idioten auf den Leim gehe. Obwohl ich es, zugegebenerweise, selbst ein wenig eigenartig fand, als ich durch die Straßen meines alten heimatlichen Vorortes Gremmendorf ging. Dort kamen mir jetzt mehr Frauen mit Kopftuch und Dunkelhäutige entgegen als im Wedding, und das mitten in unserer spießbürgerlichen Einfamilienhaussiedlung. Aber dort stehen auch Kasernen, und in die waren bis vor Kurzem die Briten einquartiert, die völlig zu Recht aufpassten, ob die Deutschen nach dem 8. Mai 1945 nicht wieder im Begriff waren, durchzudrehen, und es ist mir völlig unverständlich, wieso die eigentlich schon alle abgehauen sind, wo man sich doch in der gegenwärtigen Lage viel eher wünschte, sie zögen noch ein paar Bataillone zur Sicherheit nach. Wie dem auch sei, ihre ehemaligen Kasernen jedenfalls finden nun ein überraschendes zweites Leben als Flüchtlingsheime. So sind also plötzlich 4.000 Asylbewerber aus aller Welt in meinem alten Heimatstadtteil Münster-Gremmendorf gelandet, und ein klein wenig stolz darauf bin ich schon, dass die Gremmendorfer lieber Pakete mit Kleidern und Spielzeugen zum Heim bringen als davor zu protestieren und die Bewohner anzupöbeln. Einzig ein türkischer Nachbar verbreitete schlechte Stimmung und sagte, dass er seine 14jährige Tochter nun nicht mehr allein in Gremmendorf auf die Straße lasse, weil die ganzen Syrer da rumlungerten. Und meine Mutter hat sich ein Fahrradschloss gekauft, mit dem sie nun ihr Gartentor sichert. Ist das schon Rassismus? Ich versuchte es mit Gegenargumenten: Ob es denn je konkrete Hinweise auf Probleme mit den Flüchtlingen gegeben habe, fragte ich. Und meine Mutter sagte: Nein, das bislang nicht, aber sie habe einfach Angst, dass die bald bei ihr im Haus einquartiert würden. Ich war überrascht. Wie sie denn auf so eine Idee komme? Das sei doch völlig abwegig. Keineswegs, sagte meine Mutter, so sei es nach dem Krieg auch gewesen. Da wären die ganzen Flüchtlinge überall zwangseinquartiert worden, wo auch immer Platz gewesen sei. Sie selbst habe sich bei Tante Ida in Sendenhorst melden müssen, weil die allein in ihrem Haus wohnte. Sonst wären da noch welche von den Flüchtlingen untergebracht worden, und davor hatte Tante Ida große Angst.
Womöglich wäre dann also mein Schwiegervater aus Neuern im Böhmerwald bei Tante Ida in Sendenhorst in Westfalen einquartiert worden, denke ich, während wir durch Klatovy streifen, das zentrale Städtchen, wo sie als Jugendliche immer zum Einkaufen waren von Neuern aus. Oder bei Ausfiügen mit der Hitlerjugend. Da hätten sie dann vom Schwarzen Turm aus »Heil Hitler« gerufen, und die Tschechen unten auf der Straße hätten ihnen mit der Faust gedroht, erzählt er. Aber damit war es dann bald vorbei, dann hatten die Tschechen sie stattdessen in den Zug gesetzt, und er war aber nicht in Sendenhorst gelandet, vielleicht, weil meine Mutter sich rechtzeitig umgemeldet und Tante Ida so gerettet hatte, sondern in Magdeburg. Wo er Residenzpfiicht hatte, was damals noch nicht so hieß, aber dasselbe bedeutete wie heute. Er hat sich nicht dran gehalten. Ein Cousin lebte im fränkischen Obernzenn, der habe gesagt, er solle einfach kommen, es gebe Arbeit und dort lebten viel mehr Sudetendeutsche. So ist er illegal dorthin übergesiedelt. So wie die meisten seiner sudetischen Landsleute auch. Und so wie die Flüchtlinge noch heute, die sich nicht an die Residenzpfiicht halten, sondern sich illegal zu ihren Verwandten in München oder Berlin oder Duisburg aufmachen. Beschimpft von genau den Leuten, die sich über das Schicksal der deutschen Vertriebenen am lautesten beklagen.
Wir fahren weiter nach Mochtín, mein Schwiegervater möchte seine damaligen Vorarbeiter treffen. In Mochtín erkennt er nichts wieder. Das Nest hat vielleicht 1.000 Einwohner, die Zahl der Häuser ist übersichtlich, aber er erinnert sich nicht mal an den Fluss oder den Sportplatz, nur die Kirche meint er wiederzuerkennen. Schließlich klingeln wir irgendwo, und zu meiner Überraschung spricht er mit einem alten Mann, der öffnet, plötzlich auf Tschechisch. Sie unterhalten sich eine Weile sehr lautstark, beide sind arg schwerhörig, dann kommt er kopfschüttelnd zurück. »Die sind alle schon tot, sagt er. Wie kann das sein?« Wir versuchen ihm schonend mitzuteilen, dass wir das angesichts seines eigenen Alters nicht völlig überraschend finden, aber er will davon nichts wissen: »Ich probiere es nächstes Jahr noch mal, vielleicht kannte der die einfach nur nicht richtig.« Danach brechen wir auf zu seinem Geburtsort Neuern bzw. eben Nyrsko.
Sein Geburtshaus steht am Flüsschen Angel. Schwiegervater schimpft über die Verwahrlosung. Der Tscheche, er kümmere sich einfach nicht richtig um die alten Häuser. »Aber hier sieht doch alles total gepfiegt aus«, werfen wir ein, denn tatsächlich wirkt das Örtchen nachgerade idyllisch. Aber Schwiegervater findet ein Häuschen, wo ein bisschen Putz bröckelt, und deutet anklagend darauf. Wir ahnen, dass Argumentieren hier sinnlos ist. Bei seinem alten Haus aber will er nicht klingeln und nicht gucken. Wie schon in all den Jahren seit der Maueröffnung nicht. Ob er denn seither niemals mit den Leuten dort Kontakt aufgenommen habe? Er wehrt energisch ab. Aber jedes Mal, wenn er hier ist, schleicht er um das Haus und schaut heimlich und macht Fotos. Und geht den alten Schulweg an der Angel entlang, bis hoch zur Kirche.
Genau dort ist Andacht um 14 Uhr, rund 30 hochbetagte Ex-Neurer treffen sich hier. Anschließend gehen alle auf den Friedhof hinter der Kirche. Auf den Grabsteinen stehen ausschließlich deutsche Namen. Die Vertriebenen zeigen auf einzelne Gräber und rufen sich die dazugehörigen Familiengeschichten ins Gedächtnis. Es ist ein bisschen wie beim Quartett. Wer diejenigen kennt, die am längsten überlebt haben, hat gewonnen: »Da liegt die Maria, die Frau vom Günther, der ist ja erst mit 83 an Lungenentzündung gestorben.« »Da liegt der Hans, dessen Tante, die hat erst mit 95 der Schlag getroffen.« Stich. Dann stellen wir uns alle zwischen den Grabsteinen auf und singen das Böhmerwaldlied:
Tief drin im Böhmerwald, da liegt mein Heimatort; / es ist gar lang schon her, dass ich von dort bin fort. / Doch die Erinnerung, die bleibt mir stets gewiss, / dass ich den Böhmerwald gar nie vergiss.
Das ist zwar ziemlich schlecht gereimt, aber das wird nicht der Grund dafür sein, dass einige der alten Herrschaften sich jetzt mit dem Taschentuch über das Gesicht wischen. Wir laufen abschließend noch ein wenig an der Angel entlang, die Kinder sind sehr aufgeregt, weil sie im Wasser ein großes Tier entdecken. Ein Nutria, erkläre ich erfreut. »Ein Nutria?«, fragt Schwiegervater, »was soll das denn sein? Hier gibt's keine Nutrias, hier gibt's nur Forellen. Die haben wir als Kinder mit der Hand gefangen. Nur die Tschechen nicht, die waren zu langsam.« Ich locke den Nutria mit ein paar Keksen aus dem Wasser. Er ist auch ein Vertriebener. Aus Chile wurde er nach dem Krieg nach Böhmen deportiert, in merkwürdiger Umkehrung der Migrationsroute vieler Deutscher dieser Zeit. Mit dem Ostblock sind 1989 auch die Pelztierfarmen zusammengebrochen, einige ganz wörtlich, sodass die Nutrias entkommen und sich erfolgreich verbreiten konnten. Heute streiten sie sich mit dem...
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